Jesuiten 2012-1

März 2012/1 Jesuiten 19 alle Mal da, sondern ist gefährdet, kann erodieren, ist umstritten, muss immer wieder neu erarbeitet werden. Das ist der Sinn des oft zitierten Satzes von Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt vonVoraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann.“ Die Verantwortung für diese Voraussetzungen tragen die kulturellen Kräfte einer Gesellschaft und darin eben auch und in besonderer Weise Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften! Oft wird abwehrend gesagt, man solle Religion und die Kirchen nicht funktionalistisch darauf reduzieren, der moralische Kitt einer Gesellschaft zu sein oder jedenfalls für diesen sorgen zu müssen. Darauf reduzieren gewiss nicht! Aber die Kirchen sollten sich dieser Aufgabe, diesem Dienst an der demokratischen Gesellschaft nicht entziehen – um der Demokratie und auch um ihrer selbst willen. Drittens. In unserem Staat gilt das Prinzip der Subsidiarität, das heißt der Staat soll und will nicht alles selbst erledigen, alle Aufgaben verstaatlichen, sondern er delegiert Aufgaben an die Bürger und ihre zivilen, sozialen Organisationen. Genau vor diesem Hintergrund ist über die kritisch angesprochenen Kirchenfinanzen zu reden. Es geht bei der staatlichen Unterstützung diakonischer bzw. karitativer Einrichtungen nicht um ungerechtfertigte Finanzierung von Kirchen. Diese erhalten die Mittel für Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Jugend- und Altenpflege gerade nicht, weil sie Kirchen sind, sondern weil sie den Staat bei seinen zentralen Aufgaben als Sozial-, Bildungs- und Rechts-Staat unterstützen. Indem der Staat viele seiner Aufgaben verschiedenen Trägern – nicht nur Kirchen, sondern auch ganz unterschiedlichen freien Wohlfahrtsverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen – überträgt und diese entsprechend finanziell unterstützt, fördert er die Vielfalt von Angeboten und damit den sozialen und kulturellen Reichtum unserer Gesellschaft. Unter der Perspektive des Subsidiaritätsprinzips kehrt sich das Vorzeichen der Rechnung um: Dann erscheint der Eigenbeitrag der Gläubigen als finanzielle Unterstützung des Staates – mindestens als Gewinn für beide Seiten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat 2008 unter dem Titel „Religion als Ressource sozialen Zusammenhalts?“ eine „empirische Analyse der religiösen Grundlagen sozialen Kapitals in Deutschland“ vorgelegt. Diese Analyse würdigt „das Potential der Religion, über Identitäts- und Statusgrenzen hinweg integrierend zu wirken und damit brückenbildendes Sozialkapital zu generieren“. Der Befund ist einfach und überzeugend: „Für alle betrachteten religiösen Gruppen gilt, dass öffentliche religiöse Praxis mit einem größeren Freundschaftsnetzwerk und einer regeren Sozialbilität (Fähigkeit, sich sozial zu verhalten) einhergeht und damit eine bedeutende Quelle sozialer Integration darstellt.“ Der säkulare demokratische Rechtsstaat wäre sehr dumm, wenn er auf dieses Potential verzichten würde! Wolfgang Thierse MdB

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