Jesuiten 2012-2

8 Jesuiten Schwerpunkt: Bildung Schwerpunkt Ein Lob der zweckfreien Bildung Anna Eilemann (66) hat an der Uni ein Seniorenstudium in Philosophie begonnen, Friedhelm Moser (72) verbringt fast jede freie Minute entweder im Schwimmbad oder in der Volkshochschule, um sich gegen Alzheimer zu schützen. Und auch viele Kinder wie etwa die zehnjährigen Mädchen Steffie und Isabell müssen heutzutage nahezu rund um die Uhr ihre Talente entfalten: Nach sechs Stunden Schule, nach Ballett- und Musikunterricht am frühen Nachmittag, schaffen sie es gegen 17 Uhr erschöpft und abgehetzt noch gerade so in die Kinder-Gruppenstunde der Gemeinde. Erstaunlich, wer und auf welche Weise sich da alles so bildet in unserem Land der Bildungsoffensive. Bildung ist in unseren Tagen fast zum Kampfbegriff mutiert, weil sie viele Menschen für unser wahres Kapital halten. „Non scholae, sed vitae discimus“ – „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ stand über dem Portal meiner Schule. Heute appellieren Politiker an die Bürger, dass man sich ein Leben lang bilden müsse, weil das gut sei für die mentale Fitness und gut ausgebildete Menschen darüber hinaus denWirtschaftsstandort Deutschland stärkten. Davon war meine Tante Nannerl noch nicht infiziert. Es war urgemütlich, wenn wir als Kinder am Morgen noch ein wenig in ihrem Bett kuscheln konnten und fasziniert ihren Geschichten von früher lauschten. Einfach so. Und eine der tiefsinnigsten chassidischen Geschichten erzählt von dem bildungshungrigen Rabbi Schmelke, der, um nicht zu viel Zeit zu verschlafen, nur sitzend ruhen wollte und eine brennende Kerze zwischen den Fingern hielt, die ihn wecken sollte, sobald die Flamme seine Hand berührte. Ein befreundeter Rabbi überredete ihn dann doch einmal,sich richtig schlafen zu legen. Er schlief bis zum hellen Morgen und als er danach vor die Gemeinde trat und den Gesang vom Schilfmeer sang, waren die Zuhörer so tief berührt, dass sie den Saum ihrer Kaftane rafften, um nicht von den Wellen benetzt zu werden. Im Schlaf hatte der Rabbi zu seiner wahren inneren Stärke und Heiligkeit gefunden. Einfach so. Ich selber nehme manchmal zwischendurch einen Gedichtband zur Hand und lese ohne Absicht – mitten am Tag von „Sternenstaub“ oder verliere mich abends in „Birkenhainen“. Nicht für eine Predigt, nicht für einenVortrag, nicht um mein Gedächtnis zu trainieren, sondern einfach so. Werner Holter SJ

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