Jesuiten 2012-1

Entweltlichung Verweltlichung ISSN 1613-3889 2012/1 Jesuiten

Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Die Welt nicht freiwillig räumen! 4 Zwischen Verweltlichung und Entweltlichung 6 Was fesselt mich? 8 Mythos und Geschichte 10 Distanz zur Welt? 12 Heilung und Heiligung der Gesellschaft 14 Gott zwischen den Kochtöpfen finden 16 Kirchensteuer 18 Staat und Kirche 20 Bevormundung oder Partnerschaft? Geistlicher Impuls 22 Das Leben als Pilgerweg Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 28 Jubilare Verstorbene Medien 29 In der Welt – nicht von der Welt Vorgestellt 30 Präventionsprojekte 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Die besondere Bitte Jesuiten gründen Stiftungen 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2012/1 2012/1 Titelbild: Stefan Weigand Die Fotos zum Schwerpunktthema haben einen starken Alltagsbezug. Sie zeigen Motive, die auf ihre Art „entweltlicht“ sind – oder besser: sie zeigen Leerstellen, das Unperfekte und eben Normale der Welt. Die Welt ist nicht perfekt – schon gar nicht, wenn man sich von ihr verabschiedet. Denn dazu hat sie viel zu viele Ecken und Kanten, an denen man hängenbleibt. Zum Glück. (Stefan Weigand)

März 2012/1 Jesuiten 1 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, eine Fernsehserie hat uns gerade das Lieblingsbeispiel der Historiker für „Verweltlichung“ der Kirche in opulenten Farben vor Augen geführt – die Herrschaft der Medici- und Borgia-Päpste. Wir bekommen eine Kirche zu sehen, die gefangen ist in triebhafter Genusssucht, intriganter Machtbesessenheit und Prachtentfaltung. Auch die Geschichte der Ordensgemeinschaften erzählt nicht selten von kompromisslosen Anfängen, von der Blüte, die sich in kulturellen Hochleistungen zeigt, bis hin zum moralischen und materiellen Bankrott. Wo ist da noch der Geist des besitz- und heimatlosen Wanderers aus Galiläa, der bei denen am Rande war, bei den Macht- und Sprachlosen, den ausgestoßenen Kranken? Die Freiburger Rede des Papstes hat eindringlich die Frage gestellt, ob wir Christen in Deutschland nicht auch zu sehr gefangen sind in einem üppigen Versorgungschristentum, das karitative Aufgaben delegieren kann, um fortwährend um sich und die eigenen Interessen zu kreisen. Aber es geht hier nicht um ein Spiel mit klar verteilten Karten. Was bedeutet es sonst, dass wir das Zeitalter der Renaissance kirchenhistorisch immer noch als das Zeitalter des Sündenfalls behandeln, zugleich aber das religiöskulturelle Erbe jener Zeit hochhalten: Raffael, Michelangelo, Palestrina, St. Peter in Rom? Sie wären nie erblüht, hätten sich die Savonarolas jener Zeit durchgesetzt mit ihrem Programm der Entweltlichung und ihren Scheiterhaufen, auf denen aller irdische Tand verbrannt werden sollte. Dass der Papst beim Stichwort „Entweltlichung“ sicher nicht nur nach Deutschland deutet, wird klar, wenn man bedenkt, dass der römische Zentralismus der letzten Jahrzehnte auch durch Gelder der deutschen Steuerkirche am Laufen gehalten wird. Wo der befreiende Geist Jesu jeweils ansetzen will und muss, das zu erkennen bedarf der Unterscheidung der Geister. Die „Welt“ ist heiliger Ort – das meint Ignatius, wenn er fordert, Gott „in allem“ zu finden.Auch „Entweltlichung“ kennt ihren Sündenfall, eine Haltung der abschätzigen Abwertung von Welt und Menschen, um die man sich nicht kümmern muss, weil sie nicht in die eigenen Kategorien passen. Nicht nur die Renaissance-Kirche, auch die reaktionäre Kirche der Bürger und Monarchisten des 19. Jahrhunderts hat in der Kirchengeschichte tiefe Spuren der Entfremdung vom Geist Gottes hinterlassen. Selbstkritisch und prophetisch nachdenken über die Welt als Ort der Inkarnation einerseits und den „alten Adam“ mit seiner Schwerkraft aus triebhafter Machtgier und Egoismus andererseits – diese Aufgabe, stellt uns der Papst. Sie bedarf der ernsthaften, kritischen Selbstprüfung von Kirchenleitungen und Christen der sogenannten Basis in Deutschland und in Rom.Wir verstehen dieses Schwerpunktthema als einen Beitrag zu jenem Dialogprozess, der in Mannheim begonnen hat.Wir würden uns freuen, Sie liebe Leserinnen und Leser, ein Stück mit hinein zu nehmen in die Vielschichtigkeit der Fragen, die sich nur im geduldigen Zuhören und im Dialog ausleuchten lassen. Wir wünschen Ihnen in diesem Sinne ein frohes Osterfest. Johann Spermann SJ Martin Stark SJ Tobias Zimmermann SJ

2 Jesuiten Schwerpunkt: Entweltlichung – Verweltlichung Schwerpunkt Die Welt nicht freiwillig räumen! Alfred Delps Anstöße für eine Theologie des politischen Engagements Das Schicksal der Kirchen, so gibt sich der Jesuit Alfred Delp kurz vor seiner Ermordung im Jahre 1945 überzeugt, wird abhängen von ihrer bedingungslosen Rückkehr in die Diakonie. Damit meint er „das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Situationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen (…). Damit meine ich das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußerstenVerlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein genau und gerade dann, wenn ihnVerlorenheit und Verstiegenheit umgeben. ‚Geht hinaus’hat der Meister gesagt,und nicht:‚Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt’. Damit meine ich die Sorge auch um den menschentümlichen Raum und die menschliche Ordnung. Es hat keinen Sinn, mit einer Pfarrerund Prälatenbesoldung zufrieden die Menschheit ihrem Schicksal zu überlassen.“ Tatsächlich, die erste und letzte Aufgabe von Christen und Kirche in der Welt ist das Wachhalten der Gottesfrage. Diese Gottesfrage ist aber folgenreich. Denn es geht um den Gott Jesu Christi; um den Gott des Beistandes aller Bedrückten und Bedrängten; um den Gott, den das Elend seines Volkes und das Seufzen der Kreatur so erbarmte, dass er letztlich in seinem Sohn Jesus Christus Fleisch angenommen hat, um unter uns Menschen zu leben, unser Schicksal zu teilen, um die Welt von innen heraus heilsam zu verändern. All das, was uns Menschen in der Frohen Botschaft dieses Gottes zugesprochen ist, nämlich Trost, Heil, Erlösung, all das wird nicht abseits der bedrängenden Situationen des Lebensalltags ersehnt und erhofft. Sondern Trost, Heil und Erlösung werden gerade inmitten jener konflikthaften Lebenslagen und sozialen Lebensnöte ersehnt und erhofft, die Menschen immer neu zu bestehen und zu bewältigen haben. Deshalb das „Nachgehen und Nachwandern“, deshalb das Hinausgehen und Nichtsitzenbleiben, deshalb der persönliche Beistand wie die lebensdienliche Gestaltung der Gesellschaft – und zwar durch prophetisches Sprechen ebenso wie durch das stumme Zeugnis der helfenden Tat: in jedem Fall also wortreich wie tatkräftig. Doch schon Delp wusste: Solch wortreiches wie tatkräftiges Wachhalten der Gottesfrage ist in der Regel ungemütlich, ja als Nachfolge des Gekreuzigten kann es selbst in lebensbedrohliche Nähe zu den lebensfeindlichen Mächten und Gewalten unserer konkretenWelt geraten. Deshalb die große Gefahr, dass sich Christen immer neu ihrer Gestaltungsverantwortung für die Welt entziehen – sei es durch ihre Scheu, sich demWind undWetter der Geschichte auszusetzen, sei es durch eine mindestens latente Weltverachtung: „Geschichte wird nicht mehr zum Ort des Reiches [Gottes], sie ist beinahe von Übel. (…) Man wird irgendwie denkmüde und wegmüde, will getragen sein von Gott bis in die letzte Wirklichkeit des Denkens und Entscheidens. (…) Daß Kirche Welt ist und ihr Gesetz einstweilen das Gesetz der Wanderung und der Geschichte ist, und daß das Staub und Anstrengung bedeutet, das wird nicht sehr betont. Das bedeutet aber in einer anderen Form die Auswanderung aus der Zeit. Die Erde wird gleichsam freiwillig geräumt.“ Solche freiwillige Räumungen der Erde verlaufen nicht spektakulär und aufregend; sie verlaufen eher schleichend, in satter Selbstzufriedenheit, ja im Gewand bürgerlicher Wohlanständigkeit und innerkirchlicher Wohlaufgeräumtheit. Längst sind selbst äußerlich noch christentümliche Gegenden unserer Alltags-

März 2012/1 Jesuiten 3 welt zum Missionsland geworden. Selbstkritisch geben sich 1941 Delps adventliche Fragen an seine Kirche: Läuft sie nicht Gefahr, „eine Kirche der Selbstgenügsamkeit zu werden, die ihre Gesetze und Büros und Verordnungen, ihre Klugheit und Taktik hat, ihren Bestand wahrt, von ihrer Vorsicht überzeugt ist? Und damit zugleich zu einer Kirche der splendid isolation zu werden, der beziehungslosen Oasenhaftigkeit?“ Und dann: „Warum haben wir dem Leben nichts zu sagen, oder besser, da wir was zu sagen haben, warum sagen wir ihm nichts?“ Delps Kritik an der Selbstgenügsamkeit seiner Kirche endet nicht bei jenen, die über eine Predigt- und Religionsunterrichtserlaubnis oder eine Pfarrer- und Prälatenbesoldung verfügen. Sie trifft alle Christen, die sich mit der Welt, wie sie ist, abgefunden oder sich in ihr gemütlich eingerichtet haben. Seine Meditation zu den Gestalten der Weihnacht von 1944 nutzt Delp zu einer harschen Kritik an den „so unerschütterlich-sicheren ‚Gläubigen’“. Auch sie dürften an der Krippe des zurWelt gekommenen Gottes fehlen. „Sie glauben an alles, an jede Zeremonie und jeden Brauch, nur nicht an den lebendigen Gott.Man muss“,gibt Delp durchaus zu, „bei diesen Gedanken sehr behutsam sein, nicht aus Angst, sondern aus Ehrfurcht. Aber es stehen so viele Erinnerungen auf an Haltungen und Gebärden gegen das Leben. Im Namen Gottes? Nein, im Namen der Ruhe, des Herkommens, des Gewöhnlichen, des Bequemen, des Ungefährlichen. Eigentlich im Namen des Bürgers, der das ungeeignetste Organ des Heiligen Gottes ist.“ Nur ein Mensch, der sich in steter Grenzüberschreitung und Befreiung vom Gewohnten übt, wird zu sich selber als freier Mensch kommen. „Den Rebellen“, resümiert er einige Wochen später zu Epiphanie 1945 seinen Argwohn gegen jede Form bürgerlicher Wohlanständigkeit, „kann man noch zum Menschen machen,den Spießer und das Genießerchen nicht mehr.“ (alle Zitate aus: Alfred Delp, Gesammelte Schriften, 4 Bde. Hg. von Roman Bleistein, Frankfurt 1984ff.). Andreas Lob-Hüdepohl Foto: Weigand

Schwerpunkt Zwischen Verweltlichung und Entweltlichung Über die Mühe, auf einer schiefen Ebene aufwärts zu gehen Es beginnt mit zwei Reizwörtern. Das eine ist Verweltlichung. Darunter verstehe ich eine Art von Verwahrlosung, in die der Christ und die Gemeinschaft der Christen geraten können, wenn sie der Welt die Regie über ihr Leben überlassen. Das andere ist Entweltlichung. Darunter verstehe ich eine Art Reinigung, wenn nämlich der Christ oder die Gemeinschaft der Christen tatsächlich verwahrlost sind und wieder rein werden sollen. Doch was heißtWelt? Und was hat das alles mit dem Bild von der schiefen Ebene zu tun? Die Welt – eine Bühne mit schiefer Ebene. Für dieAntwort greife ich zurück auf eineVorstellung aus dem Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola. Die Betrachtung über die Menschwerdung (EB 101) beschreibt die Weltanschauung des dreifaltigen Gottes. Gott blickt auf dieWelt wie auf eine Bühne, die in Schieflage geraten ist. Dort auf dem Erdenrund sieht er die bunte Vielfalt der Menschen. Er hört, was sie reden, und sieht, was sie tun. Sie könnten ein schönes Leben haben; aber sie tun sich viel Böses an, so dass ihnen das Leben immer wieder zur Hölle wird.Wie auf einer schiefen Ebene gleiten alle dem Tod entgegen, auf Nimmerwiedersehen. Welt und Menschheit sind schwer beschädigt. Der dreifaltige Gott entschließt sich jedoch zu handeln. In seinen Augen sind und bleiben die Menschheit und jeder einzelne Mensch gut und wertvoll. Er sinnt auf Rettung, und was er im Sinn hat, wird augenblicklich Tat: Er wirkt die Menschwerdung. In Jesus Christus betritt Gott selbst die schiefe Bühne der Welt und setzt sich dem aus, was die Menschen in den Abgrund zieht. Wie Mose und die Propheten warnt Jesus das Volk Israel – und damit uns alle – vor dem Abgrund. „Bleibt auf dem Weg Gottes! Weicht nicht von ihm ab! Geht unbeirrt aufwärts! Die Mühe lohnt sich!“ Jesus warnt, aber er erklärt auch, und er erklärt nicht nur, sondern er geht auch selbst denWeg bergauf, und er geht nicht allein, sondern mit uns. Dabei erfährt er Widerspruch: „Du bist auf dem falschenWeg! Du bist ein falscher Führer!“ Nach den Regeln der schiefen Welt wird er beseitigt. Er fällt in den Abgrund des Todes. Dort aber ändert er die Verhältnisse: Er schenkt den Toten aller Zeiten das Leben. In Jesus Christus rettet Gott rückwirkend. Mehr noch: In diesem Augenblick hebt Gott in Jesus Christus die Welt aus ihrer Schieflage wieder in die Waagerechte. Den Erfolg werden wir sehen, wenn er als Richter wiederkommt. Denn er ist ein Richter, der nicht nur urteilt und verurteilt, sondern das Schiefe wieder gerade richtet. Man muss nicht mit den Augen Gottes auf die Welt schauen, um festzustellen, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung ist. Warum kommen Adam und Eva noch immer nicht miteinander zurecht? Warum erschlägt Kain noch immer den Abel? Warum reden Leib und Seele so oft aneinander vorbei? Warum stehen sich Denken und Glauben so fremd und oft feindselig gegenüber?Warum vertragen sichWir und Ich so schlecht? Warum werden die einen zu Tä4 Jesuiten Schwerpunkt: Entweltlichung – Verweltlichung

tern und die anderen zu Opfern? Warum gibt es so viel Berechnung und so wenig Ehrfurcht? Über diese Fragen grübelt die Menschheit,seit sie denken kann, aber sie findet keine klare Diagnose. Intensiv doktert sie an sich herum; aber sie findet keine wirksame Therapie.Viele Menschen resignieren und ergeben sich dem Schicksal. Einige greifen zur Gewalt, um die Verhältnisse zu bessern. Andere verkünden: Leben undTreiben auf der schiefen Ebene sind eigentlich normal, weil schon immer so. Und dann mischen sich suggestive Fragen ein: Ist die schiefe Ebene wirklich so schief und so gefährlich? Ist es nicht angenehm, locker und sanft bergab zu gehen? Warum widerstehen? Warum die Mühe? Ist das nicht sinnlos? So wird die Misere verharmlost.Aus der Sicht der Weltanschauung Gottes ist das die Ur-Versuchung der beschädigten Menschen: das Beschädigtsein für normal zu halten, sich anzupassen und weiterzumachen wie bisher. Auf der schiefen Bühne aufwärts gehen! Christen sind Menschen, die die Diagnose des dreifaltigen Gottes über den Zustand der Welt und der menschlichen Geschichte annehmen: Die Beschädigung ist tödlich; der Mensch kann sie nicht beheben; er bleibt dem verhängnisvollen Zug nach unten ausgeliefert. Christen sind aber auch Menschen, die die Therapie Gottes annehmen:Sie lassen sich von Jesus Christus ergreifen und festhalten; sie lassen sich von ihm führen; sie gehen mit ihm den Weg aufwärts und widerstehen dem Abwärtstrend. Sie erklären auch öffentlich, dass die schiefe Bühne nicht normal ist. Sie werben dafür, sich an Jesus Christus festzuhalten. Sie weigern sich, Komplizen eines tödlichen Irrtums und einer listigenVerführung zu sein.Mit anderen Worten: Sie wollen nicht verweltlichen.Sie wollen nicht derWelt die Regie über ihr Leben überlassen. Doch was heißt das konkret?Wie gehe ich mit Jesus auf der schiefen Welt- und Lebensbühne bergan? Wie steuere ich gegen den Zug nach unten? Wie macht es die Gemeinschaft der Christen? 1.Wir sind froh und dankbar, in Jesus Christus jemanden an der Seite zu haben, der uns die Welt deutet, das Schicksal mit uns teilt und uns auf demWeg zu Gott führt und begleitet. Keiner ist allein auf dem Weg. 2.Wir überprüfen, wofür wir Zeit haben und wofür nicht.Wenn wir etwas wichtig finden, uns aber keine Zeit dafür nehmen, sind wir schon im Bann der schiefen Ebene und sollten gegensteuern. 3.Wir versuchen, im Kontakt mit der Weltanschauung Gottes zu bleiben. Darum nehmen wir uns am Sonntag Zeit für den Gottesdienst. Denn das ist der Ort, wo sich das Volk Gottes die Geschichte seiner Rettung ins Gedächtnis ruft und das große Dankgebet spricht. 4.Wir bemühen uns,dieWeltanschauung Gottes immer besser zu verstehen und anderen gut zu erklären. Darum nehmen wir uns Zeit, um in der Bibel zu lesen, allein und mit anderen. Wir nehmen uns auch Zeit, um unser Wissen über den christlichen Glauben zu vertiefen. 5.Wir wenden uns den Mitmenschen zu, besonders denen, die in Not sind.Wir geben ihnen von unserer Zeit, gratis. Wir beherzigen, dass jeder Mensch ein Wunschkind Gottes ist, trotz allem, was an ihm schief und störend ist. Solange wir das tun, geschieht Entweltlichung als eine Form von Reinigung, und wir werden nicht verweltlichen. Wendelin Köster SJ März 2012/1 Jesuiten 5

6 Jesuiten Schwerpunkt: Entweltlichung – Verweltlichung Foro: Weigand

März 2012/1 Jesuiten 7 Schwerpunkt Was fesselt mich? Jemand kommt aus dem Kino und sagt: „Dieser Film hat mich ganz gepackt, richtig gefesselt.“ Es kann großartig sein, von einem Ereignis, einem Musikstück oder auch von einem Menschen ganz hingerissen zu sein. Doch wenn es uns dauerhaft fesselt, werden wir vorsichtig. Denn unsere Freiheit steht auf dem Spiel.Auch Angst und Schrecken können uns fesseln – und nicht mehr loslassen.Wenn wir uns aus der Faszination für eine Sache oder aus dem Schrecken vor einer Macht dieser Welt nicht mehr lösen können, dann ist unsere Seele verkauft. Eine Art von „Götzendienst“ hat begonnen. „Dies alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest.“ (Mt 4,9). Ignatius von Loyola beginnt seinen „Bericht des Pilgers“ mit folgendem Satz: „Bis zum Alter von sechsundzwanzig Jahren war er den Eitelkeiten der Welt ergeben.“ Seine Bekehrung war ein jahrelanger Kampf, mit Gottes Hilfe diese Fessel der Eitelkeit wieder los zu werden. Die Eitelkeit der Welt kann einen Menschen völlig beherrschen: Wie sehen mich die anderen? Warum beachtet mich keiner? Ich muss im Internet möglichst oft auftauchen. So können Angst und Sorge um den guten Ruf einen Menschen wirklich versklaven. Das Gesetz der Fesselung lautet: Jemand taugt nur so viel, wie er Beachtung findet. Jahre nach seiner Bekehrung beschreibt Ignatius in seinem Exerzitienbuch noch etwas genauer, von welchen irdischen „Mächten“ sich die Menschen am ehesten beherrschen lassen. Er nennt – in guter geistlicher Tradition – diese Mächte „Versucher“ oder „Feind der menschlichen Natur“. Die populärste Strategie desVersuchers ist die Habsucht. Diese verbindet sich leicht mit der schon genannten Eitelkeit. Und dann versteigt sich der Mensch leicht in den Hochmut. In diesen drei Begierden sieht Ignatius die größten Versuchungen des Menschen. Er verliert dadurch seine Freiheit, Gott und den Menschen zu dienen. Diese drei Stufen, sich von weltlichen Dingen beherrschen zu lassen, könnte man nennen: „mehr haben wollen“, „mehr gelten wollen“ und „mehr sein wollen.“ Wer einer irdischen Sache verfallen ist, der verfällt. Zwei große Dramen der deutschen Literaturgeschichte haben dies klassisch inszeniert: Goethes „Faust“ und von Hofmannsthals „Jedermann“. Manche Formen des Verlustes der Freiheit sind unübersehbar. Jeder kennt Suchtkranke und rastlos Getriebene, die aus dem Teufelskreis nicht mehr herausfinden. Neben solch dramatischen Formen der Fesselung gibt es in jedem Leben eine Fülle von „ungeordneten Anhänglichkeiten“, wie Ignatius dies nennt. Wie kommt man ihnen auf die Spur? Das kann ganz gewöhnlich in den Wochen der Fastenzeit geschehen, wo freiwillige Verzichte uns helfen,Anhänglichkeiten aufzuspüren und sich mit Gottes Hilfe von ihnen zu lösen. Die Achtsamkeit auf unsere heftigen Gefühlsreaktionen lässt uns leichter verstehen, woran unser Herz wirklich hängt. Sind es Werte, die Jesus uns lehrt, oder Annehmlichkeiten, die begonnen haben, uns zu beherrschen? Sehr nützlich kann es sein, von Zeit zu Zeit einen Lebensrückblick („révision de vie“) zu halten und diesen eventuell mit einer Beichte zu verbinden. Der Psalmist besingt diese lösende Kraft Gottes: „Du hast meine Fesseln gelöst.“ (Ps 116,16). Franz Meures SJ

8 Jesuiten Schwerpunkt: Entweltlichung – Verweltlichung Schwerpunkt Mythos und Geschichte Entweltlichung als Element von Traditionskulturen Der Verzicht auf die Sicherheiten des Alltags, der Ausstieg aus den eingespielten Lebensabläufen und die Suche nach Stille und Sammlung gelten als Quellen ungeahnter Kraft und Kreativität. Frei gewählter Rückzug, aufgezwungenes Exil oder die gewagte Verweigerung des „Status quo“ durch einen Einzelnen oder durch eine Gruppe Gleichgesinnter können einer ganzen Gesellschaft neue Impulse verleihen.Entweltlichung und Entinstitutionalisierung sind in vielen Kulturen das Fundament eines kreativen Neuanfangs, der zum Leitbild wird und dann durch Gedenk-Rituale wachgehalten wird. Das gilt nicht nur für Christentum und Religion.So schweißte der Mythos von den heimlich auf dem Rütli versammelten Eidgenossen Generationen von Schweizern zusammen. Fundament war die unbedingte Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe außerhalb fremder obrigkeitlicher Kontrollmechanismen. Heute weiß man, dass dieser Mythos seine Geburtsstunde im 18. bzw. 19. und nicht im 13. Jahrhundert hatte.Dennoch bleibt derWert des Mythos unbestritten, der nach 1848 eine Ansammlung vieler kleiner Volksgruppen zusammenführte, was allein durch Verfassung und Gesetze nicht gelungen wäre. Diese Schweizer Romanze mag zum Schmunzeln reizen. Dennoch fordert sie uns dazu auf, auch über die Bedeutung von Entweltlichung als Fundament kirchlicher Reform nachzudenken. Die Frage ist insofern relevant, als zum christlichen Glaubensgut und den ignatianischen Exerzitien die Gewissheit gehört, dass sich Gott dort besonders offenbart, wo man sich in die „Wüste“ zurückzieht. Ein weiteres Beispiel: Ins heutige St. Gallen, einst ein Ort der Wildnis, zog sich um 612 der Ire Gallus unter strenger Mönchsregel lebend zurück. Das daraus entstandene Kloster wurde zur Wiege des Christentums ganz Alemanniens, d.h. der Nordostschweiz, Baden-Württembergs und bayerisch Schwabens. Mönche haben durch ihr weltabgewandtes Leben dem Christentum einen Nährboden bereitet, und Grundherren haben dem Kloster Güter um ihres Seelenheiles willen vermacht,so die tradierten Legenden und Chroniken. Es konnte aber nachgewiesen werden, dass die Christianisierung vom grundbesitzenden Adel und nicht von Klöstern ausging und durchgesetzt wurde. Eine kritische Auswertung der Schenkungsurkunden zeigt, dass neben dem Seelenheil auch andere Beweggründe wie Erbstreitigkeiten,der Anschluss an ein reichsweites Netzwerk und das Profitieren vom wirtschaftlich effizienteren Kloster motivierend mitspielten. Das Ergebnis war eine christliche Kultur mit tiefem Fundament – aber neben der Entweltlichung steht auch die Integration der sich anbietenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten als entscheidender Faktor. Mythos und Geschichte reichen sich hier die Hand und lassen sich nicht fein säuberlich trennen.Es entstand das Bild vomWerdegang einer christlichen Kultur, der nicht einfach frei erfunden war und mit liturgischen Feiern und künstlerischen Darstellungen wachgehalten wurde. Es zeigt sich hier aber auch, dass in je-

März 2012/1 Jesuiten 9 der Traditionskultur gewisse Faktoren ausgeblendet bleiben. In den Anfängen der Gesellschaft Jesu gibt es ebenfalls zahlreiche Elemente von Entweltlichung: Ignatius auf dem Krankenbett, Ignatius in Manresa, seine Pilgerfahrt nach Jerusalem sowie die Fernostreise und der einsame Tod von Franz-Xaver. Die historischen Fakten sollen nicht in Zweifel gezogen werden, zumal Ignatius dabei zentrale Momente wichtig geworden sind, welche die weitere Entwicklung der Gesellschaft Jesu mitprägten.Allein die Ikonographie bestätigt aber, dass diese Elemente bereits seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert zu Merkmalen jesuitischer Identität aufgebaut und zu „Schlüsselsymbolen“ gemacht wurden. Dabei war der Werdegang von Ignatius und den ersten Jesuiten auch von anderen Faktoren bestimmt.Man denke an die gut zehn Jahre,die Ignatius im Dienste des königlichen Grossschatzmeisters Velázquez de Cuéllar verbracht hat. Ignatius kam dort mit dem Hof des spanischen Weltreiches in Berührung, das damals in der Verwaltung europaweit führend war. Dort verschaffte sich Ignatius das Rüstzeug für die Entwicklung einer Infrastruktur, mit der sich später der global ausgerichtete Orden zusammenhalten ließ. Ignatius und die meisten ersten Gefährten durchliefen ihre akademische Ausbildung in Alcalá, der Hochburg des spanischen Humanismus, im traditionsträchtigen Salamanca und schließlich in Paris, der damals renommiertesten Universität Europas – die damals modernste und solideste akademische Bildung war ihnen allen ein wichtiges Anliegen. Dass Ignatius als Student auf seinen Betteltouren in Flandern und England nicht mit der hohlen Hand vor Kirchtüren stand, sondern in ein europaweites Netzwerk spanischer Großkaufleute trat, ist schon länger bekannt. Er hat sich aber auch den Erlös in einemWechselbrief gutschreiben lassen, in Paris eingelöst und sich damit des damals modernsten Finanztransaktionssystems bedient. Franz-Xaver ist wohl einsam auf der Insel Sanzian gestorben, aber er ist vorher mit einem der technisch bestentwickelten Segelschiffe in der vornehmsten Kajüte dorthin gelangt. Dahinter stand ein portugiesischer Kaufmann, der sich erhoffte, mit Franz-Xavers Unternehmen eine Handelsniederlassung in China einzurichten, was seiner und PortugalsWirtschaftsmacht riesigen Auftrieb gegeben hätte. Er war es, der Franz-Xaver 2100 kg Pfeffer zur Verfügung stellte, womit dieser einen Chinesen für die Überfahrt aufs Festland bestechen konnte. Diese Beispiele fallen nicht in die Kategorie der Entweltlichung und spielen in den üblichen historischen Darstellungen eine erstaunlich geringe Rolle, obwohl sie die Lebensumstände der ersten Jesuiten über lange Zeit stark prägten, und obwohl zu deren Umfeld in letzter Zeit viele Studien gemacht wurden. Die Ursprünge und der Erfolg der Gesellschaft Jesu liegen gerade auch in der Inanspruchnahme der damals neuesten Errungenschaften und Infrastrukturen. Dass diese ihren Werdegang weniger mitbestimmt hätten als die Elemente der Entweltlichung,ist nicht schlüssig und eher das Ergebnis retrospektiver und selektiver Interpretation. Zwei Faktoren bilden das Fundament kirchlicher Reform. Beides schließt sich nicht nur nicht aus, ergänzt sich nicht nur, sondern beides ist eng miteinander verzahnt, ja geradezu untrennbar verschmolzen: „Entweltlichung“ und „Verweltlichung“. Paul Oberholzer SJ

10 Jesuiten Schwerpunkt: Entweltlichung – Verweltlichung Schwerpunkt Distanz zur Welt? Distanz zur Welt – Ursache für oder Mittel gegen sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche? Überlegungen des Generalvikars von Osnabrück. Das Jahr 2010 mit den aufgedeckten Fällen sexuellen Missbrauchs durch kirchliche Mitarbeiter hat eine tiefe Spur der Erschütterung in der Kirche unseres Landes hinterlassen.Verunsicherung zeigt sich in vielen Bereichen. Es gibt nach wie vor Gesprächsbedarf, etwa über unserVerhältnis zur modernen Gesellschaft. In der Welt und doch nicht von der Welt zu sein, ist unser bleibender Auftrag. Wie kann eine Positionierung aussehen? Jeder einzelne Fall von sexualisierter Gewalt in der Kirche ist ein Widerspruch zu ihrem Sendungsauftrag, Menschen zum Glauben zu führen, also zumVertrauen auf Gott.Wenn Menschen in der Kirche, die ja Zeichen undWerkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott ist (Lumen gentium 1), Erfahrungen von missbrauchtem Vertrauen machen müssen, wie können sie dann noch darin ermutigt und bestärkt werden, auf Gott zu vertrauen? Die Kirche muss also auch aufgrund ihres Sendungsauftrags mit aller Kraft verhindern, dass sexualisierte Gewalt in ihr geschieht. Da die Kirche aber immer auch „Kirche der Sünder umfasst“ (Lumen gentium 8), wird es wohl auch weiterhin und trotz aller schon ergriffenen und noch zu ergreifenden Präventionsmaßnahmen sexualisierte Gewalt in ihr geben. Sie ist auch hier „stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung“ (Lumen gentium 8). Dass die Kirche diesen Weg der Erneuerung gehen muss, ist Konsens. Welche konkreten Wege zielführend sind, darüber gibt es Kontroversen. Diese beruhen wesentlich auf einer unterschiedlichen Bewertung der Ursachen für die bekannt gewordenen Missbrauchsfälle der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bei Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen sehen so manche Anwesende in der so genannten sexuellen Liberalisierung nach 1968 eine, wenn nicht die Ursache für die zahlreichen Fälle sexuellen Missbrauchs in den Folgejahren.Richtig daran ist,dass sexueller Missbrauch nicht allein ein kircheninternes Phänomen und Problem ist, sondern ein gesamtgesellschaftliches.Auch ist nicht zu übersehen, dass sich familiäre Strukturen in den vergangenen 40 Jahren in Deutschland massiv verändert haben mit der Folge von Familiendysfunktionen. Nicht zu leugnen ist weiter, dass eine in dieser Zeit entwickelte emanzipatorische Sexualerziehung von selbsternannten „Anwälten kindlicher Sexualität“ für eigene pädophile Interessen missbraucht worden ist.Als Konsequenz aus diesem Sachverhalt wird nun bisweilen behauptet, wenn die Kirche stärker auf Distanz zur Gesellschaft ginge, würde dies sexuellem Missbrauch in den eigenen Reihen wirksamer vorbeugen. Dem gegenüber steht die Erkenntnis, dass bei sexuellem Missbrauch meist nicht das Sexuelle im Vordergrund steht, sondern „sexueller Missbrauch ist Machtmissbrauch“ (Ursula Enders). Ebenso wichtig ist es, zwischen sexuellem Missbrauch und Pädophilie zu unter-

März 2012/1 Jesuiten 11 scheiden. Nur ein Bruchteil der Missbrauchstäter ist tatsächlich pädophil. Durch die umfangreiche öffentliche Diskussion ist deutlich geworden: Zumeist handelt es sich um „Ersatzhandlungstäter“ aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld, die sexualisierte Gewalt anwenden. Die Popularisierung des Themas und die Stärkung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung haben nicht zur Zunahme der Fälle geführt, sondern zur Zunahme der Zahl der bekannt gewordenen Fälle, auch in der Kirche (bei der Annahme einer gleichbleibenden Dunkelziffer): „In den letzten Jahrzehnten fand eine enorme gesellschaftliche Enttabuisierung der Sexualität statt, was sich in derVeränderung der Gesetze und Rechtsprechung niederschlägt. Seit die Opferrechte zunehmend Stärkung erfahren, wagen sich Menschen aus ihrer Isolation, um zu berichten, was ihnen angetan wurde.“ (Ursula Gasch) . DieserWandel der Sichtweise vollzieht sich jedoch in der katholischen Kirche zeitversetzt. Ursula Gasch sieht eine Begünstigung sexueller Übergriffe und deren Vertuschung durch kircheninterne Strukturen: „Hingegen trug der bislang innerhalb der Kirche vorherrschende, durch Verdrängung und Verleugnung geprägte Stil im Umgang mit dem Thema Sexualität an sich und der Problematik sexuellen Missbrauchs insbesondere dazu bei, dass sich Täter relativ unbehelligt hinter dem Schutz kirchlicher Strukturen verstecken konnten.“ Die Kirche hat im letzten Jahr nach dem Bekanntwerden zahlreicher Fälle von sexualisierter Gewalt in ihrem Bereich,angestoßen durch Pater Klaus Mertes SJ, Richtiges getan: Sie hat Fachkompetenz „von außen“ in Anspruch genommen und sich die Erfahrungen von zahlreichen Fachfrauen und -männern, die sich schon seit Jahren in unserer Gesellschaft für die Prävention einsetzen und um Betroffene sorgen, zunutze gemacht. Daraus erwachsen sind konkrete Regelungen und Praxishilfen,die sexualisierte Gewalt in Gemeinden, Schulen, Internaten, Jugendverbänden und karitativen Einrichtungen verhindern wollen, indem sie für Strukturen und Symptome sensibilisieren und den dort Verantwortlichen Verhaltensregeln für den Umgang mit Grenzverletzungen geben. Wichtiger ist noch, dass das Thema in fast allen kirchlichen Einrichtungen aus der Tabuzone geholt wurde. Für eine glaubwürdigeVerkündigung sind Informationen und kritische Anfragen „von außen“ für die Kirche lebensnotwendig. Der Dialog mit der Welt war und ist für die Kirche auch Hilfe und Stütze. Der Kirche darf es aber nicht nur um sich selbst gehen.Aus ihrer religiösen Sendung fließen „Auftrag, Licht und Kraft, um der menschlichen Gemeinschaft zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein“ (Gaudium et spes 42). Daher ist es der Kirche auch aufgegeben, gegen sexualisierte Gewalt als gesamtgesellschaftliches Phänomen anzugehen. Diese Aufgabe kann sie leisten, wenn sie dreiVoraussetzungen erfüllt: Sie muss eigene Fehler zugeben und korrigieren können; sie muss transparent und glaubwürdig mit Opfern und Tätern sexualisierter Gewalt in eigenen Einrichtungen umgehen; und sie darf sich nicht von der Gesellschaft distanzieren, sondern muss in ihrer Mitte stehen und gegen das Auseinanderbrechen des Evangeliums, das zu verkünden ihr aufgetragen ist, und der Welt, der Gesellschaft arbeiten. Theo Paul

12 Jesuiten Schwerpunkt: Entweltlichung – Verweltlichung Schwerpunkt Heilung und Heiligung der Gesellschaft „Glücklich seid ihr, die ihr die kleinen Schritte wagt und die Spannung zu den großen Zielen aushaltet. Ihr werdet durch den Mut zum Fragment den Weg zur Menschlichkeit finden.“ (Michael Fischer) Das christliche Engagement im Gesundheitswesen hat eine lange und bewährte Tradition. Bei der Fürsorge für Kranke haben Christen ihr größtes Vorbild in Jesus selber, der sich kranken und aussätzigen Menschen zuwandte und diese heilte. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter macht darauf aufmerksam, dass die Versorgung eines Kranken oder Leidenden komplex und vielschichtig ist. Der heutige Alltag in Krankenhäusern beinhaltet medizinische und pflegerische sowie administrative Elemente mit dem primären Ziel guter und professioneller Arbeit zum Wohl des Patienten. Durch zahlreiche Faktoren sind Krankenhäuser äußerst dynamische und gleichzeitig empfindliche Schmelztiegel für Konflikte. Wie steht es dabei aber um das christliche Zeugnis in der Welt, hier: im Krankenhaus? Unterscheidet sich ein christlicher Mitarbeiter von einem nicht-christlichen Kollegen? Als Heinrich Pesch Haus machen wir im Rahmen von Führungskräftetrainings, Weiterbildungen für Ethikkomitees oder Profilschärfungsprozessen die Erfahrung, dass Arbeit im Krankenhaus gewissermaßen ständige Krisenintervention ist. Der Grund dafür liegt eigentlich auf der Hand: Mitarbeiter eines Krankenhauses treffen dort auf Menschen, die aufgrund physischer oder psychischer Faktoren aus ihrem „normalen“ Leben herausgerissen sind. Es ist daher die ständige Präsenz individuell empfundener Not, welche die Arbeit im Krankenhaus prägt und noch von hohem (zeitlichem und finanziellem) Druck begleitet wird. Auf den hl. Vinzenz von Paul, dessen Leben vom Einsatz für kranke Menschen geprägt war, geht der vielschichtige wie einfache Satz zurück: „Sorgt, so gut ihr könnt.“ Einerseits einfach, weil der Satz prägnant die Maxime aufstellt, in der Sorge keine Mühen zu scheuen. Vielschichtig andererseits, weil damit implizit Abstand genommen wird von einem Diktat der Perfektion und Allmacht. Es wird dem Umstand wertschätzend Rechnung getragen, dass das Wirken des Menschen immer fragmentarisch bleiben darf. Das „so gut ihr könnt“ rechnet gewissermaßen damit, dass man irgendwann einmal oder vor gewissen Problemen selbst eben nicht mehr kann, ja möglicherweise sogar machtlos ist.Wir dürfen uns von dem Pflichtgefühl befreien, alles zum Guten wenden zu müssen. Übrigens ist das Scheitern gegenüber diesem Pflichtgefühl nicht selten der Grund für Verzweiflung und Resignation. Umgekehrt heißt das dann aber auch, dass zum Beispiel die Spannung zwischen dem Anspruch an gute Arbeit und der Wirklichkeit wiederkehrender Momente des Scheiterns auszuhalten ist. Christen und Nichtchristen stehen vor der gleichen Aufgabe: Sich angesichts besonderer Krisen und Konflikte angemessen zu verhalten, Spannungen auszuhalten, sich selbst von überhöhten Leistungserwartungen zu befreien und entsprechende Situationen durchzustehen. Das spezifisch Christliche im Krankenhausalltag ist nicht messbar oder an nackten Zahlen ablesbar. OrdentlicheVollzüge

März 2012/1 Jesuiten 13 bis hin zu unangenehmen Personalentscheidungen müssen Christen wie Nicht-Christen gleichermaßen treffen. Das unterscheidbar Christliche findet sich in einer gewissen Haltung und verinnerlichten Gewohnheiten (ethisch gesprochen: Tugenden), aus denen heraus gearbeitet und dem Mitmenschen – seien es Kollegen, Geschäftspartner oder eben Patienten – begegnet wird.Wenn viele Menschen aus diesen Haltungen heraus leben – und dies ist die Voraussetzung für eine entsprechende Umsetzung etwa bei der Arbeit im Krankenhaus –, entwickelt sich ein besonderer Geist, welcher vielfach in konfessionellen Krankenhäusern für Patienten, Angehörige, Mitarbeitende und Geschäftspartner zu spüren ist. Äußerlich „messbar“ ist das dann oft nur indirekt und auf lange Sicht gesehen, wenn gewisseWerte nachhaltig durchgehalten werden: Zum Beispiel im beharrlich wertschätzenden Umgang mit den Sorgen der Menschen, im Zugeständnis persönlicher Begrenzung und Fehlbarkeit bei sich selbst oder etwa dem Mitarbeiter oder auch in der Bereitschaft zu Kritik und offener Kommunikation. Beim Einzelnen müssen christliche Tugenden wie Geduld, Hoffnung oder Demut verinnerlicht werden und wiederum aus und in dem Inneren wirken. Wenngleich auch dies keine Garantie für fehlerfreies Handeln oder keinen Schutz vor dem Scheitern darstellt, wird dadurch zumindest ein weiterer Deutungshorizont aufgerissen, dem entsprechend sich zu verhalten der christliche Glaube einlädt. Christen sind dabei also nicht die Einzigen, doch ihr Hintergrund legt ihnen nahe, beim demVersuch nicht die Letzten sein, derWelt als eine Art exemplarische „Heilige“ zu dienen. Erst der beharrlicheVersuch zuVerwirklichung und Umsetzung dieser Haltungen ermöglicht Heilung und Heiligung in der Welt. Dr. Klaus Klother Birgit Meid-Kappner Foto: Weigand

14 Jesuiten Schwerpunkt: Entweltlichung – Verweltlichung Schwerpunkt Gott zwischen den Kochtöpfen finden Lange Jahre stand in meiner Nähe die Spruchkarte „Gott ist auch zwischen den Kochtöpfen zu finden“ – ein Zitat aus den Schriften der großen Theresa von Avila (1515-1582). Sicher, es gehört auch zu einem Jesuiten, dass er sich zwischen Kochtöpfen zurechtfindet und mit ihnen vielleicht so umgehen kann, dass andere sich über ein gutes Essen, je nach Talent zubereitet, freuen können und damit sogar zu einer Ahnung von Gott und der Schönheit seiner Schöpfung finden können. Doch der Satz geht tiefer. Er offenbart eine Lebens- und Glaubenshaltung, die mit einer Spiritualität zu tun hat, die Alltag und Fest verbindet, die Glaube und Welt in Zusammenhang bringt, die die Menschwerdung Gottes ernst nimmt und konkret macht. Der Satz bringt zum Ausdruck, dass ich Gott bei allem, was ich tue, auf die Spur kommen kann, wenn ich es in einer bestimmten Weise tue. Oder von ihm her gesprochen: dass Gott mir und meiner Sehnsucht nach Sinn und Heilung, nach Glück und Vollendung auf die Spur kommen kann, wenn ich mich für ihn und seine Welt öffne, ganz gleich, wo ich stehe, ob bei den Kochtöpfen oder vor Schülerinnen und Schülern, ob bei der Pflege von Kranken oder beim Suchen nach einer neuen Vision für ein Projekt, das ich beginnen soll. Doch worauf kommt es an, welche Weise des Tuns ist gemeint? Welche Haltung tut Not? Ignatius schreibt einmal: „Nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern dasVerkosten der Dinge von Innen her.“ Anders gesagt: Nicht das Ansammeln von Wissen, nicht das immer mehr und immer anders, nicht die Quantitäten führen uns zur Erfüllung, zum Ankommen beim Wesentlichen, bei uns selbst und bei Gott, sondern dasVerweilen undVerstehen des Einzelnen, die Suche nach seiner Mitte und das, was hinter ihm steht und was es im Innersten trägt. Es geht um Schauen, Schmecken und Verkosten, es geht um Begegnung und Beziehung, es geht darum, den zu entdecken, der allem Dasein gibt, Wachstum und Werden. Und das Glück des Menschen zeigt sich in der Erfahrung, beim Wachsen und Werden, das jedem menschlichen Dasein aufgegeben ist, mitwirken zu dürfen. Mitzuwirken in der Haltung der achtsamen Hingabe, mit Herz undVerstand und dem Bewusstsein, darin mit IHM verbunden zu sein und dem zu dienen, der der Grund von allem ist: Gott. Und diese Welt ist der Ort, wo nach Gottes Wille und Menschwerdung Himmel und Erde sich berühren, wo Gott Wohnung genommen hat, damit wir IHN und ER uns findet. Auch wenn Seine Welt nicht einfach von unserer Welt ist. Vielmehr soll unsere Welt immer mehr von Seiner Welt werden. Deshalb dürfen wir auch bitten, wie es Hanns Dieter Hüsch einmal formulierte: „Er möge von seiner Heiterkeit ein Quentchen in uns hineinpflanzen, auf dass sie bei uns wachse, blühe und gedeihe, und wir unseren Alltag leichter bestehen… Wir bitten ihn um seinen Trost, um seine Hilfe, um seinen Verstand und um seine Gnade. Und darum, dass der Hass die Welt verlasse und die Liebe in allen Menschen wohne, um uns von Gottes Zukunft zu erzählen.“ Ja, unsere Welt werde immer mehr von Seiner Welt. Deshalb ist ER Mensch geworden, deshalb ist „ER auch zwischen den Kochtöpfen zu finden.“ Und wer sich auf die vielen „Kochtöpfe“ einlässt, steht in einer guten Tradition von Mystik und handfestem Glauben und er weiß Theresa von Avila, Ignatius von Loyola und manch andere an seiner Seite. Joachim Gimbler SJ

März 2012/1 Jesuiten 15 Foro: Weigand

16 Jesuiten Schwerpunkt: Entweltlichung – Verweltlichung Schwerpunkt Kirchensteuer Weltweit benötigt jede Glaubensgemeinschaft für ihre Zwecke Geld.Auch die Religionsgemeinschaften in Deutschland. Die Sorge für die Gläubigen und ein lebendiges kirchliches Leben, Caritas und solidarische Hilfe im Inneren wie in der Einen Welt gibt es nicht zum Nulltarif. Die deutsche Geschichte hat für die christlichen Kirchen, für die jüdische Gemeinschaft und für möglicherweise eine Reihe weiterer Religionsgemeinschaften ein System der Kirchenfinanzierung hervorgebracht, das als eine Besonderheit gelten darf. Ausgangspunkt der heutigen Kirchensteuer sind die Enteignungen der Kirche am Ende der napoleonischen Zeit. Die weltlichen Herren, denen das Kircheneigentum in die Hände fiel, sollten zur Entschädigung selbst für eine angemessene Ausstattung der Kirche sorgen. Bald begannen kleinere Territorialstaaten, den Kirchen ein Recht zur Steuererhebung einzuräumen. Das war die Geburtsstunde der Kirchensteuer, die dann in derWeimarer Reichsverfassung rechtlich verankert wurde und dies auch im heutigen Grundgesetz noch ist. Alle Bundesländer haben zur Ausführung die nötigen Landesgesetze geschaffen, denen auf kirchlicher Seite Kirchensteuerordnungen entsprechen. Unumstritten ist sie aber keineswegs, die Kirchensteuer. Einige Kritiker haben grundsätzliche Einwände und argumentieren, dass sie der gebotenenTrennung von Kirche und Staat widerspreche. Andere – unter ihnen viele engagierte Kirchenmitglieder – sind zwar durchaus bereit, einen Kirchenbeitrag zu leisten, aber nicht in Gestalt der Steuer, sondern so, dass sie selbst über die Zwecke und Empfänger ihres Geldes entscheiden. Eine Zweckbindung ist nämlich bei der Kirchensteuer – wie auch bei jeder anderen Steuer – nicht möglich. Schließlich findet die Kirchensteuer auch bei denen kaum Akzeptanz, die die Kirchen ohnehin für ein Auslaufmodell halten und deren Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Orientierung und zu einer Kultur der Solidarität und Hilfe für Menschen in Not für überflüssig halten. Die Kirchenverantwortlichen in Deutschland erwidern auf die Kritik, dass die Kirchensteuer die Sphären von Staat und Kirche säuberlich auseinanderhält. Denn es ist die Kirche, die die Steuer erhebt, und zwar als Mitgliedsbeitrag und nur von ihren Gläubigen. Sie setzen sich auch mit dem Argument auseinander, das immer wieder mit großem Pathos vorgetragen wird, dass nämlich in Italien die Dinge vorbildlich seien, weil dort der Steuerpflichtige einen bestimmten Teil seiner Steuerschuld nach freiem Ermessen einer sozialen Organisation seines Vertrauens – besonders auch der katholischen Kirche – zuwenden kann. Die Befürworter der deutschen Kirchensteuer wenden dagegen ein, in Italien handele es sich eben um staatliches Geld, das der Kirche überlassen werde, nicht um Kirchengeld, das zu keinem Zeitpunkt dem Staat zustehe. Die deutsche Kirchensteuer entlastet dabei den Staat in großem Umfang. Alle Gelder, die die Gläubigen mittels ihrer Kirchensteuer ins Bildungswesen und vor allem in soziale und karitative Einrichtungen geben, würden bei Fortfall der Kirchensteuer allgemein vom Steuerzahler aufzubringen sein, was einen spürbaren Mehrbedarf an Finanzmitteln mit sich bringen würde. Denen, die selbst entscheiden wollen, wem der Kirchenbeitrag zufließen soll, halten die

März 2012/1 Jesuiten 17 Befürworter der Kirchensteuer entgegen, dass eine langfristig konzipierte Arbeit der Kirche nicht gut möglich sei, wenn ständig neu Gelder eingeworben werden müssen und die Finanzgrundlagen von Aktivitäten nicht stabil ist. Es gebe zudem Gerechtigkeitsprobleme, wenn man ständig Finanzunterstützung einwerben muss, weil weniger spektakuläre Aktivitäten und die Arbeit in unpopulären, aber kirchlich wichtigen Bereichen sonst ins Hintertreffen geraten würden. Gegen diese Überlegung hilft auch der beliebte Hinweis auf die Situation der Kirche in den USA wenig, wo freiwillige, oft mit großem Aufwand gewonnene Zuwendungen das Leben der Gemeinden und Bistümer finanzieren. Die Art und Weise, wie man in beiden Ländern Gutes tut, ist eben doch sehr verschieden; was übrigens die deutschen Bistümer nicht daran hindert, verstärkt nach amerikanischem Vorbild auch auf Fundraising usw. zu setzen. Die Kirchensteuer ist nützlich für die Kirche und erleichtert ihr und den anderen steuererhebenden Religionsgemeinschaften in Deutschland viele Aktivitäten. Davon haben nicht nur die Kirche und die Menschen in praktisch allen Notgebieten dieser Welt Nutzen, denen ja auch Kirchensteuergelder in hohem Maße zugutekommen. Auch die Möglichkeiten einer direkten Unterstützung römischer Aktivitäten würden erheblich geschmälert. Gleichwohl ist natürlich richtig, dass die Kirchensteuer für die Kirche nicht lebensnotwendig ist. Es gibt zahllose andere Systeme der Kirchenfinanzierung, und die Kirche kann auch da in Blüte stehen, wo sie selbst wenig materielle Möglichkeiten hat. Papst Benedikt XVI. hat während seines Besuchs in Deutschland im vergangenen September beharrlich gemahnt, man solle sich in der Kirche vor allem um einen lebendigen Glauben kümmern und nicht primär um die Organisation des Kirchenlebens. Er hat damit eine Versuchung thematisiert, welche die Kirchensteuer befördern kann: dass man sich auf der Grundlage eines sicheren materiellen Auskommens zu wenig darum kümmert, das Feuer des persönlichen Glaubens und der Liebe immer wieder zu entfachen und zum Leuchten zu bringen, und stattdessen im Übermaß institutionelle Probleme bearbeitet. Diesen unbedingten Vorrang des Geistlichen meint der Papst wohl, wenn er auf eine „Entweltlichung“ der Kirche drängt. Die wirtschaftliche Stärke Deutschlands hat dazu geführt, dass die deutschen Bistümer im vergangenen Jahr über 5 Mrd. Euro Kirchensteuer eingenommen haben. Sie geben über ihre Verwendung Rechenschaft. Eine Dauer hat aber diese hohe Einnahmesumme nicht. Die Gläubigenzahlen sind rückläufig. Die Bistümer haben bereits beträchtliche Sparprogramme aufgelegt. Sie sollten dies als Chance zur Profilverbesserung nutzen! Zugleich kommen auch auf die Orden und wohl auch die Klöster schwierigere Zeiten zu: Sie haben keinen Anspruch auf Kirchensteuer und können nur indirekt Nutzen von ihr haben. Sie laufen Gefahr, kirchensteuerfinanzierte Unterstützungsleistungen der Bistümer nicht länger zu erhalten und in erhebliche wirtschaftliche Engpässe zu geraten. Ob es eine Stunde der Profilierung auch der Orden wird, ist noch offen. Oder auch der Kreativität, die dann der ganzen Kirche zugute kommen könnte! Hans Langendörfer SJ

18 Jesuiten Schwerpunkt: Entweltlichung – Verweltlichung Schwerpunkt Staat und Kirche DasVerhältnis von Staat und Kirche ist wieder einmal in der Diskussion. Forderungen nach einem Ende der Leistungen des Staates an die Kirchen, der Kirchensteuer, des Religionsunterrichts an den Schulen, der Theologie an den Universitäten sind laut geworden. Gegenüber denen, die solche radikalen Forderungen erheben, gegenüber neuen Laizisten, alten Atheisten und vielen, die es nicht so genau wissen (wollen oder können), sind einige einfache und zugleich grundsätzliche Einsichten in Erinnerung zu rufen: Erstens. Der Staat des Grundgesetzes ist weltanschaulich neutral, er verficht selbst keine Weltanschauung, favorisiert keine bestimmte Religion oder Weltanschauung, um so die Religionsfreiheit seiner Bürger zu ermöglichen. Er gibt ausdrücklich Raum für die starken Überzeugungen seiner Bürger, die die Zivilgesellschaft prägen und so den Staat tragen. Er ist also kein säkularistischer Staat, also auch kein Staat der einen säkularen Humanismus befördert und Religion aus der Öffentlichkeit verdrängt! Genau das aber wollen die Laizisten mit ihren Forderungen. Die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit ist zugleich die Aufforderung an die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und ihre Mitglieder, aus dem Raum des Innerlichen, des bloß Privaten herauszutreten und den Gemeinsinn mit zu formen, an der Gesellschaft mitzubauen, also öffentlich zu wirken, „weltlich“ zu werden. Weil der Staat des Grundgesetzes nicht alles selbst erledigen kann und will, lädt er dazu ein, dass die Bürger aus ihren jeweiligen Überzeugungen heraus und nach gemeinsamen Regeln subsidiär zusammenwirken, über religiöse und kulturelle Unterschiede hinaus gemeinsam das soziale, kulturelle und politische Leben gestalten. Für einen breiten Werte-Konsens Zweitens. Für den Zusammenhalt einer pluralistischen Demokratie, einer in vielerlei Hinsicht widersprüchlichen Gesellschaft reicht offensichtlich nicht allein das aus, auf das zunächst und ganz selbstverständlich hingewiesen werden kann und muss: die gemeinsame Sprache, die Anerkennung von Recht und Gesetz, der vielgerühmte und notwendige Verfassungspatriotismus. Auch nicht die Beziehungen, die die Gesellschaftsmitglieder über den Markt und über den Arbeitsprozess miteinander eingehen. Über all dies Notwendige hinaus bedarf es grundlegender Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen in dem, was wir Maßstäbe, Normen, „Werte“ nennen. Es bedarf tendenziell gemeinsamerVorstellungen von der Freiheit und ihrer Kostbarkeit, von Inhalt und Umfang von Gerechtigkeit, vomWert und der Notwendigkeit von Solidarität, von sinnvollem und gutem Leben, von derWürde jedes Menschen, von der Integrität der Person, von Respekt und Toleranz usw. Dieses nicht politische, sondern weltanschaulich-moralische Fundament einer gelingenden Demokratie ist nicht einfach und ein für

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