Jesuiten 2011-2

Liebe ISSN 1613-3889 2011/2 Jesuiten

Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Mehr lieben und leben 4 Liebe – nur ein Gefühl? 6 Den Lieben Gott lieben 8 Wie Priester lieben 10 Partner auf dem Weg mit Gott 12 Elternliebe Hirtenliebe 14 Der Missbrauch des Eros 15 Feindesliebe 16 Was bleibt von der Liebe? 18 Liebe liegt im Vertrauen, in der Kraft des Durchhaltens 21 Liebesgedicht Geistlicher Impuls 22 Gotteserfahrung Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 28 Jubilare Verstorbene Medien 29 Hörbuch:Geschichte der Jesuiten Vorgestellt 30 Jugendarbeit im Canisius-Kolleg 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Freunde der Gesellschaft Jesu e.V. Spenden 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2011/2 2011/2 Titelbild © INFINITI

Juni 2011/2 Jesuiten 1 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, In einem Schlager wird die Liebe als ein „seltsames Spiel“ besungen. Dass die Liebe etwas Seltsames und Wundersames ist, darin sind sich wohl alle Menschen einig. Doch ist Liebe nur ein harmloses Spiel? Oft wird doch gesprochen von der Urkraft der Liebe, die das menschliche Miteinander bewegt. Ist sie darin spielerisch oder angesichts ihrer lebensbestimmenden Dynamik nicht doch todernst? Oder ist die Leichtigkeit, die sie manchem Handeln verleiht, das Eigentliche der Liebe? Ob Spiel oder Ernst – für die christliche Tradition ist die Rede von der Liebe von größter Bedeutung. Allerdings nimmt christliche Verkündigung das große Wort von der Liebe oftmals so unbedarft in den Mund, dass es manchmal nur noch schwer zu ertragen ist. Bisweilen wird dann das eine deutsche Wort für völlig unterschiedliche Kontexte und Bedeutungen gebraucht. In der vorliegenden Ausgabe unserer Publikation JESUITEN wollen wir einige dieser Kontexte näher anschauen: Wie steht es mit der abstrakten Liebe zum Nächsten, wenn sie konkret werden soll? Was sagt Ignatius von Loyola zu liebevoller Kommunikation? Soll ich Gott auf die gleicheWeise lieben wie meinen Partner? Kann nach den Aufdeckungen von sexuellem und Machtmissbrauch noch von pädagogischer Liebe zu Kindern gesprochen werden? Wenn wir Christen von Liebe sprechen, sind damit zugleich hohe Ideale verbunden: Liebe auf Dauer im christlichen Eheverständnis; „Liebe“ auch zu dem, der mir als Feind gegenüber steht; einen Gott lieben, der unsichtbar bleibt; Enthaltung vom körperlichen Ausdruck der Liebe für Kleriker und Ordensleute; an die Liebe Gottes zum Menschen zu glauben, auch wenn die Welt in Flammen steht und von einem liebenden Gott nichts zu spüren ist. Es liegen also eine Menge Fragen und Anregungen vor, zu denen wir hoffen, Ihnen heitere und ernste Beiträge in einem spannenden Thema präsentieren zu können. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre. Holger Adler SJ René Pachmann SJ Martin Stark SJ

2 Jesuiten Schwerpunkt: Liebe Schwerpunkt Mehr lieben und leben „Liebe ist nicht nur ein Wort, Liebe das sind Worte und Taten.“ Wenn Jugendliche dieses Lied singen, wissen sie ganz genau, was damit gemeint ist und worauf es ankommt. Allerdings ahnen nur wenige, dass es seinen Ursprung in den Geistlichen Übungen hat. Am Ende von Exerzitien drückt sich die Frucht der Exerzitien darin aus, worin man imVerlauf des Prozesses gewachsen ist. Mit der letzten Übung, der Betrachtung, um Liebe zu erlangen, fasst der Übende die Zeit der Stille und des Gebets zusammen, um ausgehend davon sein Leben und seinen Alltag zu gestalten. Die erste und wichtigste Erkenntnis dabei lautet: „Die Liebe muss mehr in die Werke als in die Worte gelegt werden.“ (GÜ 230) Der Bildungsprozess der Geistlichen Übungen muss demnach von der Ein-Bildung zur Aus-Bildung, vom Ein-Üben zum Aus-Üben übergehen. Liebe, die einer in den Exerzitien empfangen und die ihn durchdrungen, gestärkt, geformt und gewandelt hat,muss danach getan und ins Werk gesetzt werden. Als Zweites soll man erkennen, dass „Liebe in Mitteilung von beiden Seiten besteht: dass der Liebende dem Geliebten gibt und mitteilt, was er hat, oder von dem, was er hat oder kann; und genauso umgekehrt der Geliebte dem Liebenden“. (GÜ 231) Geistliche Übungen sind also dazu da, die Liebe Gottes und zu Gott zu erleben und diese beiderseitige Liebe leben zu lassen, indem man sich hingibt im Dienst an den Nächsten. Gegen Ende der Schulzeit machen die meisten unserer Schüler Besinnungstage, bei denen sie darin eingeführt werden, was Exerzitien sind. Die Kurzformel dieser Zeit der Einkehr lautet: „Mehr leben“ und „Mehr lieben“.DieseWorte sind Zuspruch und Anspruch zugleich: Mehr lieben, das bedeutet für einen Jugendlichen, sich als von Gott und seinen Mitmenschen geliebt und angenommen zu erfahren. Ausgehend davon ist es ihm möglich, das, was er empfangen hat, mehr und mehr einzustudieren und auszuprobieren, sich ein-zuüben in seinem Wissen, seinen Fähigkeiten und seinen Eigenschaften und dies auch aus-zuüben, indem er das Gute,Wahre und Schöne verinnerlicht und es zugleich anderen in Wort und Tat mitteilt. Er greift dann aus Liebe nach den Sternen, wenn er nicht allein für sich und nach seinem eigenenVorankommen strebt, sondern nach der größeren Ehre Gottes, die untrennbar mit der Nächstenliebe zusammenhängt und ihren Ausdruck findet in der Solidarität mit den Benachteiligten sowie im größeren Einsatz für seine Mitmenschen. Soll die Liebe mehr in die Werke als in die Worte gelegt werden, bedarf es der discreta caritas: Das Kriterium der klugen Liebe hilft, beim Handeln weder in übertriebenen Aktionismus bzw. erhitzten Übereifer zu verfallen noch in erkaltete Routine bzw. leidenschaftslose Gleichgültigkeit zu geraten. Mehr leben, das bedeutet für einen Jugendlichen, eine gewandelte und veränderte innere Haltung gegenüber der Realität und seinem Dasein als Ganzem einzunehmen. Diese Haltung drückt sich darin aus, dass er interessierter ist an den Phänomenen,Abläufen und Zusammenhängen der natürlichen Dinge, dass er

Juni 2011/2 Jesuiten 3 wacher ist für die Fragen und Herausforderungen seiner Zeit und dass er aufmerksamer ist für die Würde und Einzigartigkeit seiner Mitmenschen, für deren Fähigkeiten und Freuden, Bedürfnisse und Nöte. Mehr zu leben, zielt darauf, nicht allein quantitativ,sondern qualitativ mehr zu er-leben, also auf intensivere Weise Lebensfreude und Heiterkeit, Offenheit und Freiheit,Vitalität und Zukunft zu erfahren – und diese anderen mitzuteilen und dabei zu helfen, auch ihnen solche Erfahrungen zu ermöglichen. Mehr zu leben, beinhaltet auch ein Weniger an Stress, Leistungsdruck und Konkurrenz, um befreiter „aufspielen“ zu können und dem Leben und dem, was es bringt, freier und offener zu begegnen. Schließlich wird der Jugendliche mehr leben und er-leben,wenn er nach der cognitio interna strebt und danach sucht und fragt,was „hinter den Dingen“ steht, was sie zuinnerst zusammenhält, wozu sie geschaffen wurden und wofür sie bestimmt sind. Er lernt dabei, die Wirklichkeit intensiv und dicht an sich herankommen zu lassen und sie zu verarbeiten bzw. zu vermitteln. Ihm wird klar: Ohne diesen Spür-Sinn für Wirklichkeit weiß man vielleicht viel und ahnt doch nichts.Wer nach dem wahren Leben sucht, berührt damit die Frage nach Gott als dem Schöpfer, Bewahrer und Vollender allen Lebens, der in Jesus Christus den Menschen ewiges Leben verheißen, angeboten und geschenkt hat. Jugendliche streben nach Leben und sehnen sich nach Liebe. Es genügt ihnen nicht, allein über Liebe zu sprechen. Sie wollen mehr. Sie wollen Liebe spüren und tief empfinden. In diesem Sinne sind Jugendliche Existentialisten, die sagen: „Wo die Liebe das Leben von innen heraus prägt und verwandelt, wo sie also getan, gegeben und riskiert wird, dort erst kommt Liebe zur Erfüllung und dort erst ist Leben wirklich lebenswert.“ Philipp Görtz SJ © focus finder

Schwerpunkt Liebe – nur ein Gefühl? „Dilige et quod vis fac“: Liebe, dann tu was du willst. So schreibt Augustin von Hippo in seinem WerkIn epistulam Ioannis ad Parthos (VII, 8). Aber, was ist sie, die Liebe? Ist sie Gefühl, ist sie Trieb, und ist sie – oder dasVerliebtsein – nicht mehr als eine chemische Reaktion? Die junge Frau, die am anderen Ende der Welt lebt und sich nach der Nähe ihres Geliebten sehnt, der unendlich weit von ihr entfernt seinen Lebensmittelpunkt hat. Liebe? Der Mann, der unablässig die Nähe der Frau sucht,die sich von ihm trennte. Liebe? Der Mensch, der die Zahl seiner sexuellen Kontakte im Monat addiert. Liebe? All das mag von Einzelnen als Liebe aufgefasst werden. Scheinbar gibt es eine unendliche Fülle von Möglichkeiten, Liebe wahrzunehmen. Diese Fülle spricht nicht gerade dafür, den Begriff von Liebe zu vereinheitlichen, und macht es schwer, ihn zu reduzieren auf eine romantische Emotion, einen Trieb oder etwas Ähnliches. Aus sozialpsychologischer Rücksicht könnten wir versuchen, uns dem Phänomen der Liebe aus drei Perspektiven zu nähern:Von der Intimität,der Leidenschaft und der Bindungsfähigkeit aus. Intimität stellt eine Verbindung zu Vertrauen,Respekt und Selbstöffnung dar.Leidenschaft verknüpft das Thema der Liebe mit euphorischen Gefühlen oder auch mit Sexualität. Bindung thematisiert, wie viel Zeit und Energie man in die Partnerschaft investiert und dass die eigenen Belange zurückgestellt werden können. In der klassischen Psychoanalyse wird Liebe als restlos eigennützig aufgefasst.Hier hält das Objekt lediglich dazu her, dem Subjekt Befriedigung zu verschaffen. Melanie Klein, eine Begründerin der Kinderanalyse, die die klassische Psychoanalyse Freuds weiterentwickelte, vertrat die Auffassung, dass schon dem Neugeborenen von Anbeginn ein hohes Maß an Liebesfähigkeit zur Verfügung stehe. Bei der Beobachtung eines Neugeborenen in seiner normalen häuslichen Umgebung mit den ersten Bezugspersonen gelangte ich zu der Erkenntnis, dass die Befriedigung des kleinen Kindes sowohl mit der Mutter als dem Objekt, welches die Nahrung vermittelte, in Verbindung gebracht wurde, wie auch mit der Nahrung selbst. So hat das kleine Mädchen sowohl die nährende Milch als lebensspendend empfunden als auch die Mutter. Schon in dieser Phase kann das heranwachsende Kind die so wichtige Fähigkeit entwickeln, die Mutter auch dann als lebensspendend und gut zu erleben, wenn sie einmal abwesend und die Bedürfnisse nicht unmittelbar zu befriedigen in der Lage ist. Ein wesentlicher Aspekt von Liebe könnte also darin bestehen, dass sie dem „nicht-idealen Objekt“ gilt; einem „guten Objekt“, welches auch dann angenommen werden kann, wenn wir in ihm Fehler und Mängel erkennen, und trotzdem die Liebe nicht unvermittelt in Hass umschlägt. Emotionale Stabilität, Anteilnahme, Versöhnlichkeit und Dankbarkeit sind Charaktereigenschaften, die sich unverbrüchlich mit dem verbinden lassen,worin „Liebe“ sich beschreiben und erfahren lässt. Meint Augustin dies, wenn er von „Liebe“ spricht? Kann sie Ermöglichungsgrund eines begegnungsfähigen Handelns sein? Liebe scheint also weit mehr als nur ein Gefühl, eine Emotion, eine Bedingungsmöglichkeit zur Fortpflanzung oder lediglich ein Feuern von Synapsen, welches Regungen erzeugt. Marco Mohr SJ 4 Jesuiten Schwerpunkt: Liebe

Juni 2011/2 Jesuiten 5 © Dia-Dienst

6 Jesuiten Schwerpunkt: Liebe Schwerpunkt Den Lieben Gott lieben Als ich über die Liebe zu Gott nachdachte, ob und wie sie möglich sei, kam mir wieder ein Lied der amerikanischen Band Lifehouse in den Sinn. Bevor die Musikgruppe im Radio bekannt wurde, hatte sie ihre Auftritte in Kirchen und Gemeindesälen. So ist es nicht verwunderlich, dass in manchen ihrer Liedzeilen auch religiöse Themen anklingen, wie beispielsweise in den folgendenVersen des Songs „Everything“ (Übertragung ins Deutsche von P. K.): Wer sich bei YouTube einen Live-Mitschnitt dieses Songs anschaut, kann sich schnell davon überzeugen, dass die Fans von Lifehouse ihn als große Liebeserklärung an sie verstehen und entsprechend mitfeiern. Diese Interpretation wird dem Lied auch am ehesten gerecht. Doch beeindrucken mich die Bilder wie: Du bist die Kraft, die Hoffnung, das Licht usw., du gibst Ruhe im Sturm und nimmt mir den Atem. Wer ist wie dieses „DU“, von dem gesungen wird? Ist ein Mensch dazu realistischerweise in der Lage? Erinnern mich als Christ die Stichworte nicht berechtigt an Gott? Und hier spricht mich besonders an, dass die Beziehung nicht nur mit allgemeinverständlichen und vertrauensvollen Bildern beschrieben wird, sondern auch auf atemberaubende Erfahrungen eingegangen wird. Das ist mir auch in derVerbindung zu Gott wichtig. Wenn ich von der Liebe zu Gott spreche, so nicht nur in verklärenden Worten, sondern besser in realistischen, manchmal sogar schweren. Ich habe erkannt, dass ich Gott noch nicht liebe, wenn ich meine, dass ich Gott brauche und Gott für mich alles ist. Auch in der übernatürlichen Vertrautheit zu Gott will ich ganz natürliche Ausdrucksweisen von total Liebenden aufgreifen dürfen. Ich will auf Gott hin sagen können, dass ich „Dich mit allen Fasern meiner Existenz er– spüren möchte“, dass ich mich gern von Gott bewegen lasse oder erleben will, von Gott berührt zu werden. Es passiert, dass ich auf dem Weg zum Supermarkt spontan ein Liebeslied ganz leise vor mich hin summe und zugleich ganz laut im Du bist die Kraft, die mich gehen lässt. Du bist die Hoffnung, die mirVertrauen schenkt. Du bist das Licht zu meiner Seele. Du bist mein Ziel, du bist alles. … Du beruhigst den Sturm und du gibst mir Rast. Du hältst mich in deiner Hand und wirst mich nicht fallen lassen. Du stiehlst mein Herz und nimmst mir den Atem. Würdest du mich aufnehmen? Nimm mich vollkommen auf. … Und wie kann ich hier stehen bei dir und nicht von dir ergriffen sein? Würdest du es mir erklären? Wie kann es noch irgendwie besser sein als so? Denn du bist, was ich wünsche. Du bist, was ich brauche. Du bist alles, einfach alles.

Juni 2011/2 Jesuiten 7 Herzen singe oder mich im größten Getriebe des Alltags plötzlich zurücknehme, weil ich mich von Gott angerührt fühle. Abgesehen von diesen spontanen Momenten der Gottesbegegnung braucht meine Liebe zu Gott jedoch jeden Tag eine Zeit, die nicht geprägt ist vom Erledigen einer Aufgabe oder dem Voranschreiten auf meiner Karriereleiter. Diese Zeit hat eventuell gar keinen tieferen Sinn, als einfach von mir aus immer wieder denVersuch zu starten, Gott nahe zu sein. Und weil es oft nur ein Versuch ist, der nicht automatisch ein Ergebnis aufweist, ist eine gelungene Zeit mit Gott, in der ich mich von Gott bewegt fühle, ein besonderes Geschenk. Dann schwingt in mir Gottes Liebe, dann erahne ich Gottes Zuneigung, und ich kann leicht eine persönliche Antwort formulieren. Diese meine Antwort unterstreicht, was ich Liebe zum „Lieben Gott“ nenne. Petrus Köst SJ © Dia-Dienst Im Auge des Sturms

8 Jesuiten Schwerpunkt: Liebe Schwerpunkt Wie Priester lieben Freiheiten und Grenzen Wie liebt der zölibatär lebende Priester – und wie liebt er besser nicht? Denken Sie,wenn Sie „Priester“ und „Liebe“ hören, als erstes an Skandale und Heimlichkeiten? Jeder hat mal gehört vom Seminaristen X, der es mit dem Zölibat nicht so genau nimmt, von PaterY, der eine homosexuelle Beziehung pflegt, und von Pfarrer Z, der mit einer langjährigen Lebensgefährtin zusammen lebt. Um all das geht es hier nicht. Und es geht auch nicht darum, dass der Priester sich mühen möge, Gott aus ganzen Herzen zu lieben und den Menschen, mit denen er als Seelsorger oder als Dienstgeber zu tun hat, gut zu sein. Ich will etwas dazu sagen, wie ein Priester in nahen Beziehungen Liebe leben kann. Intimität und Transzendenz Dabei setze ich voraus:Jeder Mensch und folglich auch jeder Priester benötigt für eine gute menschliche und geistliche Entwicklung Erfahrungen von Intimität und Transzendenz. Mit „Intimität“ meine ich beim zölibatären Priester natürlich nicht genitale Intimität. Sondern ich denke an nahe und bedeutungsvolle Beziehungen, in denen er so sein kann, wie er wirklich ist, also ohne Masken und ohne dass er vorrangig in seiner beruflichen Rolle und seiner kirchlichen Funktion gesehen wird. In wirklichen Freundschaften wird der Priester seine eigenen Zweifel und Unsicherheiten ausdrücken und mit den Menschen teilen können, die ihm als Freundinnen und Freunde geschenkt sind.Wenn er einen guten Kontakt zu seinen Gefühlen hat, auch zu den herzlichen und zärtlichen, wird er sie situationsund menschen-angemessen ausdrücken können.Wo das nicht möglich ist, wird er wegen des Wertes seiner priesterlichen Berufung auf ihre Befriedigung verzichten. Überflüssig zu sagen, dass er die Nähe anderer und die liebevollen Gefühle anderer ihm selbst gegenüber nicht missbraucht als Bausteine für die eigene Identitätsentwicklung. Konzentrische Kreise Man kann sich bildlich die Beziehungen, die ein Mensch lebt, wie vier umeinander liegende Kreise vorstellen. Im innersten Kreis ist für jemanden, der verheiratet ist, die eigene Familie angesiedelt. Man bildet miteinander eine gemeinsame Lebensgeschichte. Das geht mit allzu vielen Menschen schon deswegen nicht, weil dazu die Kräfte nicht reichen. Der zweite Kreis drum herum ist der Freundeskreis. Mit seinen Freunden bildet man keine gemeinsame Lebensgeschichte.Aber man begegnet sich immer wieder und teilt Freud und Leid miteinander. Im dritten schon mehr äußeren Kreis sind Bekannte und Arbeitskollegen. Experten sagen, dass ein Mensch maximal 150 andere Menschen näher kennen kann.Wer auf seiner Facebook-Seite feststellt:„ich habe 2.147 Freunde“, hat also einen etwas anderen Begriff davon. Und im vierten und äußersten Kreis findet sich die Öffentlichkeit. Beim Priester bleibt der innerste Kreis leer. Er führt als Zölibatärer mit niemandem eine intime Partnerschaft und bildet in diesem innersten Kreis mit niemandem eine gemeinsame

Juni 2011/2 Jesuiten 9 Lebensgeschichte. Manchmal hört man sagen: Beim Priester sei Gott in diesem innersten Kreis zuhause. Ich halte es für Ideologie, wenn man sagt, Gott fülle die Lücke aus. Er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie gerade unausgefüllt. Gott ist der tragende Grund aller menschlichen Beziehungen und kein Lückenbüßer für fehlende menschliche Nähe. Es gibt auch nichts, das dem Priester die Abwesenheit eines geliebten Menschen ersetzen kann, und man soll das auch gar nicht versuchen; man muss es einfach aushalten. Das mag zunächst sehr hart klingen, aber es ist zugleich ein großerTrost. Denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, verweist sie den Priester darauf, dass er diejenige Erfüllung, die er sich vielleicht erträumt, nirgendwo in dieser Welt finden wird. Lieben wie Jesus von Nazareth Der Priester wird sich in der Weise, wie er seine Liebesfähigkeit lebt und „Liebesbeziehungen“ gestaltet, an der Person Jesu ausrichten. Jesus kannte keine Berührungsängste. Er war fähig zu tiefen Gefühlen und drückte sie differenziert und situations-angemessen aus. Für Jesus gab es auch keinenWiderspruch zwischen der Liebe zu Menschen und der Liebe zu Gott.In unserer menschlichen Sicht mögen wir vielleicht annehmen: je mehr wir Gott lieben, desto weniger Platz in unseren Herzen wäre für die Liebe zu einem Menschen oder zu den Menschen – oder umgekehrt: wenn wir einen Menschen aus ganzem Herzen lieben, dann wäre da immer weniger Platz für Gott. In der Sichtweise Jesu trifft genau das Gegenteil zu. „Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten – ein neues Gebot gebe ich euch: liebt einander – daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr einander liebt“, sagt er seinen Jüngern: Gottes- und Nächstenliebe durchdringen sich und interpretieren sich gegenseitig, ohne in eins zu fallen. Sie sind „unvermischt und ungetrennt“. Hermann Kügler SJ © jarna Konzentrische Wellen

10 Jesuiten Schwerpunkt: Liebe Schwerpunkt Partner auf dem Weg mit Gott Gottes- und Nächstenliebe in der Ehe Ein Interview mit dem Ehepaar Magdalena und Alexander Schlüter (Paderborn) Für christliche Ehepaare sollte es ein Leichtes sein, das Doppelgebot Jesu zu erfüllen: Liebe zu Gott und zum Nächsten können gut Hand in Hand gehen.Wie seht Ihr das? Magdalena: Nächstenliebe heißt für mich gar nicht als erstes, dass ich meinen Mann liebe, sondern vor allem meine Mitmenschen. Ich verstehe das als eine liebende Hinwendung zu allen Menschen, zu den Nachbarn, den Leuten, denen ich auf der Straße begegne. Alexander: Liebe zwischen Ehepartnern meint ja auch etwas anderes als Nächstenliebe. Quasi zwei unterschiedliche Erscheinungsformen von Liebe. Klassisch ausgedrückt: Caritas und Eros. Und zur Nächstenliebe ruft Jesus uns gemeinsam mit der Gottesliebe auf.Also zu etwas viel weiterem, umfassenderen als nur zur Liebe des Partners. Magdalena: Genau, das ist auf jeden Fall weiter zu verstehen als nur auf den Partner hin.Ihn zu lieben ist gut und schön – aber es geht eben nicht nur um den Nächsten, der neben mir auf dem Sofa sitzt. Nächstenliebe heißt natürlich irgendwie auch, dass ich meinen Mann liebe. Er ist auch mein Nächster – aber nicht der Einzige. Würde Eure Ehe anders aussehen, wenn Ihr keine Christen wärt? Magdalena: Wir haben standesamtlich im Juni, kirchlich aber erst im Oktober geheiratet.Ehrlich gesagt: Ich fühlte mich in dieser Zwischenzeit noch gar nicht verheiratet.Mich verheiraten:das mache ich doch nicht vor einer Beamtin, sondern vor Gott. Die staatlichen Gremien sind mir mehr oder weniger egal – wichtig ist, dass wir vor Gott ein Paar geworden sind.Für immer und bis der Tod uns scheidet. Damit ist es mir ernster. Andere meinen es sicher auch ernst – aber ich bin mir sicherer.Mit demVersprechen,dass wir uns vor Gott gegeben haben, kann ich vertrauen, dass wir seine Hilfe haben für unsere Partnerschaft. Ich muss das nicht allein tun, mich z.B. ständig gut stellen oder mich hübsch anziehen, um meinem Mann zu gefallen und damit zu verhindern, dass wir auseinander gehen. Ich kann vertrauen, dass wir uns aufeinander eingelassen haben und dass dies etwas Echtes, Festes ist, um das ich nicht ständig kämpfen muss. Dem Partner kann man Zeit oder Aufmerksamkeit schenken.Wenn man aus einer Paarbeziehung auf Gott schaut:Was kann man Gott schenken? Alexander: Natürlich auch Zeit und Aufmerksamkeit – da ist für mich kein großer Unterschied. Auch bei einer Betrachtung oder geistMagdalena Schlüter

Juni 2011/2 Jesuiten 11 lichen Lektüre bin ich ja vor Gott da und schenke ihm Zeit. Wahrscheinlich freut Er sich weniger über Blumen als meine Frau. Paulus spricht davon, dass ein Ehemann ein geteiltes Herz habe und sich zwischen Gott und den Bedürfnissen seiner Frau entscheiden müsse. Ist das so? Alexander: Ich glaube, Paulus hatte eine Art finsterer Sirene im Kopf, die den Mann vom rechten Pfad abbringen will.Alles muss auf die Ankunft des Reiches Gottes vorbereitet werden, da erschien ihm eine Frau wohl eher hinderlich. Ich kann diese Einschätzung nicht teilen, da ich in meinem Leben nicht diese unterschiedlichen Richtungen sehe – meine Frau zieht mich nicht in die eine, der Herr in die andere Richtung.Wir sind eher ein Team auf demselben Weg. Magda ist nicht ein anderer Weg, keine andere Option – sondern ein Partner auf dem Weg. Magdalena: Ich unterschreibe das. Habt Ihr eine gemeinsameWeise,Eure Gottesbeziehung zu pflegen? Magdalena: Am wichtigsten ist mir, dass wir sonntags gemeinsam in die Kirche gehen – auch mit Kind. Der Kleine ist dann zwar manchmal unruhig, vielleicht wäre es manchmal besser und unserer Andacht förderlicher, nacheinander einzeln und ohne ihn zu gehen. Aber ich möchte,dass wir gemeinsam vor Gott stehen – als Paar und auch als Eltern. Und – kann ich das erzählen? – bei einem Urlaub in Schottland hatte ich einmal solche Angst,ob wir bei demWetter wieder in die Zivilisation zurückkommen. Und ich war schon total fertig.Da habe ich zuAlex gesagt:Komm, wir beten jetzt. Dann haben wir gemeinsam den Engel des Herrn gebetet.Das war wirklich ein Halt im Gebet, gerade in dieser Angst in derWildnis.Wir beten sonst eigentlich nur die Tischgebete gemeinsam, was mir im Übrigen auch sehr wichtig ist.Aber in schwierigen Situationen stärkt ein gemeinsames, ausgesprochenes Gebet noch einmal auf seine ganz eigene Weise. Seit einigen Monaten seid Ihr Eltern. Hat Euer Sohn Eure Gottesbeziehung verändert? Magdalena: Für mich war vor der Geburt eine sehr marianisch geprägte Zeit. Ich war eine Weile vor der Geburt schon im Krankenhaus und hatte dort einige Zeit – auch zum Nachdenken. Da war mir Maria in ihrer Mütterlichkeit besonders nah. Auf ihre Fürsprache habe ich für die Geburt gezählt. Alexander: Bei mir hat er vor allem Staunen ausgelöst – und er löst immer noch Staunen aus. Wie im Psalm: „Staunenswert sind deine Werke, o Herr“ – da steh ich immer noch, staunend und einfach in großer Dankbarkeit. Die Fragen stellte René Pachmann SJ Alexander Schlüter

12 Jesuiten Schwerpunkt: Liebe Schwerpunkt Elternliebe Auf dem Weg in den Urlaub hatten wir unsere Tochter zu ihrem ersten Studienort begleitet. Am nächsten Tag wollten wir ohne sie weiter fahren. Plötzlich spürten wir große Traurigkeit und hatten das Gefühl, unser Kind alleine zu lassen. Auf der Weiterfahrt saßen wir schweigend und gedankenversunken im Auto nebeneinander und fanden lange keineWorte.In großer Dichte erlebten wir, was uns seither immer wieder begegnet. Nahe neben der Freude über den eigenenWeg der Kinder liegen Sorgen und manchmal Ängste darüber, ob er ihnen gelingt und es ihnen dabei gut geht. Elternliebe heißt hier, uns die eigenen Wahrnehmungen mitzuteilen und gut zu prüfen, was wir weitergeben. Zwei Jahre später zog unser Sohn aus. Obwohl unsere Kinder immer wieder nach Hause kommen, waren wir als Eltern jetzt allein. Zunächst zögerlich und in kleinen Schritten lernen wir seither wieder mehr Eigenes zu entwickeln – jeder für sich und als Paar. Jetzt freuen wir uns, unsere Kinder in ihren eigenen vierWänden zu besuchen und entdecken sie neu. Der veränderte Kontakt ermutigt, mit der eigenen Unsicherheit umzugehen und die Kinder in ihre Freiheit zu entlassen. Das eigentümliche Pendeln zwischen eigenen Bedürfnissen und den weiter bestehenden Anfragen an das Elternsein holt uns im Alltag wieder ein. Trotz zunehmender Eigenständigkeit sind wir nach wie vor mit „Rat undTat“ gefragt und schaffen Raum für Geborgenheit. Ein liebendes und oftmals schmerzliches Loslassen gelingt uns im Glauben daran, dass jeder in seiner Einzigartigkeit gerufen ist, die er zunehmend in Freiheit für sich selbst beantworten muss und dabei von Gott geführt wird. Burkhard und Eva Betz Hirtenliebe Im Noviziat träumte ich von meinen Einsätzen als Jesuit. Nur zwei Aufgaben wollte ich nicht: Jugend- und Pfarrarbeit. Und was habe ich unter meinen 40 Priesterjahren in Schweden gemacht? Jugend- und Pfarrarbeit! Ich bin dankbar dafür. So sinnvolle Aufgaben, so bereichernde Beziehungen, so viel Freude! Im NeuenTestament wird Kirche meistens mit vier Worten gekennzeichnet: Gottesdienst (leiturgia), Gemeinschaft (koinonia), Hilfe (diakonia) und Zeugnis (martyria). Das bedeutet für die Citypfarrei St. Eugenia in Stockholm ein Mosaik von verschiedensten Aufgaben. Priorität hat das Gotteslob. Danach kommen die Menschen: eine multikulturelle Gemeinschaft zu bilden aus den 80 Nationen, sich um Bedürftige in der Stadt und weltweit zu kümmern und in unserer entchristlichten Gesellschaft ein Schaufenster von Kirche zu sein. St. Eugenia liegt am Kungsträdgården, dem vermutlich zentralsten Platz in Schweden,was eine einzigartige Chance darstellt. Mit dieser Aufgabe muss ich das große Wort „Liebe“ ausbuchstabieren in viele kleine Worte: mitfühlen und mitleiden, respektvoll zuhören, meine Zeit verschenken, vertrauensvoll delegieren, geduldig erklären, bessere Auffassungen akzeptieren, zielgerecht arbeiten, Problemen nicht ausweichen, ermuntern und loben usw. Als Pfarrer muss ich wie ein Jongleur ständig mehrere Bälle in der Luft haben. Das Seelsorgsgespräch und das Planen von Visionen und vieles andere lösen einander ab.Ich bin „kyrkoherde“, Kirchen-Hirte, wie man auf Schwedisch sagt: Das bezeichnet eine verantwortliche Aufgabe, obwohl ich nicht mehr als ein Assistent für den Guten Hirten sein kann. Klaus Dietz SJ

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14 Jesuiten Schwerpunkt: Liebe Schwerpunkt Der Missbrauch des Eros Es waren die Theorien und die Praktiker der Reformpädagogik, die in ihren Konzeptionen und Strukturen den ursprünglich auf Platon zurückgehenden Begriff des „pädagogischen Eros“ im 20. Jahrhundert wieder in den Vordergrund rückten. Beschrieben wird damit eine innere Haltung des Erwachsenen, in der er sich dem Jugendlichen frei von Eigennutz und zum Ziel seiner Bildung zuwendet. Dann wurden im letzten Jahr Fälle sexuellen Missbrauchs gerade auch in reformpädagogisch orientierten Schulen bekannt, also dort, wo Verantwortliche gerne und häufig vom „pädagogischen Eros“ redeten und Ästhetik und Körperlichkeit eine besondere Bedeutung hatten. Plötzlich drängte sich der Verdacht auf, dass hier eine gegenüber dem Ursprung verfälschte Deutung des Begriffs als Legitimation für Missbrauch und Gewalt benutzt wurde. Es erscheint mir nicht alsVerlust für die Pädagogik und für das erzieherische Handeln, wenn der Begriff nun in der Folge aus der Diskussion verschwindet. Zu diffus ist schon in den griechischen Anfängen die Abgrenzung zu Pädophilie und Päderastie, zu leicht führen heutige Assoziationen beim Stichwort „Eros“ auf gefährliche Irrwege.Vor allem für asymmetrische und deshalb besonders heikle Beziehungen sind solche Unklarheiten Gift. Alle Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden und grundsätzlich zwischen Erwachsenen und Kindern müssen in ihren Motiven klar und reflektiert sein. Das gilt auf jeden Fall für den beteiligten Erwachsenen, der in einer solchen Situation immer eine besondereVerantwortung trägt. Liebe zum Kind Schwierig und riskant, aber für mich persönlich unverzichtbar bleibt hingegen die Rede von der „Liebe zum Kind“, auch im Raum außerhalb der Familie: Schwierig und riskant, weil sie so leicht verwechselbar ist.Angebliche Liebe zum Zögling wird angeführt und ist doch nur einVorwand für brutalste Egoismen. Dabei ist Liebe doch gerade das Bemühen um das Gegenteil aller Egoismen. Eigentlich meint Liebe zum Kind die entschiedene Haltung, jede Manipulation zu vermeiden: Bei allem Hoffen, Bangen und Mühen darf sich das Kind und der Jugendliche nach eigenem Willen entwickeln und ist nicht dazu da, meine Erwartungen oder Bedürfnisse zu erfüllen. In der Liebe des Schöpfers zum Geschöpf kann Erziehung dafür ein Modell finden. Und ebenso kann gelingende christliche Erziehung ein glaubwürdiges Zeugnis sein für den liebevollen Respekt, den der Schöpfer seinem Geschöpf entgegenbringt. Axel Bödefeld SJ

Juni 2011/2 Jesuiten 15 Schwerpunkt Feindesliebe Liebe kann zärtlich und romantisch sein.Aber die Liebe, die uns das Evangelium vorlegt, ist es nicht immer. Sie kann schmutzig und blutig sein, wie der Körper dessen, den der barmherzige Samariter am Wegrand aufliest. Sie ist Kräfte zehrend, wie das Aushalten des Mitchristen in der Gemeinschaft, an dem einem fast alles gegen den Strich geht. Sie ist widersinnig, wie die Vergebung für den, der einem die Pistole an die Schläfe setzt, um das Leben zu nehmen. Es ist die Trias von Nächstenliebe zum Bedürftigen, Geschwisterliebe zum Mitchristen und Feindesliebe zum Mörder. Drei ganz verschiedene Formen der Liebe, die uns das Evangelium lehrt. Und doch hängen sie im Tiefsten zusammen, weil sie auf dem Vertrauen zu Gottes Liebe in uns aufbauen. „Von Göttern und Menschen“ war 2010 der erfolgreichste Film in den französischen Kinos, er lief auch in Deutschland. Er versucht die Geschichte der sieben Mönche einesTrappistenklosters in Algerien zu erzählen, die 1996 mutmaßlich von islamistischen Gruppen entführt und ermordet wurden. Der ruhige, fast stille Film kann ahnen lassen, dass und wie die drei Formen der Liebe zusammenhängen. Nächstenliebe war für die Mönche, einem Volk treu zu bleiben, das von vielen mit Verachtung belegt worden war. Auch das ist eine Form, sich als Nächster dessen zu erweisen, der unter die Räuber geraten ist. In einem letzten Brief dankt der Trappistenprior Gott, „und auch Du bist eingeschlossen, Freund meines letzten Augenblicks, der Du nicht weißt, was Du tust!“ – Feindesliebe. Fähig zur Liebe werden die sieben aber in dem treuen Miteinander geschwisterlicher Liebe in einer betenden Gemeinschaft. Martin Löwenstein SJ

16 Jesuiten Schwerpunkt: Liebe Schwerpunkt Was bleibt von der Liebe? Seit der Schulzeit bin ich mit Franz befreundet; ich wusste auch um Inge, die er sehr früh liebte und von der er ein Kind bekam. Später heirateten die beiden, vielleicht zu früh. Aber gemeinsam haben sie dann zwei gescheite, liebenswerte Kinder groß gezogen. Die Wege der Ausbildung und des Berufes haben uns für einige Zeit auseinander gebracht. Aber in einer süddeutschen Stadt begegneten wir einander neu; ich wurde Freund der Familie und fühle mich bei Inge, Franz und den beiden Kindern freundschaftlich aufgenommen. Ich verheiratete die Kinder und taufte die nächste Generation. Irgendwann kam Franz zu mir als Freund, aber vielleicht auch als Priester. Er gestand mir, dass er nach dem Fall der Mauer durch seineTätigkeit Kontakte zu einer Frau hatte, die er beruflich sehr schätzte. Seine auswärtigen Termine und Sitzungen machten es ihm leicht, mit dieser Frau ein Verhältnis zu beginnen, von dem er meinte, Inge würde dies nicht merken. Es kam aber, wie es kommen musste: Inge spürte, dass da etwas nicht stimmte. Sie wurde argwöhnisch, sie stellte ihn zur Rede; er leugnete anfangs, später gab er zu, dass er eine Affäre hatte. Natürlich gab er vor, es sei alles vorbei. Aber es war nicht zu Ende. Und durch den Argwohn seiner Frau und seine Unehrlichkeit entstand zu Hause eine Atmosphäre, die es beiden schwer machte, sich glücklich zu fühlen. Sie versuchten es durch schöne Reisen. Aber das Gefühl der gegenseitigen Geborgenheit war dem Argwohn gewichen, ob man sich gegenseitig vertrauen könne. Als Freund beider wurde ich manchmal als Vermittler eingeschaltet: Ich sollte beteuern, dass Franz Inge wirklich liebt; ich sollte überbringen, dass Inge alles durchschaute und Grund hatte, weiterhin zu misstrauen. Ich hatte von Anfang an das Glück, dass beide akzeptierten, dass ich zwar deutlich sagte, auf wessen Seite die Schuld lag. Aber ich durfte beider Freund bleiben. Es war wohl der Versuch bei- © Engine Images

Juni 2011/2 Jesuiten 17 der, eine Brücke zu behalten, die nicht selbst wieder bezweifelt werden muss. Es kam eine sehr schmerzliche Zeit der Unentschlossenheit von Franz und der Verzweiflung von Inge. Doch die beiden trennten sich nicht.Wir redeten oft darüber, ich alleine mit Inge; Franz alleine mit mir. Ich hätte völlig verstanden, wenn Inge die Scheidung eingereicht hätte. Was sie hinderte, war ihre Vorstellung von einer Ehe, zu der sie vor Gott Ja gesagt hatte. Was ihn hinderte, war das Empfinden, eine Frau zu verlieren, mit der er gemeinsam viel Gutes erfahren und zwei Kinder groß gezogen hatte.Würde aber seine Liebe groß genug sein, ganz und nicht geteilt bei ihr zu bleiben? Hatte er sie nicht doch zu früh und unerfahren geheiratet? Und würde ihr Misstrauen ein Ende finden, wenn er umkehrte und sie umVerzeihung bat? Wir haben in getrennten Gesprächen immer wieder versucht auszuloten, ob diese Kraft der Verzeihung und der wieder zu entwickelnden Liebe reichen kann, es wieder miteinander zu versuchen. Franz dachte lange – ich meine, so sind wir Männer manchmal –, wenn er nur umkehrt, dann sei alles wieder in Ordnung. Dann könne alles wieder gut und von vorne beginnen. Aber er musste verstehen – und das konnte ich ihm besser als Inge erklären –, dass das nicht so wäre, sondern dass – selbst wenn sie ihm verzeiht –Verwundungen zurück bleiben, die sich über Jahre hinweg als Unsicherheit und Zweifel, ja als Misstrauen bei Inge erweisen könnten. „Ja, aber ich liebe sie doch!“ meinte er. Es fiel ihm schwer, dass er, auch wenn er sich wirklich von der anderen Frau trennt und Inge künftig treu bleibt,Anlass für Zweifel bei Inge sein würde. Was bleibt von einer solchen Liebe? Inge musste sich Gedanken machen, dass ihre Enttäuschungen und vielleicht ihre künftigen Zweifel nicht Gegenstand vonVorwürfen sein dürfen, um nicht das kostbare Geschenk einer über die Verwundungen hinweg wieder aufkeimenden Liebe zu gefährden. Die ersten Monate nach der Versöhnung waren für Franz und Inge Monate der vorsichtigen Schritte, des zögerlichen Annäherns, einer Zärtlichkeit, die nur tastend gewagt wurde.Was von der alten Liebe blieb, war die Hoffnung, dass es eine zweite Chance gibt und dass auch aus Ruinen neue Heimat entstehen kann, wenn Menschen sich das zutrauen.Was von der alten Liebe blieb, waren die Erfahrungen, dass die beiden sich nicht gleichgültig gewesen waren und daher die Verwundungen auch wirklich weh taten und weiter weh tun können. Sie mussten lernen, die Verwundbarkeit als Teil ihrer Liebe zu verstehen. Aber es war aus der kleinen Pflanze einer neuen Liebe eine Erfahrung gewachsen, die sehr viel wert ist. Denn wo wir umkehren können und wo wir Verzeihung gewähren und annehmen lernen, da ist eine geprüfte und dem Sturm abgerungene Erfahrung: Wir können mit Gottes Hilfe einander weiter vertrauen. Jörg Dantscher SJ

18 Jesuiten Schwerpunkt: Liebe Schwerpunkt Liebe liegt im Vertrauen, in der Kraft des Durchhaltens Interview mit dem aus Deutschland stammenden Pater Klaus Riesenhuber SJ (72), emeritierter Philosophieprofessor an der Sophia-Universität in Tokio Wie geht es Ihnen derzeit in Japan? Im Wesentlichen ist die Lage seit dem großen Erdbeben unverändert. Die Gefährdung durch die Unfälle an den Atomreaktoren steht öffentlich im Vordergrund, aber der Herd der Angst, die keinem erspart bleibt, liegt in den täglichen Erdbeben. Ihre Stärke, ihr Wann und Wo lässt sich nicht vorhersehen, da gibt es keinen Schutz. Wenn man ins Bett geht, weiß man nicht, was die Nacht bringen wird. Die sichere Selbstverständlichkeit des normalen Lebens, die ist stark angeschlagen. Wie gehen Sie mit dieser Angst um? Wir leben angespannt, aber nehmen die Lage hin, wie es ist, wir versuchen es jedenfalls. Das Geschehen ist zu übermächtig, als dass man es durch Fragen nach seinem Grund und Sinn begrenzen oder von sich distanzieren könnte. So zu fragen wäre zu diesem Zeitpunkt reiner Luxus. Die akute Bedrohung hält sich vermutlich in Grenzen, aber jeder weiß, dass alles Mögliche plötzlich passieren kann. Dass wir so aus der Alltäglichkeit aufgeschreckt sind, hat auch etwas Gutes: Durch diese Tatsache ist unbestreitbar klar, dass nichts von dem, was wir alltäglich gebrauchen und beanspruchen, selbstverständlich ist, etwa dass die Milch morgens auf dem Tisch steht, dass es Strom und Wasser gibt, dass wir gesund sind. Das gibt eine größere Unmittelbarkeit zur Wirklichkeit: Jedes Ding, jedes Ereignis zeigt von sich her, dass es auch nicht sein könnte, dass es gegeben ist, mir gegeben, damit ich mich darein finde. Da die eigene Macht nun höchst begrenzt ist, geht es darum, alles erst einmal hinzunehmen, wie es ist, nämlich als Geschenk, in dem ein mir vorgegebener Sinn mich beansprucht. Das fängt mit der Zeit, jeder Stunde und Minute an, die ich ja nicht hervorbringen, sondern nur dankbar annehmen kann, und alles ist mir doch nur in der Zeit gegeben. Wie können Sie die Katastrophe mit der Liebe Gottes übereinbringen? Jedes faktisch Gegebene ist jedenfalls mir gegeben, denn ich kann mich ihm nicht entziehen – wenn das Zimmer wackelt, die Bücher vom Regal fallen, die Züge nicht fahren. In dieser Unausweislichkeit steckt ein Anruf, denn ich muss mich ja dazu verhalten, muss die Situation in irgendeinem Sinn beantworten. Und richtig kann meine Antwort nur sein, wenn ich im Gegebenen für einen Sinn offen bin, den ich mir nicht aneignen kann, also im Geschick ein Sinnangebot, ein Gutes bejahe, das mir für mich gegeben ist, aus dem ich also ohne Selbst- und Wirklichkeitsverneinung ich selbst sein darf und sein kann. Wenn ich nur den Standpunkt vermeintlichen Recht-Habens aufgebe – der das faktisch Gegebene doch nicht außer Kraft setzen kann –, zeigt sich in jeder Situation, dass eine Bejahung meiner selbst und, davon ungetrennt, eines fundamentalen, wenn mir auch noch unbekannten Guten, als des Ursprungs meiner Situation, tatsächlich möglich ist.

Juni 2011/2 Jesuiten 19 Nehme ich die Situation vertrauensvoll an, so schließt dies die Anerkennung eines Bejahtseins meiner selbst ein, das früher und grundlegender ist als meine direkte Selbstbejahung – das heißt doch wohl die Anerkenntnis der Liebe Gottes zu mir, wenn ich das auch nicht unbedingt reflektieren kann. Wie aber dann reden von der Liebe Gottes? Liebe, das ist ein ganz großes, unverzichtbaresWort unserer Tradition, in Japan vielleicht noch nicht tief eingewurzelt. Gerade weil das Wort so wichtig und gehaltvoll ist, soll man es nicht betont gebrauchen, wenn der Partner das Gemeinte (noch) nicht nachvollziehen kann – das Wort könnte ihn, seine scheue, aber ehrliche Hinnahme des Gegebenen, darin seine grundlegende Offenheit und Sinnbejahung erschlagen. Aber wer in einer Notsituation nicht verbittert, sondern bereit ist, sich zu fügen und durchzuhalten, lebt in dieser Treue zur Situation schon eine Treue zum Guten, auf das ich bei aller Unbegreiflichkeit doch vertrauen darf. In diesem Vertrauen, das das Unabweisbare ankommen lässt, keimt eine Bejahung zu jenem Guten, das mich meint – eine schlichte, aber echte Liebe zu Gott. Und wer das an der Grenze seiner psychischen Kraft zu tun versucht, erfährt in eben dieser Anstrengung zugleich, dass ihm die Kraft zu solcher demütigen Hinnahme nicht aus dem eigenen Entschluss allein zur Verfügung steht, er vielmehr vom Beistand dessen getragen und begleitet ist, dessen Güte er sich getrost überlassen kann. In der Erfahrung dieser namenlosen Nähe, dem Mit-Dabeisein Gottes („dank des Schattens“, sagt da eine japanische Redewendung) wird gewiss das gegenwärtig, © KNA-Bild Tsunamiwelle am 11. März 2011 in Natori im Nordosten Japans

20 Jesuiten Schwerpunkt: Liebe was wir, zu Recht, als Liebe Gottes ins Wort fassen. Sich im Vertrauen zu halten schließt ein, sich in der von Gott geschenkten Liebe zu halten, die immer größer ist als unser Begriff und unsere Erfahrung davon. Aber der Hinweis darauf, dass und wie jede Situation im Vertrauen menschlich bewältigbar wird, kann, wenn die Kraft zur Reflexion wieder frei wird, eine Brücke zu ausdrücklicherem gläubigenVertrauen schlagen. Ist Gottes Liebe angesichts der Not glaubwürdig? Die Not, so mag es scheinen, zerstört alles, an was wir uns halten wollen, aber doch nur, wenn sie von außen gesehen zum Maßstab eines Urteils, etwa über die Glaubwürdigkeit der Rede von Gottes Liebe, gemacht wird. Dagegen hilft es nicht, die Liebe Gottes mit Worten aufdrängen zu wollen, so sehr vernünftige Erklärung und Begründung in einem weiteren Schritt sinnvoll und notwendig sein werden. Aber die Bereitschaft, sich in der Not aus der Hand zu geben, rechtfertigt sich aus sich selbst, nämlich in der darin anwesenden Güte, die solches Vertrauen trägt und innerlich bestätigt. Gott lässt sich nicht mit der Situation vergleichen. Gibt es bei den Christen in Japan nicht auch Ärger oder Wut auf Gott? So etwas habe ich nie gehört. Man leidet, aber man beklagt sich nicht. Es gehört zum guten Ton oder, richtiger, wird als Zeichen menschlicher Reife betrachtet, sich negativer Urteile zu enthalten und nicht leichthin über Sinnfragen zu diskutieren, und zwar weil man eher intuitiv, in Rückführung auf einfache Grundeinsichten zu denken bemüht ist. Dabei nimmt man auch das Paradox als Ausdruck der Tiefe der Wirklichkeit oder jedenfalls die Grenze des eigenen Verstehens in Kauf. Man ist ratlos, ja, aber was man nicht ändern kann, nimmt man hin. Im Kritisieren bezöge man einen absoluten Standpunkt außerhalb des Gegebenen, und der kommt dem endlichen, kontingenten Menschen nicht zu – das ist vielleicht die japanische Einstellung, die durchaus christlich interpretierbar und vertiefbar sein dürfte. Die Fragen stellte Martin Stark SJ Klaus Riesenhuber SJ Spenden für Japan leiten wir an die Jesuiten in Japan weiter, die dort in Abstimmung mit Caritas Japan für die Opfer der Katastrophe eingesetzt werden. Jesuitenmission Konto-Nr. 16 16 16 Liga Bank Nürnberg, BLZ 750 903 00 Stichwort: X33100 Japan IBAN: DE 61750903000005115582 SWIFT: GENODEF1M05

Juni 2011/2 Jesuiten 21 Schwerpunkt Liebesgedicht Die Welt ist dumm Die Welt ist dumm, die Welt ist blind, Wird täglich abgeschmackter! Sie spricht von dir, mein schönes Kind, Du hast keinen guten Charakter. Die Welt ist dumm, die Welt ist blind. Und dich wird sie immer verkennen; Sie weiß nicht, wie süß deine Küsse sind, Und wie sie beseligend brennen. Heinrich Heine, aus dem „Buch der Lieder“ Der große Heinrich Heine, bekannt für seinen Spott über Bürgerlichkeit und namentlich die Repräsentanten von Staat und Religion, hat sich zugleich durch viele innige Liebesgedichte hervorgetan.Wie so oft, schimmert in diesen Gedichten, und so auch in den oben abgedruckten Versen, ein ironischer Unterton durch. Nur der Liebende weiß um die wahren Vorzüge der Geliebten. Die dummeWelt dagegen verkennt sie. Für den liebenden Autor scheint nicht der Charakter ausschlaggebend zu sein, sondern die Süßigkeit der Küsse. Sind ihm durch seine Liebe also die Augen geöffnet oder geblendet worden? Ist wirklich er der Sehende? Wer sieht denn die Geliebte so, wie sie wirklich ist? Eine Antwort auf diese Fragen lässt das Gedicht nicht zu. Was gilt, ist der liebende Blick. Denn mindestens das wird dem Leser unmissverständlich klar: Liebe verändert die Perspektive radikal. Darum ist auch klar: Eine Person, die liebt, kann nicht mehr auf Seiten einer lieblosen Welt stehen. Die Werte der „Außenwelt“, derer, die nicht im Kosmos der Liebenden leben, haben keine Bedeutung mehr – alles wird bestimmt von der Einen. Bei allem, was gesagt wird, ist die Liebe das Zünglein an der Waage – alles muss an ihr vorbei. Die Gründe der lieblosenVernunft, die dieWelt vorbringen kann, treffen den Punkt nicht mehr; „abgeschmackt“ sind sie dem Liebenden. Das findet seine Legitimation in der persönlichen Erfahrung – süße Küsse, die beseligend brennen, sind genug. Doch was ist denn dieses beseligende Brennen? Möglicherweise will der Ausdruck nur sagen, dass Liebeslust und Liebesschmerz nahe beieinander liegen. Denn wenn das Herz geöffnet ist, hat das Glücklichmachende eine solche Macht, dass es auch in die Abgründe des Schmerzes reißen kann. Doch es gibt noch eine zweite Deutungsoption: Jeder Kuss, jede Berührung trägt auch schon Abschied und Ende in sich. So brennt das Verlangen nach mehr – und kann von jedem neuen Kuss, jeder neuen Berührung doch nicht gestillt werden. Trotz allem scheint Heine zu sagen: Besser ein glühendes Herz als dumm wie die Welt. René Pachmann SJ

22 Jesuiten Geistlicher Impuls Geistlicher Impuls Gotteserfahrung Und wenn mir alles das, was mir von Gott erzählt wird, zu wenig ist? Was ist, wenn ich langsam den Verdacht bekomme, dass ich mir Gott doch irgendwie nur einrede, so lange mein „Ich glaube“ spreche, bis es mir halbwegs plausibel erscheint zu glauben? Was ist, wenn ich nicht mehr leben will von der spirituellen Schmalspurdiät von eingeredeten Bekenntnissen und schöngetexteten Gebeten? Eine Kerze vor sich stellen, warten bis ich still werde und das, was ich fühle, wenn der Kreislauf runtergeht: Das soll Gotteserfahrung sein? Geistliches Leben braucht geistliche Erfahrung. Aber was ist das? Das Stichwort Mystik fällt immer wieder und wird verbunden mit tiefen meditativen Einsichten oder Gefühlen. Aber worin besteht denn Erfahrung mit Gott? Kann das denn sein, dass der Gott, von dem es heißt, dass wir immer in seiner Umarmung geborgen sind, sich vor allem in spirituellen Sondersituationen offenbart? Sehnsucht nach Gemeinschaft Gotteserfahrung muss Qualität haben, sie muss das Herz berühren – und was berührt mehr, als die Erfahrung, nicht allein zu sein? Was drängt uns mehr als die Sehnsucht nach Gemeinschaft? Wenn Gott die Liebe ist, dann erfahre ich ihn doch dort, wo ich liebe oder geliebt werde, dann spricht er dort in meinem Leben, wo ich mich nach Liebe sehne. In der Gemeinschaft, in Freundschaften, in Beziehungen ist Gott gegenwärtig. Es ist ein bisschen wie bei den Emmaus-Jüngern. Sie erkennen Jesus nicht, aber die Gemeinschaft, das Teilen von Erfahrungen, das Einander-Begleiten bringt sie dazu, im Nachhinein zu sagen: „Brannte da nicht unser Herz?“ Wenn Ihnen Gebete nichts mehr sagen, wenn Meditation nach einem langen Arbeitstag einfach nicht möglich ist, wenn kein Wort Sie mehr erreicht, dann ist die beste Rückbesinnung auf Gott das Hinhören auf das, was das Herz berührt. Beten ist nicht das ganz bewusste Denken an Gott. Beten ist die Entdeckung, dass Gott mir nicht fremd ist und seine Gegenwart nicht erst meditativ erarbeitet werden muss, sondern dass er schon immer Teil meines Lebens ist. Liebe, Freundschaft, Zuneigung werden nicht dadurch spirituell geadelt, dass ich dabei denke „Und da ist jetzt Gott“, sondern dadurch, dass ich sie von Herzen genieße. Das Gefühl, dass etwas fehlt, wenn niemand da ist, ist nicht einfach Langeweile, sondern die ursprünglichste Sehnsucht nach Mehr, nach etwas, das das Leben hell macht – nach Gott. Glaube an die Liebe Aber ist das nicht auch wieder nur eingeredet? Ist es nicht geschummelt, wenn ich jetzt einfach auf die schönste Dimension des menschlichen Lebens das Etikett „Gotteserfahrung“ draufklebe? Dann eben noch einen Schritt weitergehen. Was wäre so schlimm daran, wenn man das eigene „Ich glaube an Gott“ durch etwas ersetzt, woran man vielleicht viel unmittelbarer glaubt? Wäre es wirklich ein Verlust, wenn man z. B. erst einmal sagte „Ich glaube an die Liebe“? Und zwar nicht als Gefühl, sondern

Juni 2011/2 Jesuiten 23 als etwas, das bleibt und größer ist als das Leben. Sicher, da ist noch nicht das Bekenntnis an den persönlichen Schöpfergott, an Menschwerdung usw. enthalten.Aber wäre es nicht ein guter Weg, um sich überhaupt erst einmal dem zu nähern, an das man glauben kann, anstatt an etwas, an das man glauben soll? Klar, ein Gottesbeweis lässt sich auf diesem Weg (wie auch auf keinem anderen) nicht gewinnen. Aber dem Suchenden drängt sich vielleicht so die Ahnung auf, dass es etwas im Leben gibt, das nach Ewigkeit schmeckt, das weit über das Leben hinausgeht und eine andere Qualität besitzt als Texte von Bekenntnissen und theologischen Reflexionen. Diese Erfahrungen ernst zu nehmen, das ist Gebet, das ist Gotteserfahrung. Zu verstehen, dass die Sehnsucht nach Ewigkeit, nach Liebe, die hält, nach Gemeinschaft nicht ein Ausdruck des eigenen Ungenügens, sondern die Erfahrung von Gottes Stimme in meinem Leben ist. Und wenn es zu schwer fällt, dem Ganzen den Namen Gott zu geben – er hatte schon immer mehr als einen Namen.Wichtig ist es, frei zu werden von dem Zwang, glauben zu müssen und zu entdecken, woran man glauben kann. Gotteserfahrung ist nicht ein exotisches Gefühl oder eine dauernde Sondersituation, die ich mit einiger Übung immer weiter ausdehnen kann. Gotteserfahrung ist eine Perspektive, die ich an Alltagserfahrung herantrage. Ansgar Wiedenhaus SJ

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