Jesuiten 2023-1 (Deutschland-Ausgabe)

Ich weiß, warum ich leide Wir beten oft für sehr arme Menschen. Und das ist erfreulich! Aber vielleicht ist es uns weniger geläufig, dieselben Menschen als Fürsprecher*innen zu betrachten. Möglicherweise sind sie besonders geeignet, für andere zu beten. Nehmen wir zum Beispiel Nathalie, eine Frau, die schon früh ihre Eltern verloren hat. Als Jugendliche wurde sie missbraucht, ihre Ehe war unglücklich und ihre Kinder wurden ihr vom Jugendamt weggenommen. Heute lebt sie in einer winzigen Wohnung, fühlt sich von ihren Nachbar*innen beobachtet und verurteilt. Ihre einzigen Gefährtinnen – abgesehen von ihren Freund*innen aus der Gemeinschaft Fraternité Quart-Monde („Bewegung ATD Vierte Welt“ – eine Menschenrechtsbewegung gegründet von Joseph Wresinski) – sind die acht Katzen, die sie aufgenommen hat. Nathalie ist eine Frau, die, wenn man ihr zuhört, sich oft beschwert und viel seufzt, was man schnell als unerträglich empfinden kann. Kurzum, Nathalie ist alles andere als die ideale arme Frau, die man gerne kennenlernen würde: sanft, bescheiden und diskret. Nachdem Nathalie Maryvonne – eine der Leiterinnen der Fraternité – eineinhalb Stunden lang mit ihrem Gejammer in den Ohren gelegen hatte, sagte sie ihr eines Tages beim Abschied: „Weißt du, Maryvonne, ich weiß, warum ich leide (...). Ich weiß, was Leiden ist. Mein ganzes Leben war ein einziges Leiden. Und ich weiß, warum ich leide! Wenn ich im Himmel bin, werde ich für alle Menschen beten, die so leiden wie ich. Ich werde sie verstehen und ihnen Gutes tun können, ich werde wissen, wie ich für sie beten muss. Das ist der Grund, warum ich leide, um mich auf meine Arbeit im Himmel vorzubereiten.“ Ich weiß, warum ich leide, ich werde sie verstehen, ich werde für sie beten können. – In wenigen Sätzen entfaltet sich eine ganze Vision der Fürbitte, eine Vision, die so stark ist, dass sie bei uns einen starken Abwehrreflex auslösen kann. Nach dieser Vision begnügt sich die Fürbitte nicht mit einer äußerlichen Beziehung zu denen, für die sie bestimmt ist. Vielmehr schließt sie sich den Qualen derjenigen an, für die gebetet wird. Wenn man darüber nachdenkt, helfen Nathalies Worte, den Weg Christi und insbesondere den Skandal des Kreuzes zu verstehen: Er wollte nicht einfach für die Verlassenen und Erniedrigten beten, sondern hatte das Bedürfnis, sich ihnen zu nähern, bis er, der Sohn des Vaters, sich selbst in der Reihe derer wiederfand, die als unwürdig angesehen werden, Teil der menschlichen Familie zu sein, ja, als überflüssig auf der Erde. Danke, Nathalie: Den Weg, der dein Weg ist, wer kann ihn beneiden? Und doch hast du aus diesem Weg eine Gelegenheit gemacht, Christus und seinen gedemütigten Geschwistern, die nur sehr wenige kennen, nahe zu sein. P. Etienne Grieu SJ lebt in Paris. Er ist Rektor der dortigen philosophisch-theologischen Hochschule der Jesuiten, dem Centre Sèvres, an dem er auch Theologie unterrichtet. Ich leide, um mich auf meine Arbeit im Himmel vorzubereiten. 20 SCHWERPUNKT

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