Jesuiten 2011-2

Juni 2011/2 Jesuiten 21 Schwerpunkt Liebesgedicht Die Welt ist dumm Die Welt ist dumm, die Welt ist blind, Wird täglich abgeschmackter! Sie spricht von dir, mein schönes Kind, Du hast keinen guten Charakter. Die Welt ist dumm, die Welt ist blind. Und dich wird sie immer verkennen; Sie weiß nicht, wie süß deine Küsse sind, Und wie sie beseligend brennen. Heinrich Heine, aus dem „Buch der Lieder“ Der große Heinrich Heine, bekannt für seinen Spott über Bürgerlichkeit und namentlich die Repräsentanten von Staat und Religion, hat sich zugleich durch viele innige Liebesgedichte hervorgetan.Wie so oft, schimmert in diesen Gedichten, und so auch in den oben abgedruckten Versen, ein ironischer Unterton durch. Nur der Liebende weiß um die wahren Vorzüge der Geliebten. Die dummeWelt dagegen verkennt sie. Für den liebenden Autor scheint nicht der Charakter ausschlaggebend zu sein, sondern die Süßigkeit der Küsse. Sind ihm durch seine Liebe also die Augen geöffnet oder geblendet worden? Ist wirklich er der Sehende? Wer sieht denn die Geliebte so, wie sie wirklich ist? Eine Antwort auf diese Fragen lässt das Gedicht nicht zu. Was gilt, ist der liebende Blick. Denn mindestens das wird dem Leser unmissverständlich klar: Liebe verändert die Perspektive radikal. Darum ist auch klar: Eine Person, die liebt, kann nicht mehr auf Seiten einer lieblosen Welt stehen. Die Werte der „Außenwelt“, derer, die nicht im Kosmos der Liebenden leben, haben keine Bedeutung mehr – alles wird bestimmt von der Einen. Bei allem, was gesagt wird, ist die Liebe das Zünglein an der Waage – alles muss an ihr vorbei. Die Gründe der lieblosenVernunft, die dieWelt vorbringen kann, treffen den Punkt nicht mehr; „abgeschmackt“ sind sie dem Liebenden. Das findet seine Legitimation in der persönlichen Erfahrung – süße Küsse, die beseligend brennen, sind genug. Doch was ist denn dieses beseligende Brennen? Möglicherweise will der Ausdruck nur sagen, dass Liebeslust und Liebesschmerz nahe beieinander liegen. Denn wenn das Herz geöffnet ist, hat das Glücklichmachende eine solche Macht, dass es auch in die Abgründe des Schmerzes reißen kann. Doch es gibt noch eine zweite Deutungsoption: Jeder Kuss, jede Berührung trägt auch schon Abschied und Ende in sich. So brennt das Verlangen nach mehr – und kann von jedem neuen Kuss, jeder neuen Berührung doch nicht gestillt werden. Trotz allem scheint Heine zu sagen: Besser ein glühendes Herz als dumm wie die Welt. René Pachmann SJ

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