Jesuiten 2012-1

8 Jesuiten Schwerpunkt: Entweltlichung – Verweltlichung Schwerpunkt Mythos und Geschichte Entweltlichung als Element von Traditionskulturen Der Verzicht auf die Sicherheiten des Alltags, der Ausstieg aus den eingespielten Lebensabläufen und die Suche nach Stille und Sammlung gelten als Quellen ungeahnter Kraft und Kreativität. Frei gewählter Rückzug, aufgezwungenes Exil oder die gewagte Verweigerung des „Status quo“ durch einen Einzelnen oder durch eine Gruppe Gleichgesinnter können einer ganzen Gesellschaft neue Impulse verleihen.Entweltlichung und Entinstitutionalisierung sind in vielen Kulturen das Fundament eines kreativen Neuanfangs, der zum Leitbild wird und dann durch Gedenk-Rituale wachgehalten wird. Das gilt nicht nur für Christentum und Religion.So schweißte der Mythos von den heimlich auf dem Rütli versammelten Eidgenossen Generationen von Schweizern zusammen. Fundament war die unbedingte Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe außerhalb fremder obrigkeitlicher Kontrollmechanismen. Heute weiß man, dass dieser Mythos seine Geburtsstunde im 18. bzw. 19. und nicht im 13. Jahrhundert hatte.Dennoch bleibt derWert des Mythos unbestritten, der nach 1848 eine Ansammlung vieler kleiner Volksgruppen zusammenführte, was allein durch Verfassung und Gesetze nicht gelungen wäre. Diese Schweizer Romanze mag zum Schmunzeln reizen. Dennoch fordert sie uns dazu auf, auch über die Bedeutung von Entweltlichung als Fundament kirchlicher Reform nachzudenken. Die Frage ist insofern relevant, als zum christlichen Glaubensgut und den ignatianischen Exerzitien die Gewissheit gehört, dass sich Gott dort besonders offenbart, wo man sich in die „Wüste“ zurückzieht. Ein weiteres Beispiel: Ins heutige St. Gallen, einst ein Ort der Wildnis, zog sich um 612 der Ire Gallus unter strenger Mönchsregel lebend zurück. Das daraus entstandene Kloster wurde zur Wiege des Christentums ganz Alemanniens, d.h. der Nordostschweiz, Baden-Württembergs und bayerisch Schwabens. Mönche haben durch ihr weltabgewandtes Leben dem Christentum einen Nährboden bereitet, und Grundherren haben dem Kloster Güter um ihres Seelenheiles willen vermacht,so die tradierten Legenden und Chroniken. Es konnte aber nachgewiesen werden, dass die Christianisierung vom grundbesitzenden Adel und nicht von Klöstern ausging und durchgesetzt wurde. Eine kritische Auswertung der Schenkungsurkunden zeigt, dass neben dem Seelenheil auch andere Beweggründe wie Erbstreitigkeiten,der Anschluss an ein reichsweites Netzwerk und das Profitieren vom wirtschaftlich effizienteren Kloster motivierend mitspielten. Das Ergebnis war eine christliche Kultur mit tiefem Fundament – aber neben der Entweltlichung steht auch die Integration der sich anbietenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten als entscheidender Faktor. Mythos und Geschichte reichen sich hier die Hand und lassen sich nicht fein säuberlich trennen.Es entstand das Bild vomWerdegang einer christlichen Kultur, der nicht einfach frei erfunden war und mit liturgischen Feiern und künstlerischen Darstellungen wachgehalten wurde. Es zeigt sich hier aber auch, dass in je-

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