Jesuiten 2024-1 (Deutschland-Ausgabe)

Jesuiten Maria 2024-1

Jesuiten 2024-1 Dieses Druckerzeugnis wurde klimaneutral hergestellt, d. h. die mit der Produktion quantifizierten CO2-Emissionen werden durch Klimaschutzzertifikate kompensiert. klima-druck.de · ID-Nr. 24164265 Foto: © zettberlin/photocase.com 1 Editorial Schwerpunkt 2 Der Engel trat bei Maria ein … 4 Was sagt das Magnifikat über Maria? 6 Maria – das Urbild der Kirche 7 Maria und die Wirkmächtigkeit der Demut 9 Sie gehört einfach dazu 10 Maria liest 12 Maria – der Zufluchtsort der Gläubigen 14 Maria Einsiedeln – katholische Kirche im Herzen der Schweiz 17 Unvollkommen 18 Marianismo 19 In kleinen Schritten zu meinem großen „Ja“ 20 Luthers Rat gegen die Maßlosigkeit der Herrschenden Geistlicher Impuls 22 Konturen eines Lebens Was macht eigentlich …? 24 P. Joachim Gimbler SJ Nachrichten 26 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 30 Jubilare und Verstorbene Medien/Buch 31 Karl Rahner: Glaube und Kultur Vorgestellt 32 Interview mit Gabriele Hüdepohl, Delegatin für die Schulen des Ordens 34 Die besondere Bitte Standorte der Jesuiten in Zentraleuropa Impressum Mutter Jesu, Gottesgebärerin, Jungfrau, Fürsprecherin ... Die Zuschreibungen, Ehrentitel und Charakterisierungen Marias sind mindestens so zahlreich, wie es Bilder und Vorstellungen über sie gibt. Nicht nur die Volksfrömmigkeit ist reich davon, sondern auch die Kunstgeschichte. Und so macht diese Ausgabe des Jesuiten-Magazins eine Art Rundreise zu verschiedenen Portraits der Mutter Jesu. Die Werke zeigen: Maria lässt sich nicht auf ein einziges Bild festlegen. Jedes Gemälde oder jede Figur macht sich ihr eigenes – und stellt uns die Frage: Wie würde denn ich Maria darstellen? Stefan Weigand

mit dem Editorial dieser ersten Ausgabe von Jesuiten 2024 möchte ich mich nach über 20 Jahren Redaktionsmitarbeit, die letzten Jahre als Chefredakteur, von Ihnen verabschieden. Wie viele Leser*innen wir erreichen würden und welche inhaltlichen Schätze es zu entdecken geben würde, das hätten wir uns 2000, als wir mit dem Jesuiten-Magazin starteten, nie ausdenken können. Unsere letzte Herausforderung und Freude: eine gemeinsame Ausgabe als sichtbarste Frucht des Zusammenwachsens der Jesuitenprovinzen in Zentraleuropa. Ich hoffe, Sie als Leser*innen haben stets etwas von der Freude gespürt, die wir im Redaktionsteam miteinander haben. Und Sie waren hoffentlich ebenso neugierig und gespannt wie wir, wenn wir uns von Autor*innen zu unterschiedlichsten Themen bereichern ließen. Danke allen Autor*innen! Danke vor allem aber euch allen, die ihr über die Jahre als Redakteure mitgedacht, mitdiskutiert und Ausgaben entwickelt habt, oft neben einem vollen Hauptberuf! Für viele Gläubige ist Maria eine Türöffnerin zu Jesus und Gott. Wenn ihr die frühe Kirche das Magnifikat in den Mund legt wie eine Präambel über das Leben Jesu, dann spiegelt sich darin beides: Gottes nüchterner Blick auf uns Menschen, von dem wir lernen können. Und Gottes liebevolles „trotz allem“, mit dem er uns annimmt und uns erschließt, was Menschsein tiefergehend bedeuten könnte, wenn wir uns seinem, Gottes Widerstand gegen die allzu menschliche Logik von Eigennutz, Machtausübung und Gewalt anschließen würden. Die Texte dieser Ausgabe beleuchten dies aus unterschiedlichen Perspektiven. Mich hat beim Lesen dieser Ausgabe die Beobachtung berührt, in wie vielen Verkündigungsszenen Maria bei Erscheinen des Engels ein Buch aus der Hand legt. Maria als Lesende. Lesen bedeutet, die Welt mit den Augen anderer sehen zu lernen. Wer wie Maria liest, öffnet sich für die Perspektiven und die Lebenswirklichkeit anderer Menschen. Ich bin den vielen Autor*innen von Herzen dankbar, die uns auf „ihre“ Welt schauen ließen und lassen. Das eine hat mich mehr, das andere weniger berührt, natürlich! Manches bleibt kontrovers. Unausweichlich! Denn die Vielfalt der Perspektiven muss uns ab und an auch einmal aus den Komfortzonen unserer gewohnten Perspektiven führen, uns deshalb manchmal sogar ärgern. Nur in einem so ernstnehmenden Hinschauen und Hinhören wachsen wir aneinander. Ihnen, liebe Leser*innen, danke! Danke, dass Sie diesen Weg mit uns bis hierher gegangen sind. Bitte bleiben Sie uns Jesuiten verbunden. Jetzt übernimmt Mathias Werfeli als Chefredakteur. Lieber Mathias, dir und deinem Team Gottes Segen! Und wohin zielt all das? Am Ende das Buch – wie Maria – aus der Hand legen. Dann höre jede ihrem und jeder seinem Engel zu: Nach allem, was wir voneinander über uns und die Welt kennenlernen durften, welche Verheißung und welchen Auftrag möchte Gott uns da zusagen? Liebe Leserinnen und Leser des Jesuiten-Magazins, P. Tobias Zimmermann SJ EDITORIAL 1

Der Engel trat bei Maria ein … Eine ignatianische Schriftbetrachtung zu Lukas 1,26–38 zum persönlichen Gebet Die Betrachtung vorbereiten Ich bereite mich räumlich, körperlich und innerlich auf die Gebetszeit vor, sodass ich präsent bin. Ich stelle mir vor, wie Gott mich mit seinem liebevollen Blick ansieht. Ich erbitte von Gott das, was ich mir von Ihm in dieser Gebetszeit erhoffe: beispielsweise wie Maria, wachsam zu sein und Seine Stimme zu hören. Den Schauplatz bereiten Ich lasse vor meinem inneren Auge die Landschaft der Bibelstelle wie ein Bühnenbild entstehen: Die Stadt Nazareth in Galiläa – ein unbedeutender Ort zu jener Zeit. Nur eine Ansiedelung mehrerer Häuser, einfach gebaut. Ich male mir genau aus, wie sie aussehen. Im Hintergrund ist eine Hügellandschaft erkennbar. Ich spüre eine angenehme Wärme. Ich lasse den Raum aufscheinen, in dem sich Maria befindet – nehme seine Größe oder Enge wahr und blicke mich um, was ich dort erkenne: Dinge des alltäglichen Lebens zwischen essen und schlafen. Ich sehe nun, wie sich die Szene ereignet. Ich lasse mich von Gottes Geist leiten. Ich verweile dort, wo ich angesprochen, berührt, betroffen, herausgefordert bin. Und gehe weiter, wenn es mir passend scheint. 2

Die Szene sich ereignen lassen Ich sehe Maria vor mir – eine junge Frau, ihre Statur und ihre Kleidung. Ich lasse sie auf mich wirken – mit ihrer Ausstrahlung, wie sie sich in ihrem Alltag bewegt und lebt. Welche Gefühle und Gedanken kommen auf, wenn ich sie dort sehe? Dann sehe ich, wie der Engel erscheint, wie er bei ihr eintritt. Ich male mir den Engel aus: Welcher Blick zeichnet sein Gesicht? Was empfinde ich selbst ihm gegenüber? Ich nehme wahr, wie Maria auf sein Erscheinen reagiert – überrascht oder erfreut oder verschüchtert. Ich schaue, wie sich der Ausdruck in ihrem Gesicht, ihre Körperhaltung ihm gegenüber verändert. Was löst das Bild der beiden in mir aus? Vielleicht hat es mich mittlerweile in die Szene hineingezogen – befinde ich mich in unmittelbarer Nähe. Vielleicht nehme ich im Verlauf auch den Blickwinkel einer der Personen ein oder ich bin weiterhin ein Beobachter in der Ferne. Dann höre ich den Engel zu Maria sprechen: „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir.“ Wie hört sich seine Stimme für mich an? Ich sehe, wie sie erschrickt bei dieser Anrede, erkenne ihre fragende Haltung, was diese Anrede zu bedeuten habe. „Fürchte dich nicht, Maria“, höre ich den Engel sagen. „Du hast bei Gott Gnade gefunden.“ Ich höre ihn, wie er ihr die Schwangerschaft verkündet und ihr die Geburt des Sohnes Gottes mit dem Namen Jesus verheißt. Ich lasse diese Worte auf mich wirken. Ich nehme die (veränderte) Atmosphäre wahr. Ich schaue, wie Maria darauf reagiert – wie sich ihr Blick und ihre Haltung ändern. Ich höre ihre erstaunte Rückfrage: „Wie soll das geschehen?“ Welche Gefühle kommen in mir auf? Der Engel reagiert ermutigend und vertrauensvoll: „Heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Denn für Gott ist nichts unmöglich.“ In welchem Tonfall höre ich den Engel dies sagen – was löst es in mir aus? Und welche Reaktion sehe ich daraufhin in Maria? Mein Blick bleibt bei Maria. Ich spüre eine Spannung in der Szene, dass etwas Wesentliches folgen wird. Dann höre ich Maria sagen: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ Ich achte wieder auf ihre Körperhaltung, ihren Blick, der vielleicht auch mich kurz streift. Was ruft dies in mir wach? Der Engel verschwindet aus der Szene – mein Blick ruht auf Maria, in dem Moment. Was bewegt mich? Beten – Gespräch mit dem Herrn Was mich berührt oder beschäftigt, erzähle ich mit freien Worten Gott. Ganz ehrlich drücke ich alles aus, was sich in mir regt. Ich danke, frage, zweifle, bitte, klage. Zurückschauen und sich vergewissern Was hat das, was ich geschaut habe, mit meinem Leben und Glauben zu tun? Was habe ich am Anfang erbeten? Was wurde mir geschenkt? Vielleicht halte ich das Erfahrene in einer kurzen Notiz fest. Mirella Teske lebt in Bonn und befindet sich neben ihrer Weiterbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie auch in der Ausbildung zur Geistlichen Begleiterin. Maria ist für sie menschlich-bodenständig und ein gottverbundenes Vorbild. Bild: © Panka Chirer-Geyer: Verbunden 3 SCHWERPUNKT

Was sagt das Magnifikat über Maria? Die Evangelien berichten über Maria auf unterschiedliche Weise, und das Magnifikat, der Lobgesang Marias, ist eines der biblischen Bilder, das Maria prägnant kennzeichnet. Allerdings hat Maria wohl kaum das Magnifikat gedichtet. Der Text, der davon spricht, dass Gott bereits umstürzend gehandelt hat und handelt an den Mächtigen und sich der Niedrigen und Hungernden in Israel annimmt, hat vor allen Dingen den Lobgesang der Hanna (1 Sam 2,1–10) zum Vorbild. Dieser Hymnus der Hanna ist nicht nur ein poetischer Lobpreis Gottes dafür, dass Gott einer kinderlosen und somit sozial stigmatisierten Frau einen Sohn geschenkt hat. Ihr Mann Elkana versucht, sie zu beschwichtigen: „Bin ich dir nicht viel mehr wert als zehn Söhne?“ (2 Sam 1,8). Dabei hat er gut reden, da er mit seiner zweiten Frau, von der Hanna dauernd schikaniert wird, Kinder hat. Der Priester Eli, der sieht, wie Hanna im Heiligtum ihr Herz vor Gott ausschüttet, diffamiert sie als betrunken, auch wenn er sich nachher korrigiert. Wenn Hanna sich freut, weil Gott „erniedrigt und erhöht“ (2 Sam 2,7), wenn sie betet „den Schwachen hebt er (Gott) empor aus dem Staub und erhöht den Armen, der im Schmutz liegt“ (2 Sam 2,8), dann ist damit auch eine Kritik verbunden an männlich dominierten hierarchischen Verhältnissen, unter denen sie zu leiden hat. Im Namen Gottes kann Hanna sagen: Nein, es ist nicht richtig, sich vom eigenen Mann vertrösten zu lassen, während er dabei zuschaut, dass sie fortwährend gedemütigt wird. Nein, sie hat kein Alkoholproblem, wenn sie als Frau öffentlich betend ihre Gefühle vor Gott preisgibt. Gott selbst weist ihr ihren Platz, und zwar den „Ehrenplatz“ (2 Sam 1,8), zu. Die unterschiedlichen Schicksale der Stolzen, der Mächtigen und Reichen im Gegensatz zu den Niedrigen und Hungrigen bilden den Kern des Magnifikats. Während die ersteren zerstreut und vom Thron gestürzt werden, werden die letzteren erhöht und beschenkt (Lk 1,51–53). Im Lichte des Lobgesangs der Hanna sind von diesen Umkehrungen, die im Namen Gottes von Maria besungen werden, auch geschlechtertypische Hierarchisierungen betroffen. Diese zum Lobgesang Marias gehörende Dimension wahrzunehmen, ist umso wichtiger, als über Maria immer wieder bestimmte Geschlechterbilder in die Theologie und in die Kirche hineingetragen wurden und werden. Prominent ist nicht zuletzt das Bild von Maria als Typus der Kirche, die hörend und bräutlich dem Bräutigam Christus gegenübersteht bzw. ihm untergeordnet ist. Problematisch ist es, wenn diese Symbol- und Bildebene normativ wird für Rollenzuweisungen zwischen Mann und Frau in der Kirche. Hier behält das Magnifikat eine kritische Rolle, um zu verstehen, was der biblische Ausdruck von Maria ist. Die Umkehrungen des Magnifikats werden von Jesus in den Seligpreisungen der Bergpredigt radikal formuliert (Lk 6,20–26): „Selig, ihr Armen … Selig, die ihr jetzt hungert … die ihr Über Maria werden und wurden bestimmte Geschlechterbilder in die Kirche hineingetragen. 4 SCHWERPUNKT

jetzt weint … Doch weh euch, ihr Reichen … die ihr jetzt satt seid … die ihr jetzt lacht …“ Der Evangelist Lukas legt Maria das Magnifikat in den Mund. Sie wird zur Sprecherin der Umkehrungen, die ein wesentlicher Teil des Evangeliums Jesu sind. Maria, die das Wort Gottes angenommen hat, ist die erste Jüngerin. Im Magnifikat nimmt Maria die Verkündigung des Evangeliums durch Jesus vorweg. Als Verkünderin der Frohen Botschaft ist sie maßgeblich für die Jünger*innen Jesu. P. Klaus Vechtel SJ ist Professor für Dogmatik und Dogmenhermeneutik an der PTH Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Zuvor war er lange Zeit als Spiritual am Collegium Germanicum in Rom tätig. Bild: © Maria im Ährenkleid, Salzburg um 1490 5

Luisa-Maria Papadopoulos studiert seit 2022 katholische Theologie. Seitdem ist sie auch Mitglied der Initiative Maria 1.0. Maria ist für sie ihre Mutter und Königin und der sicherste Weg zu Christus. Maria – das Urbild der Kirche Durch Maria ist Jesus in die Welt gekommen und sie hat Ihn zu den Menschen gebracht. Ihr Ja zum Plan Gottes ist das Ja, das die Kirche immer zu Gott sprechen muss. Nachdem Maria die Geburt Christi vorhergesagt wurde, eilte sie zu ihrer Verwandten Elisabeth, die im Heiligen Geist erkennt, wen Maria unter ihrem Herzen trägt: „Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes“ (Lk 1,41). Das Magnifikat ist Marias Antwort. Die Ehre, die ihr erwiesen wird, führt sie auf Gott zurück. „Durch Maria Gott ehren“ ist das Prinzip jeder Marienverehrung und zeigt die Aufgabe der Kirche, deren Urbild Maria ist: Die Kirche dient der Ehre Gottes und dem Heil der Menschen. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“ – Im Reich Gottes werden die Verhältnisse umgekehrt. In der Kirche haben sich bis hin zum Papst alle an ihrem Platz als Diener zu verstehen. Selbst die Leitung ist ein Dienst. Deshalb wird zur Ehre Gottes eine prunkvolle Liturgie gefeiert, während der Klerus auf ein einfaches Leben verpflichtet ist. Deshalb kann niemand nach Gutdünken die Kirche in seinem Sinne formen. Dies ist ein wichtiger Hintergrund der Tradition. Wer der Tradition folgt, der versteht sich als Verwalter, nicht Initator, er übernimmt und gibt weiter, was ihm überliefert wurde. Die Frage ist nicht: „Wie kann die Kirche sich meinen Wünschen anpassen?“, sondern: „Wie kann ich Gott und den Menschen in Seiner Kirche dienen?“ Christ zu sein, heißt, sich Gott ganz zu verschreiben, den eigenen Willen dem Willen Gottes vollkommen zu unterstellen, wie Maria es getan hat. Christus ist unser König, nicht ein gewählter Präsident, der die Pflicht hat, sich dem Volkswillen zu beugen. Christ zu sein, heißt, sich vollständig dem zu schenken, der sich für uns hingegeben hat, in allem Seine Ehre zu suchen und Seinen Willen zu tun. Was Sein Wille ist, erfahren wir durch die Kirche, wie Christus durch Maria in die Welt kam. Dies gilt für alle, die sich Christ nennen, selbst noch für den Papst. Denn auch er ist nur Papst, Schrift und Tradition verpflichtet, Stellvertreter, nicht Herrscher, Diener der Diener Gottes. Christus ist durch Maria in die Welt gekommen und wir sollen durch sie zu Christus kommen. Sie zeigt uns die Bedeutung der Dankbarkeit und Ehrfurcht gegenüber dem, dem wir alles verdanken: „Meine Seele preist die Größe des Herrn / und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. / Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter“ (Lk 1,46b–48). In der Demut Mariens, die sich ohne Hintergedanken Gott zur Verfügung stellt, liegt der Schlüssel zur wahren Gottesverehrung ebenso wie zur fruchtbaren Verkündigung. Die Kirche dient der Ehre Gottes und dem Heil der Menschen. 6

Maria und die Wirkmächtigkeit der Demut Bernhard von Clairvaux wird nachgesagt, er sei selbst der Mutter Jesu über den Mund gefahren mit den (angeblichen) Paulus-Worten: „Das Weib schweige in der Gemeinde…“ Jesus jedoch hatte keine schweigende Mutter. Maria hat das Magnifikat nicht mit geschlossenem Mund gesungen. Sie hat ihren Sohn sprechen und denken gelehrt. Das Schweigen, welches die Kirche den Frauen durch die Jahrhunderte verordnet hat, und welches in dieser legendenhaften Erzählung beispielhaft krass umrissen wird, ist nicht golden. Es ist bleiern. Dieses Schweigen ist die Schwester der Lüge. Denn es unterstützt, in vielen Ländern und Gemeinschaften bis heute, das uneingeschränkte Verfügungsrecht der Männer über die Frauen, das unhinterfragte Wüten einer patriarchalen Weltordnung, der Marias Sohn, Jesus von Nazareth, mit seinem Leben, Lehren und Tod vehement widerspricht. Denn Jesus lehrt uns, endlich geschwisterlich zu werden. Er beendet die Angst vor Gott und damit vor den Menschen. Jesus zeigt, dass es in unserer Gottes- und Menschenbeziehung nicht um Kontrolle geht, sondern um Freiheit. Liebe und Verstand, nicht die Angst, sind gute Ratgeber. Darum kann nur Gottvertrauen und nicht Herrschsucht oder Devotheit gegenüber dem Beifall der Entscheider uns wirklich tragen und heilsamer Antrieb sein. Das göttliche Geheimnis entäußert sich aller Gewalt. Wird ein hilfloses Menschlein. Nichts löst mehr Liebe aus. Wie Maria schon im Magnifikat prophetisch gejubelt hat, offenbart sich in ihrem Sohn die Wirkmächtigkeit der göttlichen Ohnmacht. Wir nennen sie Liebe. Maria singt von der Wirkmächtigkeit dieser Liebe, die, weil sie ohne Arg vertraut, die Fesseln der Angst löst und so Mut, Tatkraft und Energie auslöst. Das Vertrauen in die unbedingte göttliche Liebe entwaffnet und entbindet von Kontrollwut und Misstrauen. Maria fühlt sich gesehen. Denn sie erkennt: Die Wirkmächtigkeit der Liebe ist das nachhaltigste, stärkendste und durchsetzungsfähigste Element von Lebendigkeit. Diese Wirkmächtigkeit überwindet sogar den Tod. Das vermag keine Macht der Welt. Mit Maria erwarten wir Erlösung: Das göttliche Geheimnis entäußert sich aller Gewalt. Liefert sich ganz dem sich stets wandelnden Leben aus. Wächst heran in ihrem Leib. So unendlich vertraut Gott seinen geliebten Menschen. Gottvertrauen ist keine Einbahnstraße. Maria erwartet – wahrhaft demütig – die Wirkmächtigkeit der in Gott ganz und gar geborgenen Ohnmacht. Die allein vermag es, die gewalttätigen Herrscher vom Thron zu stürzen. Denn sie ist verortet dort, wo Menschen selbst im tiefsten Dunkel sich gehalten wissen, als Teil des göttlichen Seins. Lisa Kötter ist freischaffende Künstlerin und Autorin. 2019 hat sie zusammen mit fünf Freundinnen die Bewegung Maria 2.0 gegründet. Denn für sie zeigt das Bild, das die Kirche von Maria zeichnet, nur die Facetten, die den Kirchen-Herren durch die Jahrhunderte als vorbildhaft genehm waren, um Macht zu missbrauchen und über Menschen zu herrschen. Maria aber singt ein anderes Lied. Bild: Lisa Kötter © Ralf Baumgarten 7 SCHWERPUNKT

Sie gehört einfach dazu Bei Zisterzienserinnen ist Maria ein fester Bestandteil des Ordensnamens. Was bedeutet das für die Ordensfrauen? Schwester Mariae Laetitia Klut OCist berichtet über ihre Erfahrungen. „Und? Was für eine Mary sind Sie?“, fragte Schwester Mary Clarence, alias Deloris Van Cartier, alias Whoopi Goldberg im Film Sister Act ihre neue Mitschwester. Wie im fiktiven Konvent von Saint Catherine’s lohnt sich diese Frage auch in einem Zisterzienserinnenkloster. Einer alten Tradition folgend setzt sich unser Ordensname aus Maria und einem weiteren, individuellen Namen zusammen. Ich wusste also schon vor meiner Einkleidung: Ich werde Maria heißen wie die Mutter Jesu. Und wie weiter? „Was für eine Mary sind Sie?“ – Laetitia ist mein Name, lateinisch für „Freude“. In Absprache mit meiner damaligen Äbtissin habe ich mir ein zusätzliches „e“ gewünscht. Aus Maria wurde so der Genitiv: Mariae. Wörtlich übersetzt bedeutet mein Name Mariae Laetitia „die Freude Marias“. Dabei bilde ich mir nicht ein, der Gottesmutter eine besondere Freude zu bereiten. Mein Name bezieht sich auf Marias höchste und größte Freude: ihren Sohn. Jesus, der seine Mutter am Ende ihres Lebens voll und ganz in seine Gegenwart heimholt und ihr jede Sehnsucht erfüllt. Bildlich gesprochen: sie mit Leib und Seele in den Himmel aufnimmt. Deshalb feiere ich meinen Namenstag am 15. August. Das ist außerdem das Patronatsfest des Zisterzienserordens. „Passt!“, dachte ich. Und hoffe auf die Vollendung meiner Sehnsucht vor dem Angesicht Gottes. Obwohl ich als eine Art geistliche Hommage ihren Namen trage, verspüre ich nicht den Drang, die Gottesmutter nachzuahmen. Reinheit, Anmut, Selbstverleugnung, Keuschheit, Dienstbereitschaft, Schweigsamkeit, Duldsamkeit und was noch alles mit dem Namen Maria in Verbindung gebracht wird, mögen zwar mitunter hilfreiche Konzepte sein. Sie aber zum vorbildhaften Gesamtprogramm „katholischer Weiblichkeit“ zu erklären, dient eher der Zementierung stereotyper Rollenbilder als der individuellen spirituellen Entwicklung von (Ordens-)Frauen. Der Name ist also nicht immer Programm. Jesus Christus will ich nachfolgen. Er ist der Schlüssel zu meiner Gottesbeziehung. Auf dem Weg in der Nachfolge Christi können die genannten Tugenden wachsen – und noch viel mehr! Eine schwärmerische und überspannte Marienfrömmigkeit ist nicht mein Ding. Ich denke mir: Das würde sie auch nicht wollen. Sie stellt für uns ihren Sohn ins Zentrum und das sollten wir auch tun. Meine Beziehung zu Maria empfinde ich als selbstverständlich; trotzdem sehr innig und persönlich: So wie ich die Mutter meines besten Freundes sehr schätze und mag, so mag ich auch ganz natürlich die Mutter Jesu. Sie gehört einfach dazu. Sr. Mariae Laetitia Klut OCist ist seit zehn Jahren Nonne im Zisterzienserinnen-Kloster St. Marienstern in der sächsischen Oberlausitz. Bildnisse der „Gottesmutti“ grüßt sie im Stillen gern mit „Hallo Mamma!“. Bilder: Antonello da Messina: Maria der Verkündigung, um 1475; Portrait © Rafael Ledschbor 9

Maria liest Bei den vielen verschiedenen Mariendarstellungen, die es an ignatianischen Schulen gibt, vermisst Gabriele Hüdepohl eine spezielle: die der lesenden Maria. Maria ist in allen ignatianischen Schulen in vielfacher Hinsicht präsent. Sie begegnet den Schüler*innen nicht erst in Religionsbüchern oder im Kunstunterricht. Sie begegnet ihnen oftmals schon als Himmelskönigin prominent im Eingangsbereich, als Schutzmantelmadonna oder Pieta in der Kapelle. Solche Darstellungen prägen – eher hintergründig gewiss, aber nachhaltig; nachhaltig oftmals auch das kirchliche Frauenbild. Eine lesende Maria ist mir in ignatianischen Schulen aber noch nicht begegnet. Dabei sind sie doch eigentlich Orte anspruchsvoller Bildung. Sie vermitteln Schüler*innen Denkweisen und Wissensbestände, die unsere Gesellschaft und Kirche in Geschichte und Gegenwart bestimmen. Sie eröffnen neue Perspektiven und konfrontieren mit grundsätzlichen Fragen. All dies geschieht, wenn Schüler*innen lesen; wenn ihnen Zeit und Raum zur Verfügung steht, von Texten zu lernen und eigene Antworten zu suchen. So ist Leseförderung erheblich mehr als bloße Alphabetisierung. Leseförderung unterstützt wesentlich die Entwicklung von Persönlichkeiten, die unterscheidungs- und entscheidungsfähig sind; die damit kompetent und bereit sind, Verantwortung für die Gestaltung einer lebensfreundlichen Welt zu übernehmen. Leseförderung entziffert die „Zeichen der Zeit“, in denen sich die Gegenwart und Absicht Gottes selbst zu erkennen gibt (Pastorale Konzilskonstitution Gaudium et Spes – GS 11). Maria, das Buch zur Seite legend, Maria lesend – oft findet sich dieses Motiv in der Verkündigungsszene: In der Begegnung Mariens mit dem Boten Gottes hat sich die göttliche Verheißung aus dem Buch Jesaja erfüllt. Was Maria in dieser Situation aber wirklich liest, wissen wir nicht. Jedenfalls ist das Buch das Symbol für die Eröffnung eines eigenständigen Zugangs zur Welt; es ist das Symbol für die Möglichkeit, Wissen zu erwerben, sich Zusammenhänge zu erschließen, die Grundlagen des Glaubens und des Lebens zu hinterfragen und eine eigene Deutung des Lebens zu formulieren. Dazu kommt der Vorgang des Lesens: ein eher intimer Akt, in dem die Beschäftigung mit der begegnenden Welt im eigenen Tempo gestaltet wird; ein Vor- und Zurückblättern ist möglich. Und ein Nachspüren dem, was ein Text eröffnet und was er vom Lesenden erfordert. Ein immer wieder innehaltender Prozess. Lesen führt beinahe zwangsläufig zur Unterscheidung – zur Aufmerksamkeit für innere Stimmen; zum tieferen Verstehen dessen, was wirklich trägt. Fast wie die ignatianische Lebensform der Reflexion, der Unterscheidung der Geister. Die Buchmalerei aus einem Andachtsbuch des 15. Jahrhunderts wirkt heilsam anstößig. Es ist ein Bild, das Ruhe ausstrahlt. Es zeigt eine Maria, die auf dem Wochenbett in die Lektüre eines Buches vertieft ist, die in Gelassenheit und Konzentration dem Gelesenen nachzusinnen scheint. Und es zeigt einen Josef, der zu ihren Füßen sitzt und der mit Aufmerksamkeit und Zartheit das Kind in den Armen hält. Eine Umkehrung der Geschlechterverhältnisse, die bis heute die Welt dominieren. Das spiegelt sich auch in der Farbgebung der Kleidung wider: Josef trägt das Himmelblau, das in der Leseförderung unterstützt wesentlich die Entwicklung von Persönlichkeiten. 10 SCHWERPUNKT

Tradition die Farbe Mariens ist. Ein Hinweis des Buchmalers, dass sich mit der Menschwerdung Gottes die Verhältnisse ändern können? Längst ist das Recht auf Lesen Teil des Menschenrechts auf Bildung. Und doch wird es millionenhaft besonders Mädchen vorenthalten. Im Bild der lesenden Maria kann ein Befreiungspotential liegen, das Mädchen und Jungen auf ihren Wegen zu einer selbstbewussten Persönlichkeit stärken kann. Gabriele Hüdepohl war viele Jahre Deutsch- und Religionslehrerin und Schulleiterin am Canisius-Kolleg in Berlin. Sie ist Delegatin der Jesuiten für die Schulen. Maria ist ihr eine bleibende Herausforderung. Bild: Illustration im Stundenbuch von Besançon, ca. 1480–1485, Fitzwilliam MS 69 folio 48r 11

Maria – der Zufluchtsort der Gläubigen In der orthodoxen Welt ist die Muttergottes-Ikone allgegenwärtig. Es gibt keine Kirche und kaum einen Haushalt, in denen sie nicht anzutreffen wäre. Die Panagia, die allerheiligste Gottesmutter Maria, ist der Zufluchtsort der orthodoxen Gläubigen. 12

Es gibt verschiedene Typen von MuttergottesIkonen. Das Wichtigste ist, dass Maria, die Mutter Jesu, immer auf ihren Sohn hinweist. Sie ist die Theotokos, wörtlich die Gottesgebärerin. Ihre Lebensbestimmung war es, den Sohn Gottes in die Welt zu bringen. So wurde sie zum Tor, durch welches Gott in die Welt eintreten konnte. Dies verdeutlicht der Name Immanuel: Gott (ist) mit uns. In jeder Liturgie wird die allerheiligste Jungfrau erwähnt. Die Gläubigen wenden sich an sie als Fürsprecherin bei ihrem Sohn Jesus Christus. Sie ist, durch Jesus Christus, Mittlerin zwischen Mensch und Gott. Alle Gebete, die an Maria gerichtet werden, stehen in Verbindung zu ihrer Gottesmutterschaft und ihrer einzigartigen Beziehung zu Jesus, dem Sohn Gottes, der durch sie Mensch geworden ist. Der Name der Ikone Die hier abgebildete Ikone ist auch im Westen bekannt unter dem Begriff „Gottesmutter der immerwährenden Hilfe“. Die Abschriften der Originalikone haben mit der Zeit immer westlichere Züge angenommen und wurden zum Teil mit Kronen oder Schmuckstücken ergänzt. Diese Ikone weist eine Besonderheit auf. Im Unterschied zu vielen andern ist sie angeschrieben. Griechisch heisst sie „Phoberá prostasía“. Diese Bezeichnung ist nicht einfach zu übersetzen. Klar ist, dass sie „Schutz“ verspricht. „Phoberá“ kann vieles bedeuten: furchtbar, schrecklich, schlimm; extrem, mega, super; unglaublich, wunderbar, hervorragend. Man könnte also frei übersetzen: Die Muttergottes dieser Ikone ist, durch die Kraft ihres Sohnes, der das Wort Gottes ist, der beste Schutz in den schlimmsten Lebenssituationen. Zur Geschichte dieser Ikone Man kann sich fragen, woher der Name „Phoberá prostasía“ kommt. Dieser geht auf einen geschichtlichen Hintergrund zurück. Das Original dieser Ikone soll als einziger Gegenstand den Brand eines Klosters auf Kreta unversehrt überstanden haben. Danach fand sie den Weg nach westlicher Tradition nach Rom, nach östlicher Tradition in das Mutterkloster Koutloumousiou auf dem Berg Athos. Dort hat sie bis heute ihren Platz in einer Kapelle neben der Klosterkirche. Jahre später sollen die Athos-Mönche während eines Piratenangriffs bei der Gottesmutter „Phoberá prostasía“ mit inständigem Gebet Schutz gesucht haben. Diese soll den Angriff vereitelt haben, indem sie das Kloster in eine Nebelwolke einhüllte, es so unauffindbar machte und vor dem Untergang rettete. Besonderheit dieser Ikone Es ist außergewöhnlich, dass das Jesuskind nicht den Betrachter oder die Verehrerin anschaut, sondern seinen Blick nach hinten gewendet hat. Mit Unverständnis und Verwunderung in den Augen schaut es auf den Engel hinter sich. Angstvoll umklammert es die Hand seiner Mutter. Vor Schreck ist ihm die Sandale vom Fuss geglitten. Das Kind hat eine Vision von der Zukunft. Es sieht die Marterwerkzeuge, denen es eines Tages ausgesetzt sein wird: das Kreuz mit der Dornenkrone, die Lanze und das Schilfrohr mit dem Schwamm. Auf der anderen Seite zeigt ihm der zweite Engel die Nägel. Seine Mutter schaut die Betrachterin oder den Verehrer mit einem wissend-fragenden Blick an, wobei sie mit ihrer rechten Hand auf ihr Kind hinweist, den Erlöser, durch dessen Tod das Heil der Welt kommen wird. Gebete Diese wundertätige Ikone wird in jeder Not, in Krankheit, auch bei psychischer Schwäche angefleht. Die Menschen erfahren Kraft, Heilung und Hilfe; sie fühlen sich erhellt, sicher geführt und von großem Schutz umgeben. Maria Brun ist seit vielen Jahren theologische Mitarbeiterin am Orthodoxen Zentrum in Chambésy/Genf. Maria ist für sie die Muttergottes, der sie mit Ehrfurcht begegnet. Bild: Ikone „Gottesmutter der immerwährenden Hilfe“ 13 SCHWERPUNKT

Maria Einsiedeln – katholische Kirche im Herzen der Schweiz Im größten Schweizer Marienwallfahrtsort ist katholische Weltkirche erfahrbar. Wie die Wallfahrt zum Abbild unserer Gesellschaft und zum Ausdruck zeitgenössischer Spiritualität wird, erklärt der Einsiedler Benediktiner-Pater Philipp Steiner. Wer den Marienwallfahrtsort Einsiedeln besucht, ist beeindruckt vom imposanten Klosterplatz, von der monumentalen Fassade und der barocken Festlichkeit. Die ab 1704 neuerbaute Benediktinerabtei liegt in einem voralpinen Hochtal auf 900 Metern über Meer und darf in zehn Jahren den 1100. Jahrestag ihrer Gründung feiern: schweizerische Landschaft und benediktinische Beständigkeit in Reinkultur. Wer aber während der Wallfahrtszeit zwischen Ostern und Allerheiligen an einem Samstag- oder Sonntagnachmittag die Klosterkirche besucht, fühlt sich zuweilen in eine andere Welt versetzt: Man hört weder den gregorianischen Choral der Mönche noch erlebt man eine der traditionsreichen „Standeswallfahrten“ aus den katholisch geprägten Kantonen der Schweiz, die teilweise eine 700-jährige Geschichte haben. Vielmehr tauchen Besucher*innen in eine Liturgie im syro-malabarischen Ritus ein, erleben eine vietnamesische Eucharistiefeier, sehen eine portugiesische Marienprozession vorbeiziehen oder feiern einen albanischen Gottesdienst mit. Auch außerhalb der Gottesdienste sind auffallend viele Menschen mit diversen kulturellen Hintergründen in der Einsiedler Klosterkirche anzutreffen. Zwar hatte die Wallfahrt zur Muttergottes von Einsiedeln schon im Mittelalter einen ausgesprochen „europäischen“ Charakter, doch Menschen aus Albanien, dem Kosovo, BosnienHerzegowina, Kroatien, Indien, Sri Lanka, Vietnam, den Philippinen, China, Afrika, Spanien, Portugal, Polen, Tschechien, der Slowakei, Slowenien und der Ukraine suchte man bis vor wenigen Jahren oder Jahrzehnten hier vergebens. Dies hat damit zu tun, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis hinein in die jüngste Vergangenheit Menschen auf der Suche nach Arbeit und einem Leben in Sicherheit ihren Weg in die Schweiz gefunden haben. Diese Menschen brachten ihre Religiosität und katholische Prägung mit. Und dazu gehört auch die Marienwallfahrt als selbstverständlicher Ausdruck der persönlichen und gemeinschaftlichen Frömmigkeit. Die von den jeweiligen fremdsprachigen Missionen organisierten Wallfahrten haben die traditionellen Schweizer Gruppenwallfahrten zahlenmässig schon längst überholt. Schweizer*innen besuchen die Einsiedler Klosterkirche mit der Gnadenkapelle weiterhin zahlreich, tun dies aber zunehmend individuell und nicht mehr organisiert in Gruppen an einem konkreten (Wallfahrts-)Tag. Bild: © Kloster Einsiedeln - Jean-Marie Duvoisin Die Marienwallfahrt ist Ausdruck der persönlichen und gemeinschaftlichen Frömmigkeit. 14

Es ist unübersehbar: Ohne die Menschen mit Migrationshintergrund wäre das Heiligtum der Schwarzen Madonna von Einsiedeln um viel Frömmigkeit, Andacht und Sinn für das Heilige ärmer. Ausdruck davon ist die Schwarze Madonna: Sie hat von den aktuell 37 Kleidern in den letzten 20 Jahren neun Gewänder von Menschen ohne Schweizerpass erhalten und präsentiert sich so von Zeit zu Zeit auch als Tamilin, Inderin, Koreanerin oder Iranerin. Aus letzterer Kultur stammt das Kleid auf dem Bild der Muttergottes. Im Kloster Einsiedeln sind alle Menschen willkommen und die aktuell 40 Mitglieder zählende Mönchsgemeinschaft bemüht sich um die benediktinische Gastfreundschaft auch gegenüber Touristen und Zufallsbesucherinnen. Im Sakralraum der Klosterkirche finden sich sämtliche religiöse und nicht-religiöse Ausdrucksformen der modernen Gesellschaft wieder. Ergänzend zu den Mönchen werden die Gläubigen aus der ganzen Welt für die Schweizer Bevölkerung allein durch ihre Präsenz zu Glaubenszeug*innen. Dank ihnen erleben Menschen ohne persönlichen religiösen Bezug in Einsiedeln einen lebendigen Ort des Glaubens, sie erfahren katholische Weltkirche im spirituellen Herzen der Schweiz. P. Philipp Steiner OSB lebt seit 2007 in der Benediktinerabtei Unserer Lieben Frau in Einsiedeln. Verantwortlich für das Wallfahrtsbüro und die Klosterkirche, ist Maria für ihn Mutter und Wegbegleiterin. 15

Unvollkommen So könnte es gewesen sein: Michelangelo (1475–1564), einer der bedeutendsten italienischen Renaissance-Künstler, im Zwiegesprach mit seiner letzten Skulptur, der Pietà Rondanini (1552–1553). Wenn ich meine Hände betrachte … Das ist sie: wohl meine letzte Skulptur. Meine letzte Pietà ! — Maria — und ihr sterbender Sohn Jesus nach der Kreuzabnahme. Pietà – Barmherzigkeit – Mitleid – Erbarmen. Habt Erbarmen mit mir ihr beiden. Meine Kräfte neigen sich zum Ende. Mein Meißel wird eure Gestalt nicht mehr bis zur Perfektion vollendet aus diesem Stück Marmor schälen können. Ist es Zufall, dass ausgerechnet ihr, meine eigene Grabskulptur, „non finito“ – unvollendet – sein werdet? — Warum ausgerechnet ihr? Muss denn alles im Leben Vollendung sein in seiner Existenz? Gott, ... die Welt, meine Kunst ... ich selbst? Nein! So soll alles sein – unvollendet und unvollkommen. In allem habe ich Vollendung gesucht: im Glauben an dich, oh Gott, Maria und Jesus, in meiner Kunst, den Menschen und ja – sogar den unnützen Dingen. Und doch lehrt mich das Leben am Ende nur eines: Nichts ist vollkommen, weder ich noch die anderen. Wir Menschen sind doch alle gleich unvollkommen und dadurch ebenbürtig in unserer Verletzlichkeit. Auch ihr steht nun zum ersten Mal beide auf einer Ebene hier: Maria und Jesus – Mutter und Sohn. Die Mutter bettet nicht mehr den zu ihr zurückgekehrten, sterbenden Sohn in ihren Schoß. Stehend stützt sie dich Jesus am Rücken. Sie versucht dich verzweifelt mit ihrer Hand festzuhalten im Leben, wo du Jesus doch meist frohe Botschaften verkündet hast. Jetzt musstest du das Schlimmste erleiden, was man einem Menschen antun kann. Maria, du bist ohnmächtig in deiner Kraft. Was dir bleibt, ist Trost zu spenden und zu zeigen, wie dringend Liebe ist. Schreite ich nun hinter euch beide, scheinst du, Jesus, deine Mutter zu tragen. Ihr tragt einander, gebt euch Halt in eurer gegenseitigen Verletzlichkeit. Ihr seid euch Stütze. Wie wir Menschen auch so viel mehr einander Stütze sein sollten. Gott ist auch immer die meine. Du gibst mir Kraft, um zu bestehen in dieser unvollkommenen Welt mit meiner eigenen Unvollkommenheit. Erteiltest mir ausreichend viele Lektionen im Alltag, um mich an all meine Unzulänglichkeiten zu erinnern. Scheinst mir leise zuzurufen: „Arbeite an dir. Stell dich in Frage. Sei anderen eine Stütze, so wie ich dir.“ Danke Gott. Du nimmst mich einfach so in deine Arme. – non finito–. Kathrin Harms lebt in Bonn. Am dortigen Aloisiuskolleg ist sie als Studienrätin mit den Fächern Kunst und Französisch tätig. Bild: Michelangelo: Pietà Rondanini; © GFDL 17 SCHWERPUNKT

Marianismo Machismus – in Lateinamerika als Machismo bekannt – ist ein bekanntes Phänomen. Doch was hat es mit Marianismo auf sich? Marianismo wurde als wissenschaftlicher Diskussionsbegriff im Jahre 1973 von Evelyn Stevens in ihrem Aufsatz „Machismo and Marianismo“ in der Zeitschrift Society (Vol. 10,6) eingeführt. Die spanische Grammatik deutet auf den südamerikanischen Entdeckungszusammenhang hin. „Marianismo“ beschreibt ein Verhaltensmuster von Frauen in einer sogenannten Macho-Kultur. Frauen werden als spirituell und moralisch den Männern überlegen angesehen, weil sie für (genauer unter) ihre(n) misshandelnden und missbrauchenden Ehemänner(n) leiden, aber auch vergeben und für sie beten. Dieses als genuin weiblich beschriebene Verhalten wird durch ein problematisches Bild der Gottesmutter unterstützt; sehr oft muss die Mater dolorosa als Rechtfertigung herhalten. Leider bedeutet dieses Bild dann, dass Frauen, sofern sie dem Zerrbild folgen, nur heilig werden können, wenn sie den Missbrauch durch ihre Männer erleiden. Mit anderen Worten: Machismo ist notwendig, damit Frauen heilig werden können! Machismo hingegen stellt ein Modell männlichen Verhaltens dar, das missbräuchliches und sündiges Verhalten wie die Misshandlung von Frauen, männliche Hypersexualität, Gewalt und Stolz unterstützt. Nun kann man argumentieren, dass Machismo nur existieren kann, wenn ein solches Verhalten nicht nur toleriert, sondern bis zu einem gewissen Grad auch erwartet wird: Wenn von Frauen nicht erwartet würde, dass sie das Verhalten der Männer tolerieren und für sie beten, würden sich die Männer dann immer noch daneben benehmen? In diesem Sinne kann es Machismo nur geben, wenn es eine verzeihende Partnerin gibt, die den Missbrauch erleidet: Marianismo. In diesem Zusammenhang sind Machismo und Marianismo komplementäre Konzepte, die auf die Unterdrückung von Männern und Frauen abzielen: Diese Konzepte stellen Modelle für „männliches“ und „weibliches“ Verhalten dar, die das persönliche und geistige Wachstum von Männern und Frauen behindern. Fiona Li arbeitet derzeit als Verwaltungsassistentin im Büro des Präsidenten am Regis College in Toronto. Vor kurzem verteidigte sie ihre Dissertation mit dem Titel Erforschung des Bildes von Maria als Brückenbauerin (Pontifex) für die zeitgenössische kontextuelle „Theologie“. Bild: Madonna in der Kirche St. Klara in Nürnberg © Stefan Weigand 18

In kleinen Schritten zu meinem großen „Ja“ Wie sage ich „Ja“ zu meiner Berufung im Leben? Woran erkenne ich, dass ich die richtige Wahl getroffen habe? Was geschieht nach meinem „Ja“? Margot Buysschaert, Postulantin der XavièresSchwestern, geht diesen Fragen aus der eigenen Erfahrung nach. Ohne zu zögern, sagte ich „Ja“, als ich gebeten wurde, einen Artikel über mein „Ja“ zu schreiben. Denn ein „Ja“ ist immer ein guter Anfang. Und dasselbe gilt für meine Berufung. Kein Blitzschlag – sondern eine Folge von kleinen Schritten. Wer wie ich gerne zweifelt, wird dadurch vielleicht beruhigt: Ein großes persönliches „Ja“ geschieht oft in vielen kleinen „Ja“-Momenten. Das erste große „Ja“ auf meinem Berufungsweg war die Entscheidung, Gott in die Mitte meines Lebens zu stellen und mein Vertrauen in ihn zu setzen. Im Reflektieren meiner Gefühle und meiner Identität half mir die Figur des Moses. Auf seinen Zweifel „Wer bin ich?“, dass er das Volk Israel befreien könnte, antwortet ihm Gott: „Ich bin mit dir“ (Ex 3,11–12). Das Vertrauen, dass Gott mit mir ist, wo immer ich hingehe, ermutigte mich, kleine und konkrete Fragen zu stellen: „Wie ziele ich in meinem Alltag auf Gott ab?“, „Was kann ich tun, um ihm heute zu helfen?“ (Etty Hillesum). Als erstes kleines „Ja“ meldete ich mich als Helferin bei einem Weihnachtsessen für die Ärmsten der Armen, das die Sant’Egidio-Gemeinschaft in einer großen Stadt in Belgien organisierte. Ein kleines, konkretes „Ja“. Große Verpflichtungen einzugehen, konnte ich mir nicht vorstellen, aber einen sinnvollen Weihnachtstag zu erleben, ja, das konnte ich tun. Diese Weihnacht 2019 hat mich so stark berührt, dass ich Sant’Egidio nie wieder verlassen habe. Ein anderer kleiner Schritt war ein spirituelles Wochenende mit ignatianischen Exerzitien, für das ich mich angemeldet hatte, um mein „Ja“ zu Gott zu vertiefen. Da es die ersten Exerzitien in meinem Leben waren, traute ich mich nicht, für drei Tage zu gehen, sondern meldete mich nur für zwei Tage an. Ich merkte, dass es besser ist, die Hälfte eines kleinen Schrittes zu machen, als gar nicht voranzukommen. Gott ist barmherzig mit uns. Wir gehen so gut wir können in unserem eigenen Tempo voran. Eine Freundin meinte: „Du zielst auf Gott und gehst voran“. So kam es, dass ich nach drei Jahren des Weges und vielen kleinen „Ja“-Momenten, mein großes „Ja“ zum Ordenseintritt gab. Margot Buysschaert ist Flämin, Psychologin und Geistliche Begleiterin. Sie lebt als Postulantin bei den Xavières-Schwestern in Paris. Inspiriert vom „Ja“ Mariens hat Gottes Ruf ihr Leben auf den Kopf gestellt. 19

Luthers Rat gegen die Maßlosigkeit der Herrschenden Welche praktischen Lehren zog der Reformator Martin Luther aus seiner Lektüre des Magnifikats? Die Pastorin und Theologin Anne-Cathy Graber zeigt uns durch die Augen Luthers ein erfrischendes und mutiges Bild der Maria. Wie überrascht war ich, als ich herausfand, aus welchen Gründen Martin Luther einem zukünftigen deutschen Staatsoberhaupt, Prinz Johann Friedrich von Sachsen (1503–1554), die Meditation des Magnifikats empfahl! In seiner Auslegung zum Magnificat (1520/1521) schreibt der Reformator nämlich, dass er nichts so Effektives gegen schlechte Regierungsführung kenne wie diese Worte Marias. Es ist ein von einer Frau gesungenes Lied, das Luther auswählt, um einen zukünftigen Herrscher auf das Regieren vorzubereiten ... was im 16. Jahrhundert nicht an Kühnheit mangelt! Alles beginnt mit einem Blick. Dem von Gott auf die Menschheit. Aber diese Menschheit muss sich auch anschauen lassen! Nur, wie Luther in seiner Auslegung betont, Gott und die Menschen arbeiten und schauen in entgegengesetzte Richtungen: Gott schaut nach unten, auf das, was ohne Schein ist, auf das, was nicht oder nicht mehr ist, während der Mensch nur versucht, von sich selbst weg zu schauen, indem er seine Augen vom Mangel an Schein, von der Not und der Angst abwendet. Mit dieser Feststellung eröffnet er die Auslegung zum Magnificat: zwei Blicke, die sich unmöglich begegnen können! In dieser Sackgasse zweier Blicke, die sich nicht begegnen können, wird Maria zur Figur und zum Modell der Gläubigen: Sie ist diejenige, die sich anschauen lässt, das heißt sich in ihrer Niedrigkeit, oder besser gesagt in ihrer „Nichtigkeit“, wie der Reformator schreibt, erwählen lässt. Dies ist kein Mangel an Respekt für Maria. Luther will betonen, dass es für einen Menschen unmöglich ist, sich seiner eigenen Demut nicht als Tugend zu rühmen, wenn er sich ihrer bewusst wird. Aber Maria hat keine Angst vor dieser Niedrigkeit. Sie lässt sich auf eine göttliche Logik des Handelns ein, die der menschlichen Logik zuwiderläuft, und wird so beispielhaft für Luther. Maria akzeptiert die Erwählung als Logik eines Gottes, der keine Rücksicht auf Äußerlichkeiten nimmt … ein Gott, der sogar das zu bevorzugen scheint, was ohne äußeren Schein ist, und von dem man den Blick abwendet. In Maria drückt sich die Vorliebe Gottes für diejenigen aus, die nicht beachtet werden. Ausgehend von der Art und Weise, wie Gott Maria anschaut und wie sie sich von ihm anschauen lässt, fordert Luther die Mächtigen und Herrschenden zu einer Gewissenserforschung auf. Er hebt insbesondere die dreifache Versuchung der Macht, des Reichtums und der Ehre hervor, indem er das Gefühl der Maßlosigkeit als die schlimmste Bedrohung für das Herz eines jeden Herrschers anprangert. Die Maßlosigkeit entmenschlicht denjenigen, der Autorität hat, weil sie ihn dazu bringt, Gott und die Menschen, für die er verantwortlich ist, zu verachten, so der Reformator. Maria wird zum Beispiel für Luther, denn obwohl sie das größte Geschenk erhielt, das je einer menschlichen Person zuteilwurde, nämlich zur Mutter Gottes auserwählt zu sein, gab sie diesem Gefühl der Maßlosigkeit niemals nach. „Meine Seele erhebt den Maria: © Jaroslav Drazil. Das Foto ist im Atelier des Würzburger Künstlers aufgenommen. 20 SCHWERPUNKT

Anne-Cathy Graber ist Pastorin und Theologin, Ordensfrau der Kommunität Chemin Neuf und Lehrstuhl-Inhaberin der Ökumenischen Theologie am Centre SèvresFacultés jésuites de Paris (Groupe des Dombes). Herrn“ (Lk 1, 46), lautete ihre Antwort. Maria hat alles von einem anderen empfangen und verweist auf einen anderen als sich selbst. Für Luther bedeutet „Gott verherrlichen“ in erster Linie, sich nichts anzueignen, keine Gabe, keine Funktion, wie groß sie auch sein mag. So sieht er in Marias Art zu sein ein Wunder, das fast so groß ist wie das Wunder, den Messias zu tragen: das Wunder der Entäußerung. Von daher ist es verständlich, dass Luther die Meditation der Worte Marias als Schutz gegen Maßlosigkeit und als Hilfe für eine gute Regierungsführung vorschlägt. Er empfahl, sie täglich zu beten, und sagte, er wisse nichts in der ganzen Schrift, was so nützlich sei wie „dieser heilige Lobgesang der Mutter Gottes“. 21

Konturen eines Lebens Gedanken von Manfred Grimm SJ zu einer Madonna der Künstlerin Hilde Schürk-Fischer Im Treppenhaus der Jesuitenkommunität in Hamburg steht eine wandelbare Bronze-Madonnenfigur der westfälischen Künstlerin Hilde Schürk-Fischer (1915–2008). Eine Seite zeigt die Muttergottes mit dem Jesusknaben, die andere eine Piet . Während meiner Zeit in Hamburg habe ich diese Figur jeden Tag gesehen und mir so langsam eine Deutung dieser künstlerischen Arbeit erschlossen. In der katholischen spirituellen Literatur gilt Maria als Zugang zu Jesus: ad Jesum per Mariam. In vielen Darstellungen der Muttergottes spiegelt sich diese Überzeugung, dass die Verehrung Mariens in letzter Konsequenz nur zu ihrem Sohn hinführen kann. Das Jesuskind thront oft im Schoß seiner Mutter, die ihn als den eigentlichen Träger der Offenbarung präsentiert. Die Plastik Hilde Schürk-Fischers evoziert diese Tradition der thronenden Muttergottes mit Kind, die als sedes sapientiae (Sitz der Weisheit) bezeichnet wird, weil Maria dort eben als Thron der inkarnierten ewigen Weisheit Gottes gezeigt wird. Die Bildhauerin hat die Darstellungskonventionen aber so gewendet, dass ihre Statue nicht mehr hieratisch oder starr wirkt. Es handelt sich hier nicht so sehr um ein Bild der „Gottesgebärerin“ mit dem fleischgewordenen Wort, sondern eine innige und frohe Darstellung einer Mutter mit ihrem Kind. Die Nähe zwischen den beiden Personen zeigt sich darin, wie Maria das Kind auf ihrem Schoß schützend mit beiden Armen umfangen hält, während dieses in den Armen seiner Mutter diese zugleich umfasst. Das Christuskind thront hier weniger, als dass es gehalten wird. Zugleich hält es selbst die Arme seiner Mutter, hilft ihr, ihn zu halten. Wenn man länger hinschaut, entspinnt sich eine Dynamik von Halten und Gehaltenwerden, in der die beiden Bewegungen ineinander übergehen: Maria hält Jesus und Jesus hält Maria. Die Kehrseite dieses heiteren Bildes ist eine Piet , in der das frohe Miteinander der Mutter-Kind-Gruppe völlig aufgelöst ist. Der tote Christus zerfließt gleichsam in den Armen Marias. Er wird nur noch notdürftig von ihr zusammengehalten, die selbst von einer Abwärtsbewegung bestimmt ist. Beide verlieren den Halt und fallen einer einzigen zerfließenden und verwischenden Bewegung anheim. Auch hier spiegeln sich die Emotionen von Mutter und Kind. Die Skulptur zeigt Maria am Anfang und Ende des Lebens Jesu. Die beiden Seiten teilen sich eine Kontur. Freude und Leid der Mutter Gottes sind eingeschrieben in den Umriss ihres einen Lebens. Dazu gehören Momente der glücklichen Nähe und des Haltens genauso wie Schmerz und Verlust. Sowohl die lichten als auch die tragischen Momente des Lebens Jesu teilt Maria mit ihm. Erst alle diese Elemente zusammen geben ein umfassendes Bild und führen zum Geheimnis der Menschwerdung hin. Geistlicher Impuls Manfred Grimm SJ ist gelernter Drucker. 2015 trat er in den Orden ein und studierte Philosophie und Kunstgeschichte in München, bevor er bei der Jugendarbeit der KSJ in Hamburg tätig war. Momentan studiert er Theologie in Paris. 22 GEISTLICHER IMPULS

Bild: © Hilde Schürk-Frisch, Werkaswahl 1940–1994

24 Was macht eigentlich …? P. Joachim Gimbler SJ Alle Lebensstufen und alle Lebensalter hat Pater Joachim Gimbler SJ in seiner Zeit im Jesuitenorden begleitet – von der Kita über die Schule, von jungen Familien bis zu Senioren. Besondere Freude hat ihm immer die Arbeit mit jungen Menschen gemacht. Das hat den 73-Jährigen, der seit 2018 der Obere der Seniorenkommunität Peter-Faber-Haus in Berlin-Kladow ist, jung gehalten. Wie wird man alt? Wie wird man als Jesuit alt? Und wie gehen Menschen mit ihrem Alter um? Diese Fragen beschäftigen Pater Gimbler als Oberen der Seniorenkommunität. Er ist für 20 bis 25 Mitbrüder zuständig, die meisten über 80 Jahre alt. Daneben betreut er noch die Menschen, die für Exerzitien ins Peter-Faber-Haus kommen. „Das Peter-Faber-Haus bietet für die Seniorenkommunität viele Möglichkeiten“, sagt der 73-Jährige. Da ist zum einen der wunderbare Park, aber zum anderen auch die vielfältigen Möglichkeiten für die Bewohner, auch im Alter ihren Lebensstil als Jesuiten beizubehalten. „Das Haus ist unser Eigentum und wir können diese Lebenswelt so gestalten, wie es für uns am besten ist“, erläutert er. So feiern wir jeden Morgen einen Gottesdienst und treffen uns sonntagabends zu einem Fürbittgebet um Frieden für unsere bedrohte Welt. Die gemeinsamen Mahlzeiten, Treffen und Feste bieten vielfältige Gelegenheiten zum Austausch über geistliche wie weltliche Dinge. „Ich lerne hier die Wirklichkeit des Menschseins viel weiter kennen und schätze es, in der Begegnung mit alten Menschen selbst nochmal wachsen zu dürfen. Das Leben zeigt sich hier von einer ganz anderen Seite, von einer Brüchigkeit“, sagt Joachim Gimbler. Zu erleben, wie Menschen mit dem Altwerden umgehen, was es von ihnen fordert und in der Begegnung mit alten Menschen wachsen zu dürfen – „das ist nicht nur ein Job, sondern berührt das, was mich als

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