Jesuiten 2024-1 (Deutschland-Ausgabe)

Unvollkommen So könnte es gewesen sein: Michelangelo (1475–1564), einer der bedeutendsten italienischen Renaissance-Künstler, im Zwiegesprach mit seiner letzten Skulptur, der Pietà Rondanini (1552–1553). Wenn ich meine Hände betrachte … Das ist sie: wohl meine letzte Skulptur. Meine letzte Pietà ! — Maria — und ihr sterbender Sohn Jesus nach der Kreuzabnahme. Pietà – Barmherzigkeit – Mitleid – Erbarmen. Habt Erbarmen mit mir ihr beiden. Meine Kräfte neigen sich zum Ende. Mein Meißel wird eure Gestalt nicht mehr bis zur Perfektion vollendet aus diesem Stück Marmor schälen können. Ist es Zufall, dass ausgerechnet ihr, meine eigene Grabskulptur, „non finito“ – unvollendet – sein werdet? — Warum ausgerechnet ihr? Muss denn alles im Leben Vollendung sein in seiner Existenz? Gott, ... die Welt, meine Kunst ... ich selbst? Nein! So soll alles sein – unvollendet und unvollkommen. In allem habe ich Vollendung gesucht: im Glauben an dich, oh Gott, Maria und Jesus, in meiner Kunst, den Menschen und ja – sogar den unnützen Dingen. Und doch lehrt mich das Leben am Ende nur eines: Nichts ist vollkommen, weder ich noch die anderen. Wir Menschen sind doch alle gleich unvollkommen und dadurch ebenbürtig in unserer Verletzlichkeit. Auch ihr steht nun zum ersten Mal beide auf einer Ebene hier: Maria und Jesus – Mutter und Sohn. Die Mutter bettet nicht mehr den zu ihr zurückgekehrten, sterbenden Sohn in ihren Schoß. Stehend stützt sie dich Jesus am Rücken. Sie versucht dich verzweifelt mit ihrer Hand festzuhalten im Leben, wo du Jesus doch meist frohe Botschaften verkündet hast. Jetzt musstest du das Schlimmste erleiden, was man einem Menschen antun kann. Maria, du bist ohnmächtig in deiner Kraft. Was dir bleibt, ist Trost zu spenden und zu zeigen, wie dringend Liebe ist. Schreite ich nun hinter euch beide, scheinst du, Jesus, deine Mutter zu tragen. Ihr tragt einander, gebt euch Halt in eurer gegenseitigen Verletzlichkeit. Ihr seid euch Stütze. Wie wir Menschen auch so viel mehr einander Stütze sein sollten. Gott ist auch immer die meine. Du gibst mir Kraft, um zu bestehen in dieser unvollkommenen Welt mit meiner eigenen Unvollkommenheit. Erteiltest mir ausreichend viele Lektionen im Alltag, um mich an all meine Unzulänglichkeiten zu erinnern. Scheinst mir leise zuzurufen: „Arbeite an dir. Stell dich in Frage. Sei anderen eine Stütze, so wie ich dir.“ Danke Gott. Du nimmst mich einfach so in deine Arme. – non finito–. Kathrin Harms lebt in Bonn. Am dortigen Aloisiuskolleg ist sie als Studienrätin mit den Fächern Kunst und Französisch tätig. Bild: Michelangelo: Pietà Rondanini; © GFDL 17 SCHWERPUNKT

RkJQdWJsaXNoZXIy MjIwOTIwOQ==