Jesuiten 2022-4 (Deutschland-Ausgabe)

SCHWERPUNKT sen mit ihnen in Verbindung und durchspielen sie, um zu begreifen, was sie im Leben für uns bedeuten. Jede Figur, die ich spiele, schenkt mir eine neue Erfahrung des Menschseins. Vielleicht weil die Figur etwas kann, das ich nicht kann – mir aber guttäte, ich mir wünsche. Ich kann es spielend versuchen und testen, ob es in mein eigenes Leben passt. Vielleicht bestärkt mich die Erfahrung eines Verhaltens aber auch in meiner Ablehnung mancher Handlung oder Haltung, weil ich am eigenen Körper erspüre, wie destruktiv die Folgen sind. Und manches, wogegen ich mich in meinem eigenen Leben entschieden habe, macht dennoch Spaß, es ab und an zu tun. Die Bühne bietet mir die Freiheit, es in einem für alle geschützten Rahmen zu leben, und so in Ruhe, Gelassenheit und voll ausgelebt in mein eigenes Leben zurückzukehren. Jeder Figur, die ich spiele, schenke ich die ganze Erfahrung meines Lebens. Denn letztlich ist es immer mein Gefühl, das ich kenne. Meine Freude, meine Wut, meine Liebe. Ich stelle sie zur Verfügung, in einen neuen Kontext, bringe sie zusammen mit der Erfahrung und Situation des Textes. Auf diese Weise ersteht aus dem Wort auf dem Blatt ein Mensch mit Fleisch und Blut; wird persönlich; kann berühren; weil er wiedererkennbar wird für die Zuschauer*innen; weil wir alle die gleichen Erfahrungen in anderem Gewand teilen. Jede abendliche Theatervorstellung ist ein Sprung vom 10-Meter-Brett. Ich mache mich leer, streiche alles, was ich geprobt und gelernt habe, aus meinem Kopf. Ich behalte nur den ersten Schritt auf die Bühne vor Augen. Ich weiß, mein Körper hat sie gespeichert: alle Wege, die ich tun muss, alle Handlungen, alle Wörter. Doch ich will ihnen neu begegnen, genau in ihrem Moment; will mich neu treffen lassen von der Reaktion meiner Mitspieler*innen, will spontan reagieren; mittels unserer verabredeten Klaviatur und genauso, wie es der jetzige Moment verlangt. Jede Vorstellung ist neu. Wir kommen mit den Erfahrungen des heutigen Tages ins Theater, nehmen sie in unseren Körpern mit auf die Bühne, treffen dort auf ein neues Publikum. Wir werfen einen ersten Stein, den wir als Wahrheit im Text entdeckt haben, und beobachten, welche Kreise er im Wasser zieht. Und es beginnt ein Gespräch in alle Richtungen: zwischen uns und dem Text – meinen Mitspielerinnen und mir – allen, die hinter, vor und unter der Bühne die Vorstellung ermöglichen – uns allen und dem Publikum. Äußerlich wird bei jeder Vorstellung das Gleiche getan – doch jeden Abend erspielen, erfahren, erleben die Menschen im Raum ihre eigene Wahrheit gemeinsam neu. Veronika Bachfischer ist seit 2016 Ensemblemitglied der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Außerdem ist sie regelmäßig für Funk und Film tätig und coacht Menschen in bühnenfernen Berufen. Sie spielt liebend gerne ... Theater! Stefan Rohrer: Yellow Arrow, 2011 – Foto: Archiv Galerie Scheffel ; Foto Bachfischer: © Meike Kenn 17

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