Jesuiten 2024-1 (Deutschland-Ausgabe)

Maria liest Bei den vielen verschiedenen Mariendarstellungen, die es an ignatianischen Schulen gibt, vermisst Gabriele Hüdepohl eine spezielle: die der lesenden Maria. Maria ist in allen ignatianischen Schulen in vielfacher Hinsicht präsent. Sie begegnet den Schüler*innen nicht erst in Religionsbüchern oder im Kunstunterricht. Sie begegnet ihnen oftmals schon als Himmelskönigin prominent im Eingangsbereich, als Schutzmantelmadonna oder Pieta in der Kapelle. Solche Darstellungen prägen – eher hintergründig gewiss, aber nachhaltig; nachhaltig oftmals auch das kirchliche Frauenbild. Eine lesende Maria ist mir in ignatianischen Schulen aber noch nicht begegnet. Dabei sind sie doch eigentlich Orte anspruchsvoller Bildung. Sie vermitteln Schüler*innen Denkweisen und Wissensbestände, die unsere Gesellschaft und Kirche in Geschichte und Gegenwart bestimmen. Sie eröffnen neue Perspektiven und konfrontieren mit grundsätzlichen Fragen. All dies geschieht, wenn Schüler*innen lesen; wenn ihnen Zeit und Raum zur Verfügung steht, von Texten zu lernen und eigene Antworten zu suchen. So ist Leseförderung erheblich mehr als bloße Alphabetisierung. Leseförderung unterstützt wesentlich die Entwicklung von Persönlichkeiten, die unterscheidungs- und entscheidungsfähig sind; die damit kompetent und bereit sind, Verantwortung für die Gestaltung einer lebensfreundlichen Welt zu übernehmen. Leseförderung entziffert die „Zeichen der Zeit“, in denen sich die Gegenwart und Absicht Gottes selbst zu erkennen gibt (Pastorale Konzilskonstitution Gaudium et Spes – GS 11). Maria, das Buch zur Seite legend, Maria lesend – oft findet sich dieses Motiv in der Verkündigungsszene: In der Begegnung Mariens mit dem Boten Gottes hat sich die göttliche Verheißung aus dem Buch Jesaja erfüllt. Was Maria in dieser Situation aber wirklich liest, wissen wir nicht. Jedenfalls ist das Buch das Symbol für die Eröffnung eines eigenständigen Zugangs zur Welt; es ist das Symbol für die Möglichkeit, Wissen zu erwerben, sich Zusammenhänge zu erschließen, die Grundlagen des Glaubens und des Lebens zu hinterfragen und eine eigene Deutung des Lebens zu formulieren. Dazu kommt der Vorgang des Lesens: ein eher intimer Akt, in dem die Beschäftigung mit der begegnenden Welt im eigenen Tempo gestaltet wird; ein Vor- und Zurückblättern ist möglich. Und ein Nachspüren dem, was ein Text eröffnet und was er vom Lesenden erfordert. Ein immer wieder innehaltender Prozess. Lesen führt beinahe zwangsläufig zur Unterscheidung – zur Aufmerksamkeit für innere Stimmen; zum tieferen Verstehen dessen, was wirklich trägt. Fast wie die ignatianische Lebensform der Reflexion, der Unterscheidung der Geister. Die Buchmalerei aus einem Andachtsbuch des 15. Jahrhunderts wirkt heilsam anstößig. Es ist ein Bild, das Ruhe ausstrahlt. Es zeigt eine Maria, die auf dem Wochenbett in die Lektüre eines Buches vertieft ist, die in Gelassenheit und Konzentration dem Gelesenen nachzusinnen scheint. Und es zeigt einen Josef, der zu ihren Füßen sitzt und der mit Aufmerksamkeit und Zartheit das Kind in den Armen hält. Eine Umkehrung der Geschlechterverhältnisse, die bis heute die Welt dominieren. Das spiegelt sich auch in der Farbgebung der Kleidung wider: Josef trägt das Himmelblau, das in der Leseförderung unterstützt wesentlich die Entwicklung von Persönlichkeiten. 10 SCHWERPUNKT

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