Jesuiten 2023-1 (Deutschland-Ausgabe)

Jesuiten fürbitten 2023-1

Jesuiten 2023-1 Dieses Druckerzeugnis wurde klimaneutral hergestellt, d. h. die mit der Produktion quantifizierten CO2-Emissionen werden durch Klimaschutzzertifikate kompensiert. „Wer ist das?“ Wer sich mit den Skulpturen des Künstlers Thomas Junghans beschäftigt, dem kommt schnell diese Frage in den Sinn. 1956 in Recklinghausen geboren, arbeitet er heute in den Niederlanden. Stein, Holz und vor allem Bronze sind die Materialien, mit denen er Köpfe und ganze Körper schafft. „Abstract Heads“ betitelt er eine der Werkgruppen – „abstrakte Köpfe“. Genau das erzeugt Spannung. Denn wenn wir auf der einen Seite Bilder von abstrakten Personen haben, stellt das andererseits die Frage: Was macht uns aus, welche Wünsche, Nöte, Ängste und Hoffnungen trägt der oder die andere gerade in sich. Fürbitte halten bedeutet, meinen Nächsten in den Blick zu nehmen – und all das, was sie und ihn belastet, vor Gott zu halten. Stefan Weigand Mehr über den Künstler und seine Werke erfahren Sie über www.thomasjunghans.com ID-Nr. 23133196 1 Editorial Schwerpunkt 2 Ist es vernünftig, Gott um etwas zu bitten? 4 Vor Gott füreinander eintreten 7 #laufbuddy – Laufen für die, bei denen es gerade nicht gut läuft 8 Beten mit dem Papst 11 #prayfor – Ist das schon Fürbitte? 12 Beten, nicht jammern! 13 Heilung durch Gebet 14 Hoffnung auf Frieden 16 Gelebte Gebetsgemeinschaft 17 Heilige als Fürsprecher? 18 Über Bande spielen 20 Ich weiß, warum ich leide 21 orat pro ecclesia et societate Geistlicher Impuls 22 Nie krank ist auch nicht gesund Was macht eigentlich …? 24 Matthias Rugel SJ Nachrichten 26 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 30 Jubilare und Verstorbene Medien/Buch 31 Friedhelm Hengsbach SJ: Die Zeit gehört uns Vorgestellt 32 Haus Gries 34 Die besondere Bitte Standorte der Jesuiten in Zentraleuropa Impressum Foto: privat

im Noviziat, der Grundausbildung für Jesuiten, spielt die Separatio eine große Rolle. Es geht um Abstand zu Beziehungen und auch äußeren Geschehnissen, um Ruhe für innere Prozesse zu finden. Ohne Smartphone und WLAN wurden die freien Fürbitten in der gemeinsamen Abendmesse manchmal zu Nachrichten: Wir teilten im Gebet das miteinander, was uns gesellschaftlich und im privaten Leben bewegte. Fürbitten sind ein Fenster zur Welt und können ein Weg sein, um mit Ohnmacht angesichts von Not und Leid umzugehen. Fürbitten sind vielfältig: im Sonntagsgottesdienst, als Stoßgebet vor Prüfungen, frei „von der Leber weg“, online und offline. Fürbitten sind mal kurz, mal lang, manchmal vielleicht auch etwas zu lang, zu moralisch, zu politisch oder mit einer Art doppelter Botschaft gespickt, die den einen freut und die andere zusammenzucken lässt. Bei freien Fürbitten, vor allem wenn mehrere, einander wenig bekannte Leute Gottesdienst feiern, steigt der Druck: Wer sagt etwas? Sagt überhaupt irgendjemand irgendetwas? Fürbitten sind nicht immer einfach. Sie richten den Blick auf das, was schwierig ist, wo Leiden und Krankheit herrschen, erinnern uns, dass der Frieden noch immer auf sich warten lässt. Und sie stellen viele Fragen – nicht nur, wenn sie unerhört bleiben. Einige dieser Fragen und Erfahrungen greifen die Texte dieser Ausgabe auf. Ein großer Dank gilt den vielen Autor*innen, die sich über ihre persönlichen Zugänge und Erfahrungen dem Komplex „Fürbitten“ aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. So vielfältig wie Fürbitten nun einmal sind, lesen sich auch die Beiträge dieses Heftes. Vielleicht regt die Lektüre nicht nur zum Nachdenken an, sondern auch zum Gebet für die Menschen, die es besonders brauchen. Viel Freude beim Lesen! P. Dag Heinrichowski SJ und P. Sebastian Ortner SJ P. Dag Heinrichowski SJ P. Sebastian Ortner SJ Liebe Leserinnen und Leser, EDITORIAL 1

Thomas Junghans: Platonischer Dialog Ist es vernünftig, Gott um etwas zu bitten? Das Thema „Bittgebet“ ist keineswegs frei von philosophischen und theologischen Fragen, und es gibt Menschen, die an Gott glauben und zu ihm beten, aber das Bittgebet aus verschiedenen Gründen ablehnen. Marisa Gasteiger nähert sich dem fürbittenden Gebet aus fundamentaltheologischer Sicht. 2

Trotz vieler Fragen ist es zumindest für Christ*innen grundsätzlich unbestritten, dass sie mit ihren Bitten zu Gott kommen können: Allein schon, weil Jesus es ihnen gesagt hat. Und zwar nicht irgendwo am Rande, sondern inmitten der Frage, wie zu beten sei. Jesus nennt dezidiert – das darf nicht vergessen werden – auch materielle Dinge: Unser tägliches Brot gib uns heute. Wobei er damit natürlich nicht sagt, dass wir Gott einfach um alles bitten sollen, was wir gern an Materiellem hätten. Ich habe Janis Joplins Song „Mercedes Benz“ im Ohr und wie sie singt: „Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz …“ (obwohl ich weiß, dass der Hintergrund des Lieds eigentlich Konsumkritik ist; was nichts daran ändert, dass sogar Mercedes-Benz den Song für eine Werbung benutzt hat). Theolog*innen gehen vor der Beantwortung einer Frage oft einen Schritt zurück und klären zunächst grundsätzliche Fragen – zum Beispiel, was denn ein Gebet überhaupt ist. Karl Rahner stellte einmal, nachdem er abgegrenzt hatte, was ein Gebet nicht ist, die Frage, was denn dann ein Gebet sei. Und die Antwort des großen Theologen? Sie lautet: „Das ist schwer zu sagen. Und am Ende werden wir viel davon geredet und noch immer wenig davon gesagt haben.“ Wenn ich überlege, was ein Gebet ist, helfen mir unter anderem Rahner (der letzten Endes doch sehr viel Kluges zum Gebet gesagt hat, wie ich finde) und die Kirchenlehrerin Teresa von Avila. Es gibt ein – wie ich fast sagen möchte „bodenständiges“ – Zitat von ihr, das mir sehr gefällt: „Meiner Meinung nach ist inneres Beten nichts anderes als Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt.“ Freund*innen, die uns lieben, können wir auch um etwas bitten. Aber: Es wäre nicht richtig, sie nur dann zu treffen und mit ihnen zu sprechen, wenn wir etwas brauchen. Und nicht jede Bitte ist richtig und vernünftig. Es gibt Bitten, die wir aus moralischen Gründen nicht stellen dürfen; es gibt Bitten, die unvernünftig sind. Und – auch das ist wichtig – es gibt Bitten, die Freund*innen uns nicht erfüllen werden. Aber grundsätzlich gilt: Wenn es echte Freund*innen sind, die uns lieben, können wir ihnen unser Herz öffnen und manchmal auch ausschütten. Wenn Teresa von Avila recht hat, gilt das gleiche für die Bitten an Gott: Es gibt Bitten, die wir nicht stellen sollten; es gibt Bitten, die unvernünftig sind; und es gibt Bitten, die Gott nicht erfüllen wird. Es ist also sehr wichtig, hier zu unterscheiden, zu differenzieren. Und zuletzt – auch das darf nicht vergessen werden – dürfen und können Fürbitten uns niemals von unserem eigenen Engagement, von unserem eigenen Handeln entbinden (auch wenn das noch so bequem wäre). Ora et labora. Oder wie der Heilige Ignatius sagen würde: „Vertraue so auf Gott, als ob der Erfolg deiner Arbeit einzig von Gott abhinge und nicht von dir. Wende aber allen Fleiß so an, als ob von Gott nichts und von dir alles abhinge.“ Portrait: © Alexander Strigl Marisa Hanna Gasteiger ist Mitarbeiterin der Theologischen Fakultät in Innsbruck und schreibt dort ihre Dissertation zum Thema „Gebet und Gottesbild“. Für Christ*innen ist es grundsätzlich unbestritten, dass sie mit ihren Bitten zu Gott kommen können. 3 SCHWERPUNKT

Vor Gott füreinander eintreten Kein Gottesdienst kommt ohne sie aus: die Fürbitten. Warum werden sie häufig noch immer vom Priester vorgetragen und nicht von Gemeindemitgliedern? Welche Bedeutung haben Fürbitten eigentlich? P. Sebastian Ortner SJ hat mit der Liturgiewissenschaftlerin Ingrid Fischer gesprochen. Frau DDr. Fischer, warum bereitet oft der Priester die Fürbitten vor, die dann vorgetragen werden, obwohl genau dort der Punkt wäre, wo Laien sich einbringen können und sollen? Schon in den Schriften des Neuen Testaments werden die Gläubigen wiederholt aufgefordert, für andere zu beten (1 Tim 2,1–4; 2 Kor 1,11; Eph 6,18f u. a.). In der gemeindlichen Tagzeitenliturgie (Vesper) sowie in der Eucharistiefeier war darum das Fürbittgebet als „Allgemeines Gebet der Gläubigen“ bald fest verankert. Allerdings geriet der offizielle Gottesdienst der Kirche im Laufe des Mittelalters immer mehr zur alleinigen Aufgabe des Klerus, während die sogenannten „Laien“ nur noch als passive Zuschauer „beiwohnen“ durften. Obwohl die Liturgiereform im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils heute wieder alle Getauften „berechtigt und verpflichtet“ weiß, ihr gemeinsames Priestertum auch im Gebet füreinander zu leben, tragen wir die Alleinzuständigkeit des Priesters in der katholischen DNA als eine Art Erblast in uns. Was heißt es und welche Auswirkungen hat es, dass eine gewisse Macht mit dem Formulieren von Fürbitten verbunden ist? Die Macht, bestimmte Anliegen anderer vor Gott ins Wort zu bringen, setzt voraus, diese überhaupt wahrnehmen zu können sowie die Bereitschaft, nach Kräften Abhilfe zu schaffen. Die Fürbitte ist nicht der Ort, die uns aufgegebene Mitmenschlichkeit an Gott zu delegieren, oder einander Moral zu predigen. Bestimmte Nöte zu nennen und andere nicht, bedeutet selbstverständlich Macht. Legitim ist eine Bitte aber nur dann, wenn sie aus der Ohnmacht erwächst: wenn wir an Grenzen kommen oder die Unheilsverstrickungen undurchdringlich werden. Dann hilft der Geist unserer Schwachheit auf – erst recht, wenn wir nicht wissen, worum wir in rechter Weise bitten sollen. Manchmal ist es praktisch, in Gottesdiensten auf fertig formulierte Fürbitten zurückgreifen zu können, zum Beispiel auf jene des Herder-Verlages. Etwas zugespitzt könnte man fragen: Beten wir dann „in den Anliegen des Herder Verlags“, statt in den Anliegen der Gemeinde vor Ort? Aus den oben genannten Gründen und wohl auch infolge der Unmündigentaufe – „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, vermisse ich also nicht – besteht nur selten das Bewusstsein von der Taufberufung zum Fürbittgebet. Auch liturgieinteressierte Gläubige engagieren sich in der Feier der Eucharistie nicht primär über die Verfassung des Gläubigengebetes. In Büchern gesammelte Fürbitten können inspirierend sein, den Blick schärfen, die Ausdrucksweise schulen. Sie ersetzen aber nicht die Verantwortung der Getauften füreinander und für die Welt. 4 SCHWERPUNKT

Woher kommen die Fürbitten normalerweise? Nach wie vor aus der Sakristei: entweder aus der Feder des Pfarrers, aus Büchern oder aus dem Internet – und sie werden bedenkenlos „recycelt“. Der Begriff „Fürbitten“ verschweigt zudem die Gläubigen als legitime Verfasser*innen. Erfreulich, wenn in der Gemeinde die Bereitschaft zu diesem liturgischen Dienst geweckt und gefördert wird! Manchmal hat man indes den Eindruck, den „Laien“ solle ihre Ermächtigung zum öffentlichen Gebet im Namen der Kirche besser gar nicht bewusst werden. Zumal sie, anders als der Vorsteher, dessen Präsidialgebete im Wortlaut vorliegen, in freien Worten beten dürfen. Apropos „woher“: Empfehlenswert ist die Sprechrichtung aus der Mitte der Gemeinde (Mittelgang, Vierung) in gemeinsamer Ausrichtung auf den göttlichen Adressaten. Damit scheidet der Ambo für den Vortrag des Gläubigengebets aus, doch ist wohl in jedem Feierraum ein dafür passenderer Ort zu finden. Sollte „Laien“ ihre Ermächtigung zum öffentlichen Gebet im Namen der Kirche noch bewusster werden? Unbedingt: Es geht im Gläubigengebet ja um den Bezug der Christ*innen zu ihren Mitmenschen, ihrer Mitwelt. In der Makrostruktur der Messfeier antwortet die oratio universalis fidelium auf die in den Lesungen proklamierte Heilszusage Gottes – wissend, dass dieses dankbar empfangene Gut („Dank sei Gott“, „Lob sei dir, Christus“) viele vermissen, manche ersehnen und entbehren, andere besonders nötig haben. Diese konkrete Not vor Gott zu bringen im priesterlichen Eintreten füreinander und für andere, ist ein Akt solidarischer Nächstenliebe, manchmal auch der Feindesliebe – und ein ernsthafter Schritt in die Nachfolge. Mag DDr. Ingrid Fischer ist Liturgiewissenschaftlerin im Team der THEOLOGISCHEN KURSE (Wien) und Programmleiterin der dortigen AKADEMIE am DOM. Foto: Thomas Junghans: Beginn der Weisheit 5

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#laufbuddy – Laufen für die, bei denen es gerade nicht gut läuft Pilgerfahrten sind oft mit einem Dank oder einer Bitte verbunden. In den Corona-Hochphasen war dies nicht möglich, aber Christian Andrees hat auf eine andere Weise Gebet und Bewegung miteinander verbunden. Ich laufe. Gerne und viel. Meistens bin ich morgens gleich als erstes draußen. Dann genieße ich die Ruhe. Besonders am Wochenende scheint die Stadt noch komplett zu schlafen. Zum Laufen suche ich mir abgelegene Strecken in Parks oder am Stadtrand. Durch das Laufen habe ich erst so richtig wahrgenommen, dass Berlin eine wirklich grüne Stadt ist. Der gleichmäßige Rhythmus meiner Schritte versetzt mich dabei in eine beinahe meditative Stimmung. Am Anfang der Corona-Zeit war das Laufen für mich ein guter Ausgleich zum Homeoffice und zur Betreuung des Homeschoolings meiner Töchter. Eine Kollegin, die sich damals in Quarantäne begeben musste, bat mich, für sie eine Strecke mitzulaufen. Als sich weitere Bekannte mit dem gleichen Anliegen bei mir meldeten, hatte sich daraus das Projekt #laufbuddy entwickelt. Ich bin für Menschen gelaufen, denen es gerade nicht gut ging. Auf Instagram habe ich ihre Anliegen geteilt, verbunden mit wenigen Bitten für sie selbst und ihre Lebenssituation. Da war beispielsweise Sophia, deren Eltern und ihr damals zwei Jahre alter Sohn an Corona erkrankt waren, kurz bevor sie sich selbst ansteckte und es noch keinen Impfstoff für alle gab. Oder Katja, die ihren Mann bei einem Autounfall verloren hatte. Ein Laufbuddy ist eigentlich ein Weggefährte auf der Laufstrecke, der oder die einen beim eigenen Laufen begleitet, motiviert und unterstützt. Wenn ich für andere Laufbuddy bin, verstehe ich mich als ein Begleiter für Menschen, denen die eigenen Wege gerade schwer geworden sind. Ich will ihnen so eine Hilfe sein, um manche Wege überhaupt erst weitergehen zu können. So ein Lauf ist anders. Es geht nicht um Zeiten oder Kilometer. Es geht um die andere Person, die ich in Gedanken mit auf meinen Weg nehme. Ich mache mir den Menschen und seine Lebenssituation bewusst. Beim Laufen habe ich dann oft das Gefühl, eins zu sein: mit dem Menschen, für den ich laufe, mit mir selbst, mit der Natur um mich herum und auch mit Gott. Manchmal kommen Worte, die sich zu Bitten formen. Manchmal bleiben die Stille und Fassungslosigkeit über das fremde Schicksal. Alle stelle ich unterwegs in die Gegenwart Gottes. Ich hoffe und glaube fest daran, dass ein solcher Lauf anders ist und etwas bewirkt – für mich, aber vor allem auch für die Menschen, für die ich laufe. Und manchmal läuft es dann wieder. Foto: Thomas Junghans: Miles Away II – Cubicus – Vom Wohlklang der Nacht Christian Andrees liebt das Abenteuerliche und die Herausforderungen – nicht nur in der Natur. Der Theologe und Pastoralreferent arbeitet als Geistlicher Leiter beim BDKJ Berlin und als kirchlicher Organisationsberater im Erzbistum Berlin. 7 SCHWERPUNKT

Thomas Junghans: Miles Away II Beten mit dem Papst Natürlich beten Menschen nicht erst 179 Jahre gemeinsam. Aber seit 1844 beten Menschen als „Weltweites Gebetsnetzwerk des Papstes“ gemeinsam und in den Anliegen des Heiligen Vaters. Gebet ist ein wirksames Mittel des Apostolats und knüpft ein Netz, das trägt. 8 SCHWERPUNKT

Der Ursprung des Gebetsnetzwerks liegt in Frankreich. Beeindruckt und begeistert von dem, was junge Jesuiten während ihres Studiums aus den Missionsgebieten hörten und was es dort alles zu tun gab, erschien ihnen das Studium als Zeitverschwendung. Nicht studieren, sondern missionieren und das Evangelium denjenigen verkünden, die bisher noch nichts von Jesus Christus gehört hatten! Der Geistliche Begleiter der Studentengruppe, der Jesuit François-Xavier Gautrelet, nahm diese Sehnsucht ernst, aber er weitete die Perspektive: Verkündigung des Evangeliums braucht das Gebet! Und so entstand nach und nach das Gebetsapostolat: Unterschiedliche Menschen finden sich zusammen, um die Anliegen der Kirche und der Welt im fürbittenden Gebet zu unterstützen und zu begleiten. Seit 1891 formuliert der Papst die monatlichen Gebetsanliegen, die er dem Gebetsapostolat, das von den Jesuiten getragen wurde, anvertraut. Papst Franziskus hat 2014 einen Erneuerungsprozess angestoßen und in diesem Zuge das Gebetsapostolat unter dem Namen „Weltweites Gebetsnetzwerk des Papstes“ als päpstliche Stiftung neu gegründet und erneut der Gesellschaft Jesu anvertraut. Mit diesem Neuanfang nimmt der Papst den „neuen Kontinent“ des Internets mit den sozialen Netzwerken in den Blick. Die monatlichen Gebetsanliegen werden nicht mehr über Zeitschriften, Gebetsblättchen und andere Druckerzeugnisse verbreitet, sondern über die neuen Medien. „Ich möchte dazu einladen, sich dem Weltweiten Gebetsnetzwerk des Papstes anzuschließen, das auch über die sozialen Netzwerke die Gebetsmeinungen verbreitet, die ich jeden Monat der ganzen Kirche vorschlage. Auf diese Weise kann man das Apostolat des Gebets voranbringen und die Gemeinschaft wachsen lassen“, so Franziskus beim Angelus-Gebet am 8. Januar 2017. Jeden Monat erscheint „Das Video vom Papst“, in dem Franziskus selbst sein Gebetsanliegen vorstellt und es mit konkreten Gesichtern und Lebenssituationen verbindet. Die offizielle GebetsApp des Papstes „Click To Pray“ bietet auf dem Smartphone täglich drei Impulse zum Verweilen, zum Vertiefen und um in Verbindung zu bleiben: Morgens stehen das Tagesevangelium und das jeweilige Gebetsanliegen im Fokus, mittags meist ein passendes Zitat des Papstes zur Unterbrechung im Alltagstrubel und abends bietet die App die Möglichkeit zu einem kurzen betenden Tagesrückblick. Auch auf Twitter, Facebook und Instagram ist das Gebetsnetzwerk präsent und versucht, Anregungen zum Gebet im digitalen Raum zu geben. Das „Weltweite Gebetsnetzwerk des Papstes“ stellt jeden Monat Themen in den Mittelpunkt, die Herausforderungen für Kirche und Welt darstellen, und lenkt die Aufmerksamkeit auf Menschen und Themen, die manchmal aus dem Blick geraten. Es geht dabei um mehr als nur ein kurzes Gebet: Die Anliegen und Menschen sollen im Alltag mitgetragen werden. Das Gebet setzt sich im Leben fort und drückt sich in verschiedenen Haltungen wie Dankbarkeit, Bereitschaft zum Engagement oder Hören aus. Und es bildet sich eine Gemeinschaft durch das Gebet. Ein wirkliches Gebetsnetzwerk mit konkreten Menschen, Gesichtern und Geschichten, die erfahrbar machen, dass das Gebet mit- und füreinander trägt. Es geht dabei um mehr als nur ein kurzes Gebet: Die Anliegen und Menschen sollen im Alltag mitgetragen werden. P. Dag Heinrichowski SJ lebt und arbeitet in Hamburg. Der Jesuit ist Geistlicher Leiter der KSJ, eines ignatianischen Jugendverbandes an Schulen, und Koordinator des Weltweiten Gebetsnetzwerks des Papstes in Deutschland. 9 SCHWERPUNKT

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#prayfor – Ist das schon Fürbitte? Nach Terroranschlägen oder anderen katastrophenartigen Ereignissen tauchen in den sozialen Netzwerken wie Twitter und Instagram schnell Beiträge auf, die mit #prayfor verschlagwortet sind. Ist der Hashtag „Gebet für” schon ein Gebet? Am 13. November 2015 ist in der 17. Spielminute des Freundschaftsspiels zwischen der deutschen und der französischen Nationalmannschaft im Pariser Stadion ein lauter Knall zu hören. Einige Minuten später ein zweiter. Zeitnah stürmen drei Attentäter ein Konzert in einem Theater in der Pariser Innenstadt. Der Terroranschlag fordert 130 Tote und 683 Verletzte. Die Trauer, Fassungslosigkeit und Solidarität sind groß. In den sozialen Medien bildet sich neben #peaceforparis oder #jesuisparis auch der Hashtag #prayforparis. Allen ist zu eigen, dass Menschen unter diesem Hashtag einen Ort finden, um ihren Emotionen Raum zu geben. Seit Paris sammeln sich unter den Hashtags #prayforXY Anteilnahmen, Solidaritätsbekundungen und Gedanken zu dem jeweiligen katastrophalen Ereignis. Wie zum Beispiel #prayforberlin, #prayforlondon, #prayfornizza oder #prayforbrussels. Fast so alt wie der Hashtag ist auch die Diskussion darüber, wie sinnvoll dieser ist. Religionskritische Vertreter*innen weisen darauf hin, dass Gebet keine relevante Kategorie für Trauer und Anteilnahme sei und eher lähme als bereichere. Und in der Theologie gibt es immer wieder die Frage, ob die Verwendung eines Hashtags überhaupt ein (Fürbitt-)Gebet sein kann. Dahinter steht die Frage, was ein Gebet eigentlich als Gebet legitimiert. Kann jemand, der ansonsten nicht als religiös gilt, trotzdem beten? Die Auffassung, dass ein Gebet eine gläubige Beterin oder einen gläubigen Beter bräuchte, halte ich für irrig. Der Glaube als Antwort des Menschen auf die Selbstmitteilung Gottes ergibt sich ja gerade erst aus der Handlung des Betens. Der Hashtag #prayfor, genauso wie geöffnete Kirchenräume nach einer Katastrophe, bietet einen Raum, um der momentanen Fassungslosigkeit über das Geschehene Raum zu geben. Beten ist das sich Öffnen hin zu einer Transzendenz und als solche Handlung stets für sich stehend. Eine Bewertung scheint mir nicht nützlich. Denn wie kann der Moment, in dem sich Menschen freiwillig unter einem Hashtag versammeln, der ihnen Raum für ihre Emotionen gibt, für das Leid, die Antriebslosigkeit etc., kein Fürbittgebet, also das Gebet der Gemeinde, sein? Eine Kirche, die vom Menschen her sich Gottesoffenbarung erschließt, kann nicht anders, als hörend auf das zu sein, was in der Welt passiert. Und egal aus welchen Gründen der Hashtag genutzt wird, so finden sich dort doch Menschen, die ihren Sorgen und Ängsten, ihrer Trauer und ihrem Leid Raum geben. Und eben diesen Raum gilt es zu öffnen und auszuhalten, in ihn hineinzuhören. Thomas Junghans: Little Abstract Head II Tobias Sauer ist katholischer Theologe und strategischer Kommunikationsberater. Seit 2017 initiiert, berät und begleitet er mit ruach.jetzt Projekte rund um die Themen Glaubenskommunikation, Verkündigung, Marketing, Digitalisierung und Theologie. 11 SCHWERPUNKT

Beten, nicht jammern! Hilft Beten? Die Frage lockt uns schon auf den Holzweg, als ginge es im Fürbittgebet um ein heilsames Wässerchen gegen die Nöte der Welt. P. Tobias Zimmermann SJ blickt in das Neue Testament. Vertrauen Sie darauf, dass Beten hilft? Tatsächlich gibt es empirische Studien, die belegen, dass Menschen, für die gebetet wird, statistisch gesehen bessere Heilungschancen haben, auch wenn sie gar nicht wissen, dass für sie gebetet wird. Mag ja sein, denke ich mir. Aber was genau beweist das? Geht nicht schon die Frage nach der „Wirksamkeit des Gebets“ am Kern vorbei? Das Fürbittgebet bringt selbst Theolog*innen und eingefleischte Kirchgänger*innen in Verlegenheit: Weiß Gott etwa nicht, was uns bedrängt? Ist Beten nur Ausdruck der Hilflosigkeit oder, schlimmer noch, des Unwillens zu handeln? Jedenfalls forderte der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow angesichts der anhaltenden russischen Angriffe trotz einer europaweiten Welle von Friedensgebeten: „Betet nicht für uns, handelt!“ Andererseits lehrt Jesus die Jünger, sich nicht zu schade zu sein, Gott lästig zu fallen (Lk 11,5–13). Ja, er vergleicht Gott sogar mit einem korrupten Richter, der einer armen Witwe nur deshalb Recht gibt, weil er fürchtet, sie würde ihn sonst sogar schlagen (Lk 18,1). Am Ende dieser Passage aber wendet sich unsere Frage so unscheinbar und knapp, dass wir es fast überhören: „Wird der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde noch Glauben vorfinden?“ (Lk 18,8). Mit anderen Worten: Kann Gott sich auf uns verlassen? In unserer Kapelle im Heinrich Pesch Haus in Ludwigshafen hängt der Torso eines Gekreuzigten. Die Arme fehlen. Aber der Rumpf zeigt, dass ursprünglich einmal Jesus die Menschen vor ihm und die Welt vom Kreuz herunter umarmte. Eine innige Geste der Liebe und des Vertrauens im Moment größter Hilflosigkeit einer enttäuschten Liebe. Ihm und meinen Mitbetenden darf auch ich mich in meiner Trauer, Enttäuschung, Sorge und Hilflosigkeit zeigen. So wird das Gebet zu einem sehr erwachsenen und intimen Moment: Gott und Mensch öffnen sich füreinander in all ihrer Verletzlichkeit. Beide müssen zusehen, wie die Hoffnung, dass Liebe die Welt zu verändern vermag, an Habgier und Gewalt und am Tod zu zerschellen droht. Und gerade hier, wo es nun nicht mehr darum geht, ob Gott meine Wünsche oder ich Gottes Willen erfülle, vermag sich dann manchmal die heilende Macht einer erwachsenen Liebe zu entfalten. Und mir kommt es so vor, dass sie mich wachsen lässt. Sie führt mich auch wieder zur Entschiedenheit zu handeln, wo ich handeln kann. Wichtiger aber noch: Sie führt mich zur Entschiedenheit, nicht zulassen zu wollen, dass Resignation das gegenseitige Vertrauen von Gott und Mensch auf die heilende und verändernde Kraft der Liebe zerstört. P. Tobias Zimmermann SJ ist Theologe und Kunstpädagoge. Er leitet das Heinrich Pesch Haus und das Zentrum für Ignatianische Pädagogik (ZIP) in Ludwigshafen. Außerdem ist er Chefredakteur der Publikation JESUITEN. 12 SCHWERPUNKT

Heilung durch Gebet? Ein Freund, katholischer Priester, berichtete P. Klaus Mertes SJ von der Heilung seiner Lähmung während eines Gebetsgottesdienstes im „Divine Retreat Center“ der Vincentiner in Cochin/Indien. Nach Deutschland zurückgekehrt hatte er Probleme, von dieser Erfahrung zu berichten. Er fürchtete, niemand würde ihm glauben. Es kam, wie es kommen musste: Je mehr er davon erzählte, umso mehr hielten ihn die Leute für durchgeknallt. Ich glaube an die Möglichkeit von Gebetsheilung. Das Evangelium ist voll davon. Auch die Berichte aus den paulinischen Gemeinden sprechen eine deutliche Sprache. Warum sollte also mein Freund nicht auch eine solche Erfahrung gemacht haben? Wir sprachen darüber. Er lud mich schließlich ein, mit ihm nach Cochin zu fahren, denn er wünschte sich von mir eine Rückmeldung, was ich von diesem „Divine Retreat Center“ halte. So flog ich im darauffolgenden Jahr nach Cochin zu einem einwöchigen charismatisch-katholischen Exerzitienkurs. Ich war beeindruckt: Tausende von frommen Menschen sangen, beteten und lauschten gemeinsam geistlichen Vorträgen und Glaubenszeugnissen, allesamt auf einem guten theologischen Reflexionsniveau. Dann kam der Heilungsgottesdienst. Ich litt damals unter Arthritis-Schmerzen. Während des langen und lebhaften Gottesdienstes gingen sie leicht zurück. Schließlich hörte ich die Stimme des Predigers auf der Bühne: „Some of you have been healed from arthritis-pain. Please come forward and praise the Lord.“ Ich blieb sitzen. Warum? Die Stimme des Predigers klang mir zu sehr nach schnarrendem Befehlston. Auf so etwas reagiere ich allergisch. In den Vorträgen und Gebeten war mir das Motiv der Heilung zu sehr verknüpft worden mit Themen der Sexualmoral. Ich verstehe zwar den Zusammenhang von Heilung und Umkehr durchaus. Doch die thematische Engführung störte mich. Und schließlich dachte ich mir: Wenn Gott mich jetzt heilen will, dann macht er das nicht abhängig davon, ob ich nach vorne gehe oder nicht. Ich ging also nicht. Nach dem Gottesdienst kamen die Schmerzen zurück. Was folgt daraus? Wie gesagt: Ich glaube an die Möglichkeit von Gebetsheilung. Ich glaube, dass sie ein Geschenk ist, nicht die Folge einer äußeren Leistung, die zu erbringen ist. Man kann aus der Tatsache, dass man keine Gebetsheilung erfährt, allerdings nicht schließen, dass man vor Gott etwas falsch gemacht oder unterlassen hat. Wer so redet, macht sich für Manipulation anfällig. Und: Die Anerkennung einer Gebetsheilung von außen ergibt nur Sinn, wenn sie von innen, also von der geheilten Person, ebenfalls so gedeutet wird. Die bloße Tatsache der Heilung ist jedenfalls noch nicht alles. Auch der Antichrist heilt, wie die Apokalypse zu berichten weiß. Die Anerkennung der Heilung ist deswegen immer auch eine Frage der Unterscheidung der Geister. Sie beginnt bei der geheilten oder nicht geheilten Person selbst. Mein Freund, der mich nach Cochin begleitet hatte, konnte meiner Sichtweise gut zustimmen. P. Klaus Mertes SJ ist Superior der Jesuitenkommunität in Berlin-Charlottenburg und Redaktionsmitglied der Kulturzeitschrift „Stimmen der Zeit“. 13 SCHWERPUNKT

Hoffnung auf Frieden Seit 2006 beten sie täglich um die gleiche Zeit für Frieden und setzen damit ein Zeichen der Hoffnung: die Schwestern im Berliner Karmel bei der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum. Sr. Mirjam Fuchs OCD berichtet von ihren Erfahrungen. Grell blau mit einer Currywurst auf dem Einband, ein Reiseführer für Berlin in der 13. Auflage. In der Beschreibung des Verlags heißt es: „Kein Mensch wird jemals fertig mit dieser Stadt. Aber es lohnt sich, sie immer wieder neu zu entdecken! Dieses Buch zeigt den Weg zu 111 unbekannten, skurrilen und spannenden Orten.“ Dazu gehören vier Kirchen, eine davon ist unsere Gedenkkirche Maria Regina Martyrum. Neben aussagekräftigen Fotos steht ein guter Artikel über unsere Kirche, den wir durch Zufall entdeckt haben. Der letzte Satz lautet: „Es tut gut zu wissen, dass mitten in dem unfassbar großen Berlin jeden Tag um die gleiche Zeit 14

für Frieden gebetet wird.“ Krieg, Gewalt, Terror in der Welt. Hilflosigkeit, Ohnmacht und Angst breiten sich aus. In vielen Menschen wächst dabei auch der Wunsch, in Gemeinschaft ein Zeichen der Hoffnung und des Friedens zu setzen, für den Frieden zu beten. Das war der Grund, warum wir Schwestern im Berliner Karmel bei der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum im Juli 2006, als der Krieg im Libanon begann, unser Mittagsgebet mit dem Lied von Martin Luther abschlossen: „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.“ Tag für Tag beteten wir, sangen wir dieses Lied – und tun es bis heute. Uns schlossen und schließen sich Menschen an, die in der Hilflosigkeit angesichts von Terror und Gewalt doch etwas tun wollen: beten, gemeinsam, da wo gebetet wird. In Gemeinschaft ist es leichter, einer Hoffnung Ausdruck zu verleihen, einer Hoffnung, die wir nicht aufgeben möchten, nicht aufgeben dürfen: die Hoffnung auf Frieden, den umfassenden Schalom. Unsere Sicherheiten sind zerbrechlich, Ordnungen gefährdet. Wo lassen wir unsere Hilflosigkeit und Angst? Wütend, ja fassungslos, erleben wir, wie Machthaber die Freiheit und das Leben vieler Menschen gefährden. Seit über einem Jahr wütet auch am Rande Europas ein furchtbarer Krieg. Wie geht es weiter? Was können wir tun, das helfen oder etwas bewegen könnte? Schon in den Psalmen flehten, ja schrien Menschen zu Gott. Sieht Gott unsere Not? Sieht Gott unsere Angst? Gott, es reicht: Ukraine, Sudan, Mali, Syrien, Afghanistan, Kolumbien, Myanmar, Somalia ... endlos könnten wir weitere Terror- und Kriegsschauplätze aufzählen. „Die Welt steht in Flammen!“ (Teresa v. Avila) Die ganze Not und Hilflosigkeit schreie ich hinaus. Ich hoffe, dass er hört. Gott, der sagt, dass er da ist und sieht – uns sieht, das Elend sieht. „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. … der dich behütet, schläft nicht.“ (Psalm 121) Schweigt er – unser Gott? Schläft er – unser Gott? Eine junge Frau aus der Ukraine, die seit einiger Zeit in Berlin lebt, ihre ganze Familie in der Ukraine zurücklassen musste, betet oft mit uns in der Krypta unserer Gedenkkirche. Sie ist voller Trauer, sagt aber, sie ist im Frieden und hofft, dass Gott helfen wird. Ich möchte mit ihr hoffen und weiter beten um Frieden. Thomas Junghans: Prima Luce – Fresh Morning Sr. Mirjam Fuchs OCD lebt im Karmel Regina Martyrum in Berlin bei der Gedenkkirche Regina Martyrum in der Nähe von Plötzensee. Tag für Tag beteten wir, sangen wir dieses Lied – und tun es bis heute. Uns schlossen und schließen sich Menschen an, die in der Hilflosigkeit angesichts von Terror und Gewalt doch etwas tun wollen: beten, gemeinsam, da wo gebetet wird. 15 SCHWERPUNKT

Gelebte Gebetsgemeinschaft „Gäste und Mönche sollen miteinander beten“ (vgl. RB 53,4), so mahnt der heilige Benedikt seine Mönche. Im Kloster feiern wir Brüder jeden Abend in Verbindung mit der Vesper Eucharistie – gemeinsam mit vielen Gästen aus unserem Gäste-, Bildungs- und Jugendhaus. Die Fürbitten nehmen dabei eine ganz besondere Stelle ein. Denn nie werden vorformulierte Bitten vorgetragen, sondern direkt aus dem Volk Gottes heraus werden Dank und Bitten – so, wie sie den Menschen im Herzen liegen – vor Gott gebracht. Ein wertvoller Moment. So verbinden wir Mönche uns mit den Gästen und unserem Schöpfer noch einmal intensiv und nehmen Anteil an persönlichen Schicksalen, am Weltgeschehen oder an freudigen Ereignissen in Kirche, Gesellschaft und Nachbarschaft. „Wir danken dir für 50 gemeinsame Ehejahre und bitten dich für unsere Kinder und Enkelkinder!“ – „Steh den Menschen in der Ukraine bei und schenke deinen Frieden!“ – „Bitte sei unserem Sohn bei seiner bevorstehenden Operation nahe und segne das Werk der Ärzte und des Pflegepersonals.“ – „Bitte begleite unsere Tochter bei der bevorstehenden Prüfung und schenke ihr Geduld und Ruhe.“ Diese freien Fürbitten sind nah am Leben der Mitfeiernden, sie sind persönlich, konkret und aktuell. Das ist ihre Stärke. Auch ist es nicht nur Gebet für andere, sondern auch Gebet anstelle anderer. Das stellvertretende Gebet. „Meine Enkelkinder haben das Beten verlernt. Im Kloster Nütschau habe ich die Möglichkeit, an ihrer Stelle öffentlich für sie zu beten, weil sie es nicht können – aus welchen Gründen auch immer!“, so eine ältere Dame, die oft bei uns zu Besuch ist. Der paulinische Gedanke „Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen ...“ (Röm 8,26) kommt hier zum Tragen. Im Kloster Nütschau wird seit dem Gründungsauftrag von vor über 70 Jahren großer Wert auf Gebetsgemeinschaft gelegt. In der norddeutschen Diaspora waren von Anfang an die Mönche beim Stundengebet auf die Einheimischen angewiesen. Beim Bau der Klosterkirche Mitte der 1970er Jahre wurde architektonisch die Gebetsgemeinschaft begründet – alle versammeln sich im Rondell um den Altar: Mönche und Gäste. Kein Chorraum oder Chorgestühl stehen dazwischen. Klar, dass die Gemeinschaft in Nütschau zu den ersten Benediktinerklöstern gehört, die die deutsche Sprache in der Liturgie und im Psalmengesang eingeführt haben. So sind die freien Fürbitten nicht zuletzt eine Konsequenz gelebter Gebetsgemeinschaft. Sie sind Ausdruck der intensiven Verbindung zwischen Gott und den Menschen und uns Menschen untereinander. Dafür sind wir sehr dankbar und nehmen gerne die Anliegen der Menschen, die uns anvertraut sind, mit ins Gebet – nicht nur bei den Fürbitten in der täglichen Eucharistiefeier. Br. Lukas Boving OSB ist seit 2010 Benediktiner im Kloster Nütschau (Schleswig-­ Holstein) und Pastor in der Pfarrei Heilig Geist, Hamburg. Der gebürtige Rheinländer wurde 2020 zum Priester geweiht. 16 SCHWERPUNKT

Heilige als Fürsprecher? Wir sind nicht allein. Unser Gebet und unsere Gottesbeziehung sind geprägt von anderen Menschen. Die Heiligen beten mit uns. „Warum soll ich mich mit einer Bitte an meinen Vater wenden, wenn meine Mutter mir diese schneller erfüllt?“ Mit dieser Aussage versuchte ein Studierender im Gespräch mit evangelischen Theolog*innen das Gebet zu Maria als Fürsprecherin zu begründen. Dieser Aussage wurde nicht nur von den evangelischen, sondern auch von den katholischen Anwesenden widersprochen. Problematisch ist hier das Bild eines väterlichmännlichen Gottes, dessen Strenge durch eine mütterliche Nebenfigur umgangen werden muss. Schwierig ist auch die Vorstellung, dass Menschen – wie an einem fürstlichen Hof – keinen unmittelbaren Zugang zu Gott haben und deshalb eines Eintretens derer bedürfen, die Gott näher stehen. Für den christlichen Glauben ist es so, dass das menschliche Beten Gott unmittelbar erreicht, weil Gott selbst dem Menschen unmittelbar nahe gekommen ist in seinem Sohn: „Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus“ (1 Tim 2,5–6). Die Unmittelbarkeit geht von Gott aus, und sie drückt sich aus in der Menschwerdung Gottes. Sie ist somit nicht un-menschlich, nicht un-sozial oder weltlos. Sie hat eine menschliche Gestalt: in den Erzeltern, den Propheten und Prophetinnen des Alten Testaments und in Jesus. Immer ist die Welt, immer sind die anderen Menschen Ausgangspunkt des persönlichen Gottesverhältnisses. Es gibt keine Unmittelbarkeit in der Gottesliebe, die nicht die Nächsten mit einschließt, sagt das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,29). Wir stehen somit nie allein vor Gott, wie wir auch nicht allein beten zu Gott. Unsere Gottesbeziehung ist geprägt und in diesem Sinne auch vermittelt durch andere Menschen. Aus diesem Grunde können wir die Heiligen um ihre Fürsprache bitten. Aber auch mit den Menschen, die für unseren Glauben wichtig waren und die verstorben sind, stehen wir vor Gott. Auch sie, die nie „offiziell“ heiliggesprochen wurden, können wir um Fürsprache bitten. Karl Rahner berichtet, dass er den großen evangelischen Theologen Karl Barth gefragt habe, ob man einen anderen Menschen bitten könne, für ihn zu beten. Barths Antwort: Man solle den anderen bitten, mit ihm zu beten. Kann man die Fürbitte der Heiligen so verstehen? Die Heiligen beten mit uns, und dieses „mit uns“ ist schon ihr „für uns“. Die Anrufung der Heiligen verursacht nicht ihre Kommunikation mit Gott. In ihrer Anrufung treten wir ein in die Gemeinschaft der Heiligen, die miteinander und in Verbundenheit füreinander vor Gott stehen und auf seine Gnade hoffen. P. Klaus Vechtel SJ studierte Theologie in Bonn und Rom, wo er 1989 zum Priester geweiht wurde. Seit 2007 lehrt er an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main, seit 2014 als Professor für Dogmatik. Wir stehen somit nie allein vor Gott, wie wir auch nicht allein beten zu Gott. 17 SCHWERPUNKT

Thomas Junghans: Little abstract head Über Bande spielen Praktizierende Christin*innen und Menschen, die sich nicht als gläubig bezeichnen, aber immer wieder ein Stoßgebet zum Himmel schicken, sie alle beten um und bitten für das Wohl anderer – warum eigentlich? Ein Blick aus der Psychologie. Die Psychologie ist eine Wissenschaft, die sich auf Beobachtungen und Studien menschlichen Verhaltens und Erlebens gründet. Und so stellen sich viele Fragen, wenn man das Fürbittgebet durch eine psychologische Brille betrachtet: Was geschieht mit den Personen, die Fürbitte halten und was mit denjenigen, für die gebetet wird? Verändert sich etwas im Beziehungsdreieck zwischen dem betenden Menschen, dem Objekt der Fürbitte und Gott als dem, an den sich der Betende mit seiner Bitte richtet? Lässt sich eine Wirkung feststellen, bringt das Gebet etwas? Mit einem auf objektive Daten fokussierten Blick ergibt sich zunächst keine hoffnungsvolle Antwort: Menschen, für die Fürbitte gehalten wird, etwa in Situationen von Not oder Krankheit, erfahren dadurch (in den allermeisten Fällen) keine Wunderheilung, nicht einmal eine empirisch gesicherte Verbesserung ihrer Situation. Das Gebet für die schwerkranke Nachbarin oder den Freund vor einer Prüfung verfehlt seinen scheinbaren Zweck, egal, ob sie vom Gebet wissen oder nicht. Doch selbst wenn die Frage nach der messbaren Wirkung die einzige wäre, die man zur Praxis des Fürbittgebets stellte, wäre es zu kurz gedacht, Fürbitten als überholte Tradition der Kirchen zu verwerfen. Wie so oft wählt der transzendente Gott nicht den direkten, aus menschlicher Sicht klar und unmittelbar verständlichen Weg, sondern spielt über Bande – in diesem Fall wird der betende Mensch selbst zu dieser Bande. Das stellvertretende Gebet zeigt an mehreren Stellen seine heilbringende Kraft für den Menschen, der es betet: Es reduziert unangenehme Emotionen wie Ärger oder Wut, auch in Situationen der Frustration oder Provokation. Menschen, die häufig Fürbitte halten, zeigen seltener aggressives Verhalten und sind eher davor gefeit, in den alltäglichen Situationen der Emotions- und damit der Selbstkontrolle zu ermüden oder sogar auszubrennen. In engen Beziehungen wie Partnerschaften und Freundschaften steigt die Bereitschaft zu vergeben und zu verzeihen. In einem größeren Rahmen betrachtet sind all diese Dinge von essenzieller Bedeutung für das menschliche Zusammenleben: Menschen, die ihren Mitmenschen auch bei Unstimmigkeiten wohlwollend begegnen können, die leichter verzeihen können und davon weniger erschöpft sind, können im Sinne des Evangeliums gemeinschaftsstiftend handeln. Das stellvertretende Gebet für den anderen, bedürftigen Menschen leistet einen wesentlichen Beitrag zum friedlichen Miteinander; es hilft uns dabei, das Zusammenleben im Geiste Jesu zu realisieren. Und dort, wo Menschen in Not auf eine lebensbejahende, unterstützende Umgebung stoßen, erfahren sie unter Umständen den Trost und das Heil, um das andere Gott für sie gebeten haben. Hier kann das Fürbittgebet also eben doch seinen ursprünglichen Zweck erfüllen, göttlichgenial über Bande gespielt, und strahlt weit über den einzelnen betenden Menschen hinaus. Kathrin Oel ist Psychologin, systemische Beraterin und Psychotherapeutin (i.A.). Hauptberuflich arbeitet sie mit suchtkranken Frauen, außerdem als freie Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Pastoralpsychologie der ThF Paderborn. 18 SCHWERPUNKT

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Ich weiß, warum ich leide Wir beten oft für sehr arme Menschen. Und das ist erfreulich! Aber vielleicht ist es uns weniger geläufig, dieselben Menschen als Fürsprecher*innen zu betrachten. Möglicherweise sind sie besonders geeignet, für andere zu beten. Nehmen wir zum Beispiel Nathalie, eine Frau, die schon früh ihre Eltern verloren hat. Als Jugendliche wurde sie missbraucht, ihre Ehe war unglücklich und ihre Kinder wurden ihr vom Jugendamt weggenommen. Heute lebt sie in einer winzigen Wohnung, fühlt sich von ihren Nachbar*innen beobachtet und verurteilt. Ihre einzigen Gefährtinnen – abgesehen von ihren Freund*innen aus der Gemeinschaft Fraternité Quart-Monde („Bewegung ATD Vierte Welt“ – eine Menschenrechtsbewegung gegründet von Joseph Wresinski) – sind die acht Katzen, die sie aufgenommen hat. Nathalie ist eine Frau, die, wenn man ihr zuhört, sich oft beschwert und viel seufzt, was man schnell als unerträglich empfinden kann. Kurzum, Nathalie ist alles andere als die ideale arme Frau, die man gerne kennenlernen würde: sanft, bescheiden und diskret. Nachdem Nathalie Maryvonne – eine der Leiterinnen der Fraternité – eineinhalb Stunden lang mit ihrem Gejammer in den Ohren gelegen hatte, sagte sie ihr eines Tages beim Abschied: „Weißt du, Maryvonne, ich weiß, warum ich leide (...). Ich weiß, was Leiden ist. Mein ganzes Leben war ein einziges Leiden. Und ich weiß, warum ich leide! Wenn ich im Himmel bin, werde ich für alle Menschen beten, die so leiden wie ich. Ich werde sie verstehen und ihnen Gutes tun können, ich werde wissen, wie ich für sie beten muss. Das ist der Grund, warum ich leide, um mich auf meine Arbeit im Himmel vorzubereiten.“ Ich weiß, warum ich leide, ich werde sie verstehen, ich werde für sie beten können. – In wenigen Sätzen entfaltet sich eine ganze Vision der Fürbitte, eine Vision, die so stark ist, dass sie bei uns einen starken Abwehrreflex auslösen kann. Nach dieser Vision begnügt sich die Fürbitte nicht mit einer äußerlichen Beziehung zu denen, für die sie bestimmt ist. Vielmehr schließt sie sich den Qualen derjenigen an, für die gebetet wird. Wenn man darüber nachdenkt, helfen Nathalies Worte, den Weg Christi und insbesondere den Skandal des Kreuzes zu verstehen: Er wollte nicht einfach für die Verlassenen und Erniedrigten beten, sondern hatte das Bedürfnis, sich ihnen zu nähern, bis er, der Sohn des Vaters, sich selbst in der Reihe derer wiederfand, die als unwürdig angesehen werden, Teil der menschlichen Familie zu sein, ja, als überflüssig auf der Erde. Danke, Nathalie: Den Weg, der dein Weg ist, wer kann ihn beneiden? Und doch hast du aus diesem Weg eine Gelegenheit gemacht, Christus und seinen gedemütigten Geschwistern, die nur sehr wenige kennen, nahe zu sein. P. Etienne Grieu SJ lebt in Paris. Er ist Rektor der dortigen philosophisch-theologischen Hochschule der Jesuiten, dem Centre Sèvres, an dem er auch Theologie unterrichtet. Ich leide, um mich auf meine Arbeit im Himmel vorzubereiten. 20 SCHWERPUNKT

orat pro ecclesia et societate „Er betet für die Kirche und den Jesuitenorden.“ – Das ist der letzte Auftrag, den der Provinzial einem Mitbruder gibt, wenn dieser in ein Alten- oder Pflegeheim umzieht; und so steht es auch im „Katalog“, in dem alle Jesuiten mit ihren Tätigkeiten aufgelistet sind. Zwei- oder dreimal im Jahr schreibt der Provinzial jedem, wofür er beten möge: zum Beispiel für Frieden in Kriegsgebieten, für Menschen in schwierigen Situationen, dafür, dass es Ordensberufungen ins Noviziat gibt. So unterstützen die alten Jesuiten mit ihrem Beten diejenigen, die aktiv in diesen Feldern tätig sind. Wandelt sich das Gebet im vorgerückten Alter? „Als Kind habe ich auswendig gelernte Gebete gesprochen“, erzählt mir einer. „Als Jugendlicher habe ich mich mit all meinen Gefühlen an Gott gewandt, egal ob ich schrecklich verliebt oder schrecklich zornig war. Als junger Erwachsener habe ich die Meditation des Lebens Jesu schätzen gelernt. Jetzt im Alter wird mein Beten immer einfacher und ich muss nicht mehr viele Worte machen.“ Ein anderer berichtet: „Ich habe erst jetzt so richtig entdeckt, dass es in den Exerzitien nach der zweiten ja noch eine dritte und vierte Woche gibt.“ Damit hat er im „Jesuiten-­ Wording“ darauf hingewiesen, wie sich Ignatius den Prozess der Exerzitien idealtypisch vorstellt: In der Nachfolge Jesu will ich nach der Versöhnung mit meiner Biografie meine Gottesbeziehung vertiefen (erste ExerzitienPhase) und dann Mitarbeiter Christi werden und mit ihm und an seiner Seite für die Menschen da sein (zweite Phase). Dabei bleiben mir – wie Jesus – Ratlosigkeit und Scheitern nicht erspart. Ich hoffe und bitte darum, diese Lebenszumutungen annehmen und im Licht der Auferstehung leben zu können (dritte und vierte Phase). Was dies für ihn bedeutet, drückte ein weiser alter Pater so aus: „Jetzt, wo ich vor der Tür zur Ewigkeit stehe, bitte ich Gott, dass er selbst sich mir mitteilt und dass ich vorbereitet bin, einmal ganz bei ihm zu sein.“ Die Erfahrung zeigt aber, dass nicht alle alten Jesuiten zu einer solchen geistlichen Haltung gelangen. Für sie wie für viele spirituell suchende und übende Menschen bleibt oft nicht viel mehr, als die persönliche Lebenssituation im vorgerückten Alter auszuhalten und zu versuchen, sie mit Gott in Berührung zu bringen. Und auf dem Weg der Suche nach Gott heißt das steilste Stück Einsamkeit. P. Hermann Kügler SJ ist ausgebildeter Pastoralpsychologe und Lehrbeauftragter für Themenzentrierte Interaktion (TZI) im Ruth Cohn Institut. Seit Sommer 2020 ist er Seniorendelegat der Zentraleuropäischen Provinz. „Den nächsten Umzug in Richtung Himmel organisiert dann der liebe Gott“, sagte mir scherzhaft ein alter Mitbruder. 21 SCHWERPUNKT

Geistlicher Impuls Nie krank ist auch nicht gesund Hugo Enomiya Lassalle erzählte mir einmal, ein Mitbruder hätte bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gesagt: „Hauptsache gesund.“ Lassalle pflegte zu antworten: „Dafür bin ich nicht in den Orden eingetreten.“ Hauptsache gesund. Diese zwei Worte gehen uns wie selbstverständlich über die Lippen. Kein Grund, sie zu hinterfragen. Gesundheit ist uns teuer, buchstäblich. Die entsprechenden Kosten steigen, und die Diskussion, wie sie einzudämmen sind, nimmt kein Ende. Gesundheit ist so etwas wie ein goldenes Kalb, um das wir tanzen und dem wir gesellschaftlich und privat viel zu opfern bereit sind. Hauptsache gesund! Stimmt das? Ist dieser Spruch, genauer besehen, nicht lebensfeindlich und ist die Haltung, die dahintersteckt, nicht ungesund? Ich wage jedenfalls die Behauptung: Nie krank ist auch nicht gesund. „Es tut weh, es lebt!“ so rief kürzlich mein Zahnarzt schon fast begeistert, nachdem er meinen Zahn abgeklopft und ich das Gesicht verzogen hatte. Schmerzen und Krankheit gehören zum Leben. Mehr noch: Sie sind Zeichen des Lebens. Angefangen von den Kinderkrankheiten über schmerzvolle Wachstumskrisen bis zu den Altersbeschwerden. Nicht Gesundheit und Schmerzfreiheit sind das höchste Gut, sondern ein sinnvolles, erfülltes Leben. Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, sagt es so: Um zu seinem Lebensziel zu gelangen und also glücklich zu werden, sei es notwendig, sich allen Dingen gegenüber gleichmütig zu verhalten und Gesundheit nicht mehr zu verlangen als Krankheit, langes Leben nicht mehr als kurzes … Dabei wusste Ignatius, dass dies ohne Übung nicht geht. Und darum schrieb er die „Geistlichen Übungen“, bekannt als Exerzitien. In der Schule des Ignatius (und für mich auch in der Übung des Zen) lerne ich mehr und mehr, dass es zum Glück nicht die Erfüllung aller Wünsche braucht, dass ich glücklich sein kann auch dann, wenn ich Schweres erlebe, wenn ich zum Beispiel liebe Menschen verliere oder eben krank bin. Vor mir liegt der Brief einer Frau, die eine schwere seelische Krankheit durchgemacht hatte. Sie schreibt: „Durch die Krankheit bin ich ein anderer Mensch geworden, toleranter, gelassener und zufriedener. Ich möchte nicht mehr so sein wie vor der Krankheit.“ Mit anderen Worten: Krankheit kann ein Segen sein. Gesundheit ist, wenn auch nicht das höchste, so doch ein hohes Gut. Darum empfehle ich: Tun Sie etwas für die Gesundheit und gegen krankmachenden Stress. Für mich sind Schmerzen und Krankheit gehören zum Leben. Mehr noch: Sie sind Zeichen des Lebens. Angefangen von den Kinderkrankheiten über schmerzvolle Wachstumskrisen bis zu den Altersbeschwerden. 22 GEISTLICHER IMPULS

P. Niklaus Brantschen SJ ist Jesuit und Zen-Meister. Der Gründer und langjährige Leiter des Lassalle-Hauses in Edlibach bei Zug hat zahlreiche Bücher über Spiritualität, Ethik und Fasten verfasst. Zuletzt erschienen: „Gottlos beten. Eine spirituelle Wegsuche“ (Patmos). Foto (Portrait): © Martin Friedli regelmässige Auszeiten das probate Mittel. Rechtzeitig trage ich „Freizeiten“ in meine Agenda ein. Eine Auszeit zur rechten Zeit wirkt Wunder – wenn nur dabei der Stille genügend Raum gegeben wird. Kluge Ärzt*innen verschreiben gehetzten Menschen Ruhe. Damit beherzigen sie den Rat Sören Kirkegaards: „Wenn ich Arzt wäre und man mich fragte: Was rätst du? – Ich würde antworten: schaffe Stille.“ Ruhe heilt. In der Ruhe können die Selbstregulations- und Selbstheilungskräfte ihre lebenserhaltende Wirkung entfalten. Wenn wir achtsam mit uns umgehen, können wir auch ohne Arzt zu dieser Einsicht kommen, dass Ruhe gesund hält, so wie eine gewisse Art von Stress krank macht. Also denn: Stille statt Pille! 23

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