Jesuiten 2012-2

Bildung ISSN 1613-3889 2012/2 Jesuiten

Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Was ist Bildung? 4 Da lehrte Gott ihn wie ein Kind 6 Impulse aus der Schulseelsorge 8 Ein Lob der zweckfreien Bildung 9 Gerechtigkeit bilden – in der Jugendpastoral 10 Bildung lohnt 12 Inklusion 14 Jesuitenschule, einmal anders 15 Wie das Geld die Bildung verändert 17 Von Helden und Langweilern 18 Die Klugheit des Bildungsfriedens 20 Vom Umgang mit dem pädagogischen Erbe 21 Bildungssatt? Erwachsenenbildung heute Geistlicher Impuls 22 Weisheit als Lebensbildung Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 28 Jubilare Medien 29 Der Mensch ist gut, nur die Leute sind schlecht Rückblick 30 Abschied aus Aachen, Essen und St. Kunigund (Nürnberg) 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Die besondere Bitte Hochschulen suchen Freunde 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2012/2 2012/2 Titelbild sowie weitere Bildmotive zum Themenschwerpunkt „Bildung“: Leopold Stübner SJ

Juni 2012/2 Jesuiten 1 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, haben Sie sich heute schon gebildet? Noch nicht? Dann wird es aber Zeit! Zeit, die Sie nicht verlieren sollten. „Bildung“, das klingt verheißungsvoll. DasVersprechen und die Aufgabe der Bildung ist das unangefochtene Mantra vieler gegenwärtiger Diskussionen – sei es um denWert der Familie, um die Aufgabe der Integration oder um den Sinn des Altwerdens. Doch die Bildungseuphorie hat auch ihre Schattenseiten: Jedes Lebensalter, jede frei verfügbare Zeit wird ihr untergeordnet und droht funktionalisiert zu werden. Und:Wer hat teil an dieser Bildung, wer bleibt außen vor? Zwischen funktionaler Ausbildung und umfassender Bildung der Persönlichkeit, zwischen dem Ideal der Universalbildung und der Realität modularisierter Weiterbildungszwänge ist das Bildungsthema vielleicht auch deswegen so populär, weil „Bildung“ verspricht, dass ich mein Leben selbst in der Hand habe und mich immer neu selbst gestalten kann.Der Philosoph Peter Sloterdijk bringt es auf den prägnanten Titel: „Du musst Dein Leben ändern!“ Nun kann man diese Formel durchaus mit einem christlichen Zungenschlag aussprechen: Du bist nicht ein für allemal festgelegt, du kannst umkehren und dein Leben gestalten, du bist wertvoll und verantwortlich zugleich – all dies sind Grundlagen der „Bildung“ und zugleich durchaus Bausteine dessen, was man gerne „christliches Menschenbild“ nennt. So verwundert es nicht, dass der Jesuitenorden von den Anfängen an Bildung als Ideal und Aufgabe ansah, von den inneren Prozessen der Exerzitien bis zu den großen Institutionen der Schulen und Universitäten. Dennoch besteht gerade in Deutschland kein Grund dazu, die Verbindung von Bildung und Jesuitenorden nur als eine Erfolgsgeschichte zu erzählen. Die Erfahrung der sexuellen Gewalt und der missbrauchten Macht, die Schüler und Schülerinnen in Schulen und Jugendverbänden der Jesuiten gemacht haben, stellt die Frage nach den Schattenseiten jesuitischen Engagements in der Bildung.Die Redakteure haben sich bewusst entschieden, dieses Heft nicht zu einer Auflistung von Präventionsmaßnahmen und dessen, „was wir gelernt haben“, zu machen. Ersteres wäre geschmacklos, zweites zu früh. In zwei Artikeln soll das Thema des Missbrauchs explizit angesprochen werden. Abgeschlossen ist es keineswegs und die Frage, was es für den Orden bedeutet, ist noch nicht einmal anfänglich ausgelotet. Insgesamt gibt es also Grund genug zu fragen, welche Aspekte das jesuitische Verständnis von Bildung aufweist. Drei Themen stehen dabei im Vordergrund: Das erste fragt nach der Verbindung von Spiritualität und Bildung und bietet so die Grundlagen. Das zweite versucht, „Bildung“ und „Gerechtigkeit“ zusammenzubringen – eineVerbindung, die der Orden nach dem II. Vatikanischen Konzil in besonderer Weise entdeckt hat und zu fördern versuchte. Der dritte Aspekt widmet sich explizit aktuellen Spannungsfeldern. Also: Haben Sie sich heute schon gebildet? Wir wünschen Ihnen, dass Sie dies mit diesem Heft tun – und dabei auch einige Freude finden können. Holger Adler SJ Tobias Specker SJ Tobias Zimmermann SJ

2 Jesuiten Schwerpunkt: Bildung Schwerpunkt Was ist Bildung? Ein Mensch kann einen anderen nicht bilden. Er kann ihn nur ausbilden. Bilden kann man sich nur selbst. „Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können.Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein“, schreibt der Philosoph Peter Bieri. Es geht bei der Bildung also um mehr als informiert zu sein. Ein anderer Philosoph, Alfred N. Whitehead, konstatiert: „Ein bloß gut informierter Mensch ist der nutzloseste Langweiler auf Gottes Erde.“ Er meint, dass die in Bildungseinrichtungen vermittelten Ideen nicht bloß passiv sein dürfen. Sie müssen „in Beziehung stehen zu dem Strom aus Sinneswahrnehmungen, Gefühlen, Hoffnungen,Wünschen und geistigen Aktivitäten, der unser Leben ausmacht.“ Gelingt es der jesuitischen Pädagogik, nicht nur passive Ideen einzutrichtern, sondern Menschen hervorzubringen, die sich aktiv selbst bilden? Mitunter schon, bedenkt man, dass zum Beispiel Descartes,Voltaire und Molière Jesuitenschüler waren. Am Beispiel von Descartes kann man gut ablesen, was einen gebildeten Menschen ausmacht. Die Einführung in die klassischen Sprachen und die Mathematik, die er bei Jesuiten erfuhr, machte ihn zum Gegenteil eines Fachidioten. Sie machte ihn zu einem Menschen, der klar denken und sich klar artikulieren konnte. Obwohl er zunächst Jura studierte, bereicherte er später auch die Mathematik und die Naturwissenschaften um bedeutende Entdeckungen, wurde schließlich der Vordenker der Moderne. Er verkörpert Bildung. Der gebildete Mensch kennt die Geschichte und dieTradition.Nicht detailverliebt und rückwärtsgewandt, sondern um sie als festen Boden zu benutzen, von dem er sich in der Gegenwart zu neuen Ufern abstoßen kann. Er schafft kreativ Neues, nicht verengt in einem kleinen Bereich, sondern verwoben mit dem Ganzen seiner Zeit und Kultur. Wie wird man ein solcher Mensch? Zunächst braucht man ein Umfeld,in dem aktives Lernen und schöpferisches,auch kritisches Nachdenken geschätzt und gepflegt wird.Die geistige Liberalität, die Descartes in den Niederlanden fand, ist nur ein konkretes historisches Beispiel dafür. In einem Milieu der Enge, der Kontrolle und der passiven Ideen kann Bildung als Selbst-Bildung kaum entstehen. Externe Kontrolle und Passivität sind die größten Feinde intrinsischer Motivation. Mit dem Philosophen Kierkegaard könnte man sagen, dass das Sich-Bilden damit zusammenhängt,„sein wahres Selbst“ zu entwickeln. Diese Aufgabe kann mir niemand abnehmen. Ich kann mich daher nicht davon bestimmen lassen, in welche Kultur ich hineingeboren wurde.Wer geistige „Bildungsreisen“ in andere Kulturen unternimmt, der wird sich fragen:Wie wäre es, wenn ich im alten Rom oder im heutigen China geboren worden wäre? Gerade weil Bildung mich über den Horizont der vertrauten Lebensformen, der Gewohnheiten, ja sogar der tradierten Religion erhebt, gerade deshalb erlaubt sie mir, meine Lebensform, meinen Glauben selbstbestimmt zu wählen. Erst wenn mir Alternativen offen stehen, kann ich frei entscheiden. Bildung schützt daher gegen Totalitarismus und die Verabsolutierung partikulärer Perspektiven. Sie erfordert daher auch den ständigen Prozess, sich selbst kritisch zu hinterfragen. Das unhinterfragte Leben ist nicht wert gelebt zu werden, sagt Sokrates. Bildung heißt daher gerade nicht,dass man seine Quellen vergessen hat. Der Gebildete wird

Juni 2012/2 Jesuiten 3 seine Quellen ständig kritisch hinterfragen: „Wie ist es gekommen, dass ich so denke, wie ich denke? Will ich eigentlich denken, was ich denke?“ Bildung beginnt mit dem Appell „Erkenne dich selbst!“, der den Apollo-Tempel in Delphi schmückte. Und damit hängt der Leitspruch der Aufklärung zusammen: „Wage es, deinen eigenen Verstand zu benutzen!“ Die Geschichte europäischer Aufklärung beginnt nicht in der Moderne, sondern in der Antike. Der vielbeschriebene Übergang vom Mythos zum Logos ist auch die Geburtsstunde der Idee der Bildung. Die Hebammenkunst des Sokrates ist es gerade, dem anderen beim Gebären seiner ureigenen Gedanken zu helfen, sich zu lösen vom Hörensagen und dem Geplapper auf dem Marktplatz der Meinungen. Es geht dabei nicht um passives Faktenwissen, sondern um das Erlernen der begrifflichen Werkzeuge, um das Leben zu prüfen: naive Überzeugungen kritisch zu hinterfragen, sei es naiver Glaube an esoterische Erlösungslehren oder naive Wissenschaftsgläubigkeit.Bildung heißt also,innerlich wach zu sein, nicht leicht verführbar, sondern sogar im guten Sinne skeptisch zu sein. Die Motivationsforschung hat gezeigt, dass unabhängig von der Kultur fast alle Menschen nach drei Zielen streben: mehr Autonomie, mehr Kompetenz, mehr Einbettung in einen Sinnzusammenhang. Menschen wollen selbstbestimmt, frei und ohne Bevormundung leben. Menschen wollen kompetent sein und lernen. Schließlich wollen Menschen, dass ihr Tun und Handeln einen Zweck hat, dass es eingebunden ist in einen größeren Zusammenhang.Alle drei Ziele lassen sich nur durch Bildung erreichen. Bildung erlaubt Selbstbestimmung, Bildung vermittelt Kompetenz, Bildung eröffnet einen größeren Sinnzusammenhang. Aber wenn das so ist, dann besteht die Aufgabe der jesuitischen Pädagogik eigentlich nur darin, dieses dreifache Verlangen im Schüler zu stärken und zu nähren. Der Pädagoge ist eben eine „Hebamme“ im sokratischen Sinne. Godehard Brüntrup SJ

Schwerpunkt Da lehrte Gott ihn wie ein Kind Bildung als spirituelle Aufgabe Wenn ich bei der Einführung in die ignatianischen Exerzitien versuche, die „Unterscheidung der Geister“ zu erklären, beginne ich gerne mit der Biographie des Ignatius.Wie er, nach der verlorenen Schlacht um die Festung Pamplonas stark verwundet, sich auf dem Krankenbett in seinem Elternhaus in Loyola wiederfindet, um zu genesen. Nun gilt es, die Langeweile zu vertreiben: Ignatius verlangt nach Lesestoff. Ritterromane wären ihm am liebsten gewesen, doch man kann ihm nur die Heilige Schrift und eine Sammlung von Heiligenlegenden reichen. Die Heiligengeschichten können Ignatius inspirieren und er verbringt Stunden in selbstverliebten Vorstellungen eines Minnedienstes für eine Dame hohen Standes. Aber auch die Lebensgeschichte eines heiligen Franziskus oder Dominikus faszinieren ihn. Langsam beginnt er wahrzunehmen, dass die eine Faszination ihn zunächst wie ein Strohfeuer begeistert, am kommenden Tag jedoch vergangen ist, während das Leben eines Franziskus eine bleibende Faszination auf ihn ausübt. Es ist auf diesem Krankenlager, dass Ignatius beginnt, die Verschiedenheit der Geister zu entdecken und zu unterscheiden. Eine Parallele zu unserer Welt der modernen Medien ist nicht schwer zu ziehen:Welche Bücher,Filme,Fernsehsendungen oder Internetseiten inspirieren uns und welche lassen uns leerer zurück, mit einem schalen Nachgeschmack? Die Geistlichen Übungen des Ignatius bergen einen ganzen Schatz von Beobachtungen für eine Unterscheidung der Geister. „Sein Leben ordnen“, lautet es schon in der Überschrift. Doch was ist das Ordnungsprinzip? Es ist sicher nicht die Leistung. Dies zu lernen ist eine der größten Herausforderungen für die Menschen, die zu uns nach Bad Schönbrunn kommen,um einen der spirituellenWege zu vertiefen. Das Leistungsdenken dominiert unsere Gesellschaft und kann ganz sublime Formen annehmen. Erst wenn Gefühle der Enttäuschung in uns darüber auftauchen, dass die Tage der Stille nicht so verlaufen, wie wir es wollten, erst dann merken wir, wie oft wir etwas zu erreichen suchten, anstatt in einer Haltung der Aufmerksamkeit und Dankbarkeit zu wachsen. In den Geistlichen Übungen fordert Ignatius uns auf, beim Gebet „Gott, unseren Herrn, zu bitten, was ich will und wünsche“. Ignatius will in uns eine Spiritualität der Sehnsucht wecken. Und ähnlich wie für Jesus in den Heilungsgleichnissen des NeuenTestamentes ist es auch für Ignatius ganz wichtig,dass wir lernen, unsere Wünsche und Sehnsüchte auszusprechen. Sicher, Gott weiß, was wir brauchen, noch bevor wir es formulieren. Aber das InWorte-Fassen verändert uns. Dieses Ins-WortFassen ist ein zentraler Aspekt bei der spirituellen Anamnese, im Rahmen unseres Lehrgangs „Spiritual Care“. Ärzte lernen darin, Patienten zu ermutigen, davon zu sprechen, was ihnen in ihrem Leben bisher Sinn gegeben hat und was ihnen jetzt in ihrer Krankheit Trost und Unterstützung geben könnte. „Mit Gott sprechen,wie ein Freund zu seinem Freund spricht“, ein weiterer Hinweis des Ignatius: Unser menschenfreundlicher Gott will uns auf Augenhöhe begegnen. Er lädt uns ein zum Dialog.Vorstellungen von Gott, die 4 Jesuiten Schwerpunkt: Bildung

uns unter Druck setzen, kontrollieren, klein machen, sind nicht vom guten Geist. Diese Einladung zum Dialog ist eng mit einem weiteren Schwerpunkt des Lassalle-Hauses verbunden: dem interreligiösen Dialog. Ein Dialog hat seinen Namen nur dann verdient, wenn er wirklich auf Augenhöhe stattfindet, bereit dem anderen zuzuhören, ja vom anderen zu lernen. Es ist kein Dialog, wenn das Interesse im Vordergrund steht, den anderen zu belehren. Dies war eine Bitte von muslimischen Freunden zu Beginn unseres Pilgerprojektes nach Jerusalem. Auch wenn wir Christen in den vergangenen 20 Jahren das Pilgern wieder entdeckt haben – für die Muslime gehört der Pilgerweg schon immer zu den zentralen religiösen Pflichten. Schließlich ermahnt uns Ignatius, dass nicht das Vielwissen die Seele sättigt, sondern das Verspüren und Verkosten. Bei unseren Lehrgängen zur christlichen Spiritualität, aber auch bei Führungsseminaren in der Wirtschaft ist die Wissensvermittlung das eine, das andere ist immer wieder das Hineinfinden in die Stille und das Erspüren, was uns während der Diskussion eines Themas bewegt hat. So ist das Führen eines geistlichen Tagebuches wesentlicher Bestandteil unserer Bildungsveranstaltungen. Es geht darum, in dieser Achtsamkeit auf das, was unsere Seele bewegt, zu wachsen. „Da lehrte Gott ihn wie ein Kind“ – vielleicht ist diesesWort aus dem Pilgerbericht des Ignatius auch eine Einladung an uns, immer wieder zu dieser Offenheit eines Kindes zu finden und uns vom guten Geist führen zu lassen. Tobias Karcher SJ Juni 2012/2 Jesuiten 5

6 Jesuiten Schwerpunkt: Bildung Schwerpunkt Impulse aus der Schulseelsorge Berlin: „Darf ich mal kurz reinkommen?“ „Darf ich mal kurz reinkommen?“, so höre ich es immer wieder an meiner Bürotür. Meist verbergen sich dahinter die kleineren und größeren Sorgen, die der Schulalltag so mit sich bringt. Es ist nicht immer leicht, diesen Schritt zu wagen, doch manchmal braucht es einfach jemand, der da ist und zuhört. Ein anderes Mal genügt auch schon der Griff in die Schale mit Gummibärchen, ein paar Schläge auf den Boxsack oder ein ermutigendes Wort. Was erleben Menschen, die an die Tür der Schulseelsorge klopfen? Es tut gut, Belastendes zu teilen. Diese Erfahrung kann jeder machen, der ein schweres Erlebnis mit jemand geteilt hat. Es ist für Schüler nicht selbstverständlich, eine solche Erfahrung im schulischen Umfeld zu machen. Manchmal braucht es ein ermutigendes Wort nach einer schlechten Note, weil z.B. zuhause hohe Erwartungen Angst machen. „Wenn Du einen Fehler machst, dann feiere ein Fest“. Dieses Zitat vonVirginia Satir klingt beim ersten Lesen vielleicht ein wenig fremd. Doch wenn Schüler etwas „verbockt“ haben und wir gemeinsam darüber reden, dann kann daraus manchmal eine wichtige Erkenntnis entstehen. Mit jemandem im Hintergrund schaffe ich es doch alleine. Schüler haben manchmal den Eindruck: „Das schaff ich selber nicht!“ Da ist ein Konflikt. Sie fühlen sich ungerecht behandelt und bitten um Unterstützung. Im gemeinsamen Gespräch entdecken sie plötzlich, dass es eine ganze Reihe Schritte gibt, die sie selber unternehmen können, bevor jemand von außen eingreifen muss. Gestärkt durch diese Erfahrung wagen sie den nächsten Schritt und oftmals ergibt sich eine gute Lösung, die sie so nicht erwartet hatten. Das macht stolz und ermutigt auch andere Konflikte zu lösen. Auch mit kleinen Schritten kommt man dem Ziel näher. Das eine oder andere Problem lässt sich eben nicht gleich beim ersten Anlauf lösen.Aber in regelmäßigen Treffen kann eine Strategie entwickelt werden, mit der man Land gewinnt und so dem Ziel näher kommt. Mal braucht es eine Ermutigung, mal einen Hinweis. Ein anders Mal ist es eine Hilfe zur Zeiteinteilung, weil das Chaos gerade voll zuschlägt. Es sind viele kleine Konflikte und Probleme, die sich so lösen lassen. Auch mancher Ärger oder Trauer findet Raum und kann losgelassen werden. Es sind Erfahrungen, die auch fürs spätere Leben wichtig sind. Und wer will da noch behaupten: „Man lernt in der Schule nichts fürs Leben!“? Claus Pfuff SJ

Juni 2012/2 Jesuiten 7 Hamburg: „Klar Schiff!“ „Und zum Abschluss bitte mit den Putztüchern in die Fernsehkamera winken!“ Mit dieser Regieanweisung endete am Gründonnerstag auf dem Hof der Sankt-Ansgar-Schule in Hamburg die von einiger Medienpräsenz begleitete Reinigungsaktion „Klar Schiff!“, bei der die Schüler während der Fastenzeit Impulse zum äußeren wie innerlichen Aufräumen erhielten. Insbesondere der spektakuläre Abschluss als flashmob-ähnlicher Open-Air-Event mit religiöser Grundierung (gemeinsames Putzen, Singen, Beten, Bedenken der Schrift) darf als jugendgemäß angesehen werden, nimmt man die auf dem Würzburger Symposion für Ignatianische Pädagogik („iPäd“) dargebotenen Ergebnisse der Jugendsoziologie zum Maßstab: Jugendliche mögen posttraditionelle Vergemeinschaftungsformen, die ihnen anlass- und erlebnisbezogen das Gefühl vermitteln, Teil eines größeren Ganzen zu sein: „Ich war dabei!“ Sie lieben ungewöhnliches Inszenieren als Steigerung von Erlebnisqualität ebenso wie das „gechillte“ Ankommen. Die von der Kamera eingefangene Momentaufnahme einer bewegenden Aktion ließe sich zum Sinnbild für das nötige Nachdenken über Bildung vergrößern. Der maritime Appell „Klar Schiff!“: ein Aufruf, sich um die „Gefechtsbereitschaft“ von Schule in stürmischer See zu sorgen. Wie nah oder wie fern ist eine nunmehr im Ganztagsmodus (G8) auftretende Schule der sich dynamisch entwickelnden Lebenswelt ihrer Schüler? Wie erfahrungs- und erlebnisbezogen wird in ihr gelernt? Wie verschlankt sie ihre Lehrpläne, so dass der Schüler als Subjekt des Lernens den Stoff noch sinnvoll verarbeiten kann?Wie viel Zeit räumt sie ein, um über das Gelernte nachzudenken? Mit wie viel Sorgfalt betrachtet sie die Lernentwicklung des Einzelnen? Wie fördert und fordert sie soziales Lernen? Wie viele Inseln für unverzwecktes Dasein hält sie vor? Wie viel Geborgenheit und Heimat vermittelt sie dem Schüler, der das Gelände morgens betritt und nachmittags wieder verlässt? Wie gelingt es ihr, die Fliehkräfte ihrer vielen Aktivitäten in einem Gravitationszentrum zusammen zu halten? Religiös ausgedrückt: Wie sehr sorgt sich Schule um die Mitte all dessen, was in ihr sinnvoll angeboten wird? Eine gute Schule im Sinne einer ignatianisch geprägten Pädagogik wird diesen Appell nicht überhören. Jürgen Brinkmann Schulbücher in einem Klassenzimmer im St. Benno-Gymnasium in Dresden

8 Jesuiten Schwerpunkt: Bildung Schwerpunkt Ein Lob der zweckfreien Bildung Anna Eilemann (66) hat an der Uni ein Seniorenstudium in Philosophie begonnen, Friedhelm Moser (72) verbringt fast jede freie Minute entweder im Schwimmbad oder in der Volkshochschule, um sich gegen Alzheimer zu schützen. Und auch viele Kinder wie etwa die zehnjährigen Mädchen Steffie und Isabell müssen heutzutage nahezu rund um die Uhr ihre Talente entfalten: Nach sechs Stunden Schule, nach Ballett- und Musikunterricht am frühen Nachmittag, schaffen sie es gegen 17 Uhr erschöpft und abgehetzt noch gerade so in die Kinder-Gruppenstunde der Gemeinde. Erstaunlich, wer und auf welche Weise sich da alles so bildet in unserem Land der Bildungsoffensive. Bildung ist in unseren Tagen fast zum Kampfbegriff mutiert, weil sie viele Menschen für unser wahres Kapital halten. „Non scholae, sed vitae discimus“ – „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ stand über dem Portal meiner Schule. Heute appellieren Politiker an die Bürger, dass man sich ein Leben lang bilden müsse, weil das gut sei für die mentale Fitness und gut ausgebildete Menschen darüber hinaus denWirtschaftsstandort Deutschland stärkten. Davon war meine Tante Nannerl noch nicht infiziert. Es war urgemütlich, wenn wir als Kinder am Morgen noch ein wenig in ihrem Bett kuscheln konnten und fasziniert ihren Geschichten von früher lauschten. Einfach so. Und eine der tiefsinnigsten chassidischen Geschichten erzählt von dem bildungshungrigen Rabbi Schmelke, der, um nicht zu viel Zeit zu verschlafen, nur sitzend ruhen wollte und eine brennende Kerze zwischen den Fingern hielt, die ihn wecken sollte, sobald die Flamme seine Hand berührte. Ein befreundeter Rabbi überredete ihn dann doch einmal,sich richtig schlafen zu legen. Er schlief bis zum hellen Morgen und als er danach vor die Gemeinde trat und den Gesang vom Schilfmeer sang, waren die Zuhörer so tief berührt, dass sie den Saum ihrer Kaftane rafften, um nicht von den Wellen benetzt zu werden. Im Schlaf hatte der Rabbi zu seiner wahren inneren Stärke und Heiligkeit gefunden. Einfach so. Ich selber nehme manchmal zwischendurch einen Gedichtband zur Hand und lese ohne Absicht – mitten am Tag von „Sternenstaub“ oder verliere mich abends in „Birkenhainen“. Nicht für eine Predigt, nicht für einenVortrag, nicht um mein Gedächtnis zu trainieren, sondern einfach so. Werner Holter SJ

Juni 2012/2 Jesuiten 9 Schwerpunkt Gerechtigkeit bilden – in der Jugendpastoral Ein schöner, lauwarmer Sommerabend brachte uns vor bald zwei Jahren zusammen. Ich führte die älteren Herrschaften in die Krypta unserer Kollegskirche. Sie waren tief beeindruckt von der Kraft, die sich in diesem Raum bündelt und vom Geist, den die Mauern dort atmen. Zwei Wege hatten sich gekreuzt, die vielleicht unterschiedlicher nicht hätten sein können – und doch, es war uns, als wäre es bestimmt gewesen, dass wir uns trafen. Beim gemeinsamen Essen erzählte ich von meiner Arbeit als Schulseelsorger, von der offenen Tür zu meinem Büro und wer so alles hereinschaut, von unseren Schulgottesdiensten und Besinnungstagen und nicht zuletzt davon, warum wir Jesuiten Schule machen und uns um Jugendliche kümmern – eben weil es uns ein Anliegen ist, „Männer und Frauen für andere und mit anderen zu bilden“. Sie interessierten sich sehr für unser Mentorenprogramm,wie also ältere Schüler den Neuen helfen,sich im großen Kolleg zurechtzufinden.Sie lauschten gespannt meinem Bericht vom Sozialpraktikum, bei dem unsere Oberstufenschüler für gut vier Wochen einen Dienst in Altenund Pflegeheimen, in Krankenhäusern und Behinderteneinrichtungen tun, um dort Menschen, denen es nicht so gut wie ihnen geht, ganz nahe sind und ihnen den Alltag erleichtern. Und sie wurden hellhörig, als ich von ProCura erzählte, einer neuen Form sozialer Jugendarbeit: Jugendliche engagieren sich für ein Projekt im Ausland, sie informieren sich über die Not, sammeln Gelder, besuchen das Projekt und packen vor Ort zusammen mit einheimischen Jugendlichen an. So erfahren sie, dass sie helfen können und dass sie gebraucht werden. Sie erleben sich als Subjekte der Hilfsbereitschaft. ErstWochen später offenbarten mir die beiden, dass sie eine Stiftung gründen wollten: Für soziale Zwecke mit Jugendlichen im kirchlichen Bereich. Über Monate nahm die Idee immer konkretere Gestalt an. Unser gegenseitiges Ringen – hier das Seelsorgerische, dort das Unternehmerische – war vom gemeinsamen Geist beseelt, „den Seelen zu helfen“, und dem Wunsch, diejenigen zu unterstützen und zu fördern, die sich für andere einsetzen. Anfang 2012 wurde die „Stiftung Ignatianische Jugendpastoral“ gegründet zu dem Zweck, „Jugendliche dabei zu unterstützen, ein engagiertes Leben aus dem christlichen Glauben zu führen. Sie sollen erfahren, dass ihr Einsatz wertvoll ist und dass sie selber – gerade auch als junge Menschen – viel bewegen können.“ Das Spannende für mich an dieser Stiftung besteht darin,dass es uns allen um Bewegung und um Dienst geht: Da sind Jugendliche, die sich von der Not anderer bewegen lassen, sie engagieren und solidarisieren sich und lassen sich in Dienst nehmen. Das wiederum bewegte die beiden älteren Herrschaften, die in ihrem Leben schon viel bewegt und geleistet haben. Sie wollen etwas von dem, was ihnen gegeben wurde, zurückgeben und weitergeben und dabei selber eine aktive und zugleich dienende Rolle spielen. Diese Reihe ließe sich mühelos fortsetzen,denn dort,wo sich jemand bewegen lässt und sich bewegt, da bewegt er etwas und andere – und so soll diese Initiative der Hilfsund Dienstbereitschaft weite Kreise ziehen. Philipp Görtz SJ

10 Jesuiten Schwerpunkt: Bildung Schwerpunkt Bildung lohnt Gerechtigkeit als Ziel mit Wirkung im Alltag Gerechtigkeit fällt nicht vom Himmel, sondern wird immer wieder neu bestätigt und angewandt. Der Gerechtigkeitsdiskurs kreist um Fragen wie:Was ist gerecht? Worauf beziehen sich Gerechtigkeitsforderungen? Wie ist Gerechtigkeit am ehesten herzustellen?Wie können Menschen in schwierigen Situationen handlungsfähig bleiben und welche Bedingungen sind erforderlich? An diesen Fragen orientiert sich auch der Bildungsauftrag des Heinrich-Pesch-Hauses in Ludwigshafen. Ein Schwerpunkt unserer Arbeit liegt in der Schulung von Führungskräften aus dem medizinischen Bereich, in Banken, Schulen oder der Privatwirtschaft. Der klassische Abendvortrag mit Diskussion nimmt dabei an Bedeutung ab, ist aber immer noch unverzichtbar. Pater Hengsbach zeigt das in seiner neuen Reihe „Friedhelm Hengsbach SJ fragt nach...“, in der er u.a. mit Ministerpräsident Beck zumThema „Christen in politischerVerantwortung“ diskutierte.Zusätzlich zu den öffentlich ausgeschriebenen Veranstaltungen wendet sich heute einTeil unseres Bildungsangebotes im Rahmen von Kooperationen mit Arbeitgebern an nicht öffentlich beworbene Kreise verschiedener Berufsgruppen. Diese Kurse vermitteln etwa die Einsicht, dass man, um als Führungskraft akzeptiert zu werden, als „gerecht handelnd“ angesehen werden muss. Gerechtes Handeln setzt wiederum eine entsprechende Kompetenz voraus, die man nicht in der Ausbildung erwirbt. Nach Überzeugung vonWirtschaftswissenschaftlern wie Jürgen Weibler und Marcel Feldmann besteht Gerechtigkeitskompetenz bei Führungskräften aus der Fähigkeit, Mitarbeiter/innen an Verfahrens- und Entscheidungsabläufen angemessen partizipieren zu lassen und sie in der sozialen Interaktion mit Würde, Respekt und Anstand zu behandeln. Dies bedarf der Einübung und der ständigen praxisnahen Reflexion. Unsere Ausbildungskurse der innerkirchlichen Gewerkschaftsvertreter/innen,der so genannten MAVen, vermitteln in einer Mischung aus Theorie und Praxis umfangreiches Wissen auf arbeitsrechtlichen Gebieten und geben konkrete Handlungsempfehlungen. Wer sich auskennt, hat etwas zu sagen. Das kann auch stören! Das mögen auch Schulleiter/innen sagen, die ihre Schülervertreter/innen bei uns qualifizieren lassen.Wir achten jedoch darauf, dass diese Ausbildungen nicht gegen Leitung gerichtet sind, sondern zum Gespräch befähigen, zur Interessensvertretung und zum fairen Konflikt.Als Teile unserer demokratischen Gesellschaft brauchen auch Schule und Kirche eine angemessene Konflikt- und Partizipationskultur. Wie geht das,ein Kind erziehen?Wie kann ich mein Kind im Lernen unterstützen? Wie lese und verstehe ich Texte? Wie bereite ich ein Referat vor? Wie lerne ich Lernen? Wie teile ich meine Zeit ein? Die Arbeit unserer Familienbildung im Heinrich-Pesch-Haus unterstützt Kinder jenseits klassischer Bildungsmilieus beim Übergang der verschiedenen Schulformen. Familienarbeit bedeutet in unserer Stadt aber auch Unterstützung in der Erziehung, gerade auch für ärmere und allein erziehende Menschen. Akademie imWandel:In einem neuen Projekt sind wir in Zusammenarbeit mit kommunalen

Juni 2012/2 Jesuiten 11 Stellen mitten in der Stadt in den Sozialräumen präsent und gestalten dort Lernfelder. Es gilt Brücken zu bilden bzw. dabei zu helfen, Hürden zu überwinden, die Bildung verhindern, und Zugänge zu eröffnen. Hierfür steht u.a. ein bereichsübergreifendes Projekt mit einer Grundschule in Ludwigshafen. Vernetzung,Austausch und Bildung sind Grundpfeiler von Toleranz und sozialer Selbstbestimmtheit, weshalb sich der Erfolg dieses Projektes weit über einzelne und schulische Erfolge hinaus auf den ganzen Stadtteil auswirken kann. Mit verschiedenen Maßnahmen wie HipHop-Tanzgruppen für Schüler/innen, Begleitetes Spielen, Leseförderung und qualifizierte Hausaufgabenhilfe mit Kommunikationstraining für Erst- bisViertklässler mit Migrationsbiographie sollen günstigere Voraussetzungen für Lernen, persönliche wie soziale Entwicklung und Miteinander geschaffen werden. Akademische Fachtagungen zur Reflexion dieser Tätigkeiten bringen Ministerien, kommunale und freie Träger wie Fachkräfte zusammen. Das rheinlandpfälzische Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen hat das Netzwerk Familienbildung in unserem Haus angesiedelt, um diese Vernetzungsarbeit zu koordinieren und zu unterstützen. Viele Mitarbeiter/innen und eine Handvoll Jesuiten suchen gemeinsam danach, wie sich Bildungsarbeit heute entwickeln kann und im Alltag Wirkung hat. Für alle Beteiligten zeigt sich bisher, dass sich in den neuen Lernwegen Potential entfaltet. „Klavier vierhändig? Ich träume von viel mehr:Von einer tausendhändigen Musik, von einer Harmonie der ganzen Welt“, so der Poet und damalige Erzbischof Dom Hélder Camara aus Brasilien. Ulrike Gentner Johann Spermann SJ Atrium der Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt

12 Jesuiten Schwerpunkt: Bildung Schwerpunkt Inklusion Gerechtigkeit in der Schule Der Begriff der Inklusion zielt im Umfeld von Bildung und Schule stets auf eine möglichst umfassende gemeinsame Beschulung aller Kinder und Jugendlichen. Häufig geht es darum, dass Unterschiede in den Lernausgangslagen oder Leistungsfähigkeiten, beispielsweise durch körperliche Einschränkungen oder geistige und seelische Krankheiten, nicht länger durch eigene Schul- oder Unterrichtsformen kompensiert werden. Das bedeutet den weitestgehenden Verzicht auf Sonderbzw. Förderschulen. Diese Tendenz lässt sich gegenwärtig in vielen deutschen Bundesländern beobachten. Stattdessen gibt es innerhalb einer Schule und einer Klasse unterschiedliche, individuell angepasste Formen der Unterstützung und der Anforderungen, die an die einzelnen Schüler/innen gerichtet werden. Der Begriff umfasst aber ebenso die Überwindung der Unterschiede und Grenzen, die sich aus der Wohngegend, der ethnischen Herkunft, dem sozialen Milieu, dem Bildungsgrad oder der wirtschaftlichen Situation der Eltern ergeben. Entsprechend ist das Ziel die Umwandlung von „Problemschulen“ ebenso wie von „Eliteschulen“. Diese zwei unterschiedlichen Akzente haben ihren Ursprung in den beiden Quellen, die dem Begriff der Inklusion dazu verholfen haben, ungewöhnlich schnell aus der öffentlichen Debatte in die gesetzgeberische Realität überführt zu werden: Zum einen der engagierte und nachhaltige Protest betroffener Eltern und Elternverbände, die sich unter Berufung auf sonderpädagogische Forschungsergebnisse ebenso wie auf ihr sicheres Gespür als Eltern gegen separierte Bildungswege einsetzen, die sie zunehmend als Diskriminierung ihrer Kinder empfinden. Zum anderen waren es die Ergebnisse der PISAStudie aus dem Jahr 2000, durch die deutlich wurde, dass es in Deutschland einen außerordentlich hohen Zusammenhang gibt zwischen dem sozialem Hintergrund der Schüler/innen und ihrem realen Schulerfolg. Ob sonderpädagogische oder soziale Inklusion: Es geht immer um die Überwindung von Ausgrenzungserfahrungen und Benachteiligungen, die Schüler und Schülerinnen unverschuldet erleiden müssen. Wie kommt es dann, dass eine eigentlich so gute und gerechte Sache vielerorts, auch an Jesuitenschulen, Skepsis und Ängste auslöst? Schnell stellen sich Befürchtungen ein: Das allgemeine Bildungsniveau könnte sinken oder eine Überforderung aller Beteiligten eintreten. Wer das Anliegen der Inklusion kritisiert, muss sich darum zunächst eingestehen, dass er dies zumeist aus der Perspektive dessen tut, der im Sinne der Inklusion bereits „drin“ ist. Und er muss sich prüfen, ob bei seiner Kritik Angst mitschwingt, zukünftig Nachteile zu erfahren, weil dann zu viele oder die Falschen ebenfalls mit eingeschlossen werden: Die, die jetzt noch ausgeschlossen, „draußen“ sind, erscheinen den anderen als Bedrohung. Doch diese Sicht birgt für beide Seiten große Nachteile. Die scheinbaren Profiteure der gegenwärtigen Exklusion, die sich vor den weniger Leistungsstarken schützen, sind in Wahrheit mit sich selbst eingeschlossen: Indem sie ausschließen, bleiben sie unter sich und bringen sich um viele Anregungen und Chancen, die sich aus derVerschiedenheit der Menschen ergeben. Die bislang Ausgeschlossenen hingegen werden mit dem Makel der Zweitrangigen versehen. Sie sind aus der Sicht

Juni 2012/2 Jesuiten 13 der Ausschließenden für die erste Liga des Bildungswesens nicht gut genug. Deshalb ist die Forderung nach mehr Inklusion ein Gebot der Gerechtigkeit ebenso wie der Einsicht, dass sich in menschlicher Heterogenität viel mehr Lehr- und Lernmöglichkeiten ergeben als in bildungstechnischer Homogenität – ohne Auswirkungen auf die Umsetzung der Bildungspläne. Das konnten inzwischen zahlreiche Studien, gerade auch in einem bildungspolitisch bislang eher konservativen Bundesland wie Bayern, nachweisen. Selbstverständlich gibt es unverzichtbare Voraussetzungen für eine gelingende Inklusion. Als erstes denke ich dabei aber nicht an Strukturen oder Ausstattungsmerkmale, sondern an die aufrichtige Bereitschaft aller Beteiligten, sich einzugestehen, in welchem Umfang zu unserem konventionellen Schulwesen gegenwärtig Formen aktiver Ausgrenzung gehören, und zwar zurVerbesserung der Aufstiegschancen derer, die jetzt innerhalb dieses Systems beschult werden. Ich persönlich halte diese Voraussetzung, die auch als eine Form von Umkehr betrachtet werden kann, für schwerer erreichbar als diejenigen, die darüber hinaus für eine verantwortliche Inklusion auch noch notwendig sind. Damit meine ich all jene pädagogischen Instrumente, ohne die ein gemeinsamer, aber nicht gleicher Unterricht weder zu realisieren noch zu verantworten ist. Das sind beispielsweise professionelle Standards in der Erhebung der unterschiedlichen Lernausgangslagen, eine solide pädagogische Diagnostik und individuelle Förderplanung; ebenso alle Formen der Unterstützung wie Unterrichtsbegleiter, Trainer und heilpädagogische oder psychologische Fachkräfte. Spätestens hier wird deutlich, dass die Umsetzung von mehr Inklusion nicht ausschließlich in der Verantwortung der Schulträger liegen kann. Denn die wirtschaftlichen Konsequenzen lassen Inklusion natürlich ebenso eine bildungspolitische Angelegenheit sein. Sind die politischen Rahmenbedingungen aber gegeben, so kann dies Schulen radikal verändern. Das St. Aloysius College der Jesuiten auf Malta beispielsweise ist in den zurückliegenden Jahren diesen Umwandlungsprozess mit eindrucksvoller Konsequenz gegangen. So könnte der Einsatz für mehr Gerechtigkeit auch in Deutschland zur Schleifung unserer Schulhofmauern und zur Öffnung der Klassenzimmer führen – mit äußerst weitreichenden Konsequenzen. Axel Bödefeld SJ

14 Jesuiten Schwerpunkt: Bildung Schwerpunkt Jesuitenschule, einmal anders Die Cristo Rey-Schulen in den USA Es war das Jahr 1995, als John P. Foley SJ nach 34 Jahren in seine Heimatstadt Chicago zurückkehren sollte. All die Jahre hatte er vor allem in der Bildung der armen Bevölkerung Perus gearbeitet. Sein Provinzial wollte nun eine qualitativ gute, katholische Highschool gründen – und dies in Pilsen, einem Chicagoer Stadtviertel von lateinamerikanischen Arbeiterfamilien. Diese hatten kaum Möglichkeiten, ihren Kindern die Bildung zukommen zu lassen, die andere Milieus für selbstverständlich halten. Andere Jesuiten hatten die Straßen von Pilsen geradezu abgeklappert, um zu fragen, was die Bewohner am meisten brauchten. „Eine College-Prep-school“ war ihre Antwort: Ein privates Gymnasium, das auf die Universität vorbereitet. Pater Foley kehrte also zurück, um diese Idee faktisch ohne Geld zu entwickeln. Nach etlichen Rückschlägen und Umwegen entwickelten er und seinTeam einen gewagten Plan: In jedem Monat sollten die Schüler fünf Tage an einer einfachen, aber doch professionellen Arbeitsstelle arbeiten und das Gehalt dazu verwenden, das Schulgeld aufzubringen. Gegen pessimistische Stimmen setzte sich die unkonventionelle Idee durch: 1996 öffnete in Chicago die Cristo Rey Jesuit High School mit Pater Foley als Gründer und erstem Rektor. Die Kombination aus Arbeit und Schule lief gut – sogar besser als erwartet. Der Erfolg der Cristo Rey-Schule und ihres innovativen Finanzierungsmodells sprach sich im Land herum. 2001 wurde das Cristo Rey-SchulNetzwerk gegründet – neue Schulen in Denver, Portland und Los Angeles öffneten in Folge. Heutzutage umfasst das Cristo Rey-Netzwerk 24 Schulen in 16 Bundesstaaten. 6900 Schüler profitieren von ihm, alle aus sozial schwachen Familien: 95% der Schüler haben einen latino-, afro-amerikanischen oder ähnlichen Hintergrund. Die Schulen nehmen Kinder aller religiösen Bekenntnisse auf. Die Unterrichtstage und das Schuljahr sind bewusst länger gestaltet, das Bildungsmodell ist herausfordernd und die Schüler werden mit professioneller Hilfe in die Lage versetzt, ihre Fähigkeiten für das College zu entwickeln. Auch wenn Cristo Rey-Schulen nicht das Allheilmittel für die gravierenden Bildungsprobleme in den Großstädten der USA sind, so ist es doch ein nachhaltig erfolgreiches Modell. Wesentlich für seinen Erfolg ist die Starthilfe und die andauernde Unterstützung durch das nationale Cristo Rey-Büro. Es leistet die Qualitätssicherung, zum Beispiel durch: •Datenbankgestützte Informationen für die Lehrer • Weitere Begleitung der Bildungsbiographie der Absolventen • Zusammenarbeit mit lokalen Gruppen im Umfeld der Schulen • Unterstützung spiritueller Bildung • Best-practice Austausch im Netzwerk Schon über zehn Jahre nun hat das Cristo Rey-Netzwerk Schülern, die eine CollegeBildung für einen unerreichbaren Traum hielten, Hoffnung und Zukunft gegeben. Das innovative und kreative Engagement von Pater Foley und seinem Team hat nicht nur den Lebensweg so mancher Schüler geprägt, sondern auch das katholische Bildungsengagement inmitten der Großstadt neu belebt. Übersetzung und Redaktion: Tobias Specker SJ

Juni 2012/2 Jesuiten 15 Schwerpunkt Wie das Geld die Bildung verändert Von der Wirtschaft lernen heißt siegen lernen. Solche Slogans inspirierten die Politik in den vergangenen 15 Jahren, eine Hochschulreform in Gang zu setzen, die nicht primär von pädagogischen oder wissenschaftlichen Zielen geleitet war, sondern von der Vision, dass Universitäten dann am besten ihre gesellschaftliche Aufgabe erfüllen, wenn sie wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt werden. In diesem Zusammenhang wurde ein Bündel von Maßnahmen umgesetzt: • Leistungsbezogene Bezahlung der Professoren. •Permanente Evaluation von Lehre, Forschung und Dienstleistungen mit dem Ziel einer nachhaltigen Qualitätskontrolle. •Umstellung der Forschungsförderung auf antragsbasierte Projektförderung. •Abbau dauerhafter Planstellen zugunsten drittmittelfinanzierter Projektstellen. •Relativierung der universitären Selbstverwaltung zugunsten der Kontrolle durch extern besetzte Hochschulräte. Die direkten Zuweisungen der Länder an die Hochschulen steigen bis heute nicht linear mit den Studierendenzahlen. Die Regierungen lassen die Hochschulen trotzdem nicht im Regen stehen. Für die Forschung ist ein sattes Geldpolster vorhanden, das für erfolgreiche Einrichtungen jederzeit abrufbar ist. Kurz und ohne Übertreibung: Das Geld für Forschung „liegt auf der Straße“. Wissenschaftler müssen sich jedoch der Mühe unterziehen, ihre Projektideen in die Form respektabler Anträge zu bringen, damit sie von den anonym mitlesenden „peers“ ihres Fachs akzeptiert werden. Professoren klagen weniger über die Mechanismen der Forschungsförderung als über den Druck in Folge des permanenten Evaluiertwerdens. Beim Kollegenranking zählen oft nur messbare Kennzahlen (Summe der eingeworbenen Drittmittel, Zahl der Publikationen, Zahl der Studienabschlüsse). An dieser Stelle rächt sich, dass die Steuerung einer Hochschule den Betriebswirten überlassen wird. Wie nehmen die vom Orden getragenen Hochschulen an den Veränderungen hin zu mehr Marktorientierung teil? Wir möchten an der Idee einer sich selbstverwaltenden Hochschule, die allen Gruppen, auch den Studierenden, Mitspracherechte einräumt, festhalten. Ich kann dem Gedanken eines extern besetzten Aufsichtsrats, der die strategischen Grundlinien vorgibt und jederzeit in das operative Geschäft eingreifen kann, nichts abgewinnen. Mir ist aber bewusst, dass sich unsere Professoren noch stärker an den heute üblichen Modellen der Forschungsförderung beteiligen, Drittmittel einwerben und die Bereitschaft mitbringen müssen, sich evaluieren zu lassen. Unsere Studierenden sehen wir auch in Zukunft nicht als Kunden, sondern als Junior-Partner auf der gemeinsamen Suche nach Wahrheit. Heinrich Watzka SJ

16 Jesuiten Schwerpunkt: Bildung

Juni 2012/2 Jesuiten 17 Schwerpunkt Von Helden und Langweilern Der Held meines Noviziates war Bobadilla (1511-1590) – ein Querkopf unter den frühen Gefährten des Hl. Ignatius, der den Gehorsam recht weit fasste und von der beglückenden Kraft seiner Originalität so überzeugt war, dass er gerne gegen den Strom schwamm. Kein Zweifel, die anderen Gefährten sahen neben ihm etwas angepasst und langweilig aus. Allerdings war die Sympathie für Bobadilla nicht teuer bezahlt. Sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung der Jesuiten ist der Weg gegen den Strom die Hauptstraße, auf der einem wenige entgegenkommen. Das vorherrschende Bild des Jesuiten der letzten fünfzig Jahre ist sicherlich nicht mehr der kadavergehorsame Soldat in der gleichförmigenTruppe des Papstes, sondern eher der vielfach begabte Solitär, der mit seinem individuellen Charisma auf der tapfer verteidigten Scholle seines Werkes Menschen an sich zieht und prägt. In der Bildung schlägt sich dies in demVorbild des „Paters“ nieder, der „den jungen Leuten etwas zu sagen hat“, sie um sich schart und in unkonventioneller Weise führt. Dieses Bild ist natürlich ein Klischee. Es ist niemals in Reinform da, und es ist auch nicht ungebrochen. Gebrochen ist es durch die Missbrauchsfälle. Allerdings stehen wir Jesuiten erst am Beginn einer Reflexion darüber. So wenig man sie alle über einen Kamm scheren kann, so deutlich ist der Zusammenhang von ausgeprägtem individuellen Charisma und missbrauchter Macht zumindest in einigen Fällen erkennbar. Dies macht es so schwierig – unter den Jesuiten – und möglicherweise noch viel mehr in der Wahrnehmung derer, die missbraucht wurden. Es waren eben oft keine deformierten und verklemmten Sonderlinge, sondern begabte und für viele faszinierende Gestalten, die tatsächlich Menschen geprägt haben. Für viele waren es Helden, keine Langweiler. Nun führt keine direkte Straße von Bobadilla zur Jugendarbeit des 20. Jahrhunderts und von der charismatischen Individualität zum Missbrauch. Aber trotzdem sind die Fragen an das Selbstbild der Jesuiten sowie an ihrVerständnis von Bildung noch nicht anfänglich ausgelotet. Zugegeben, die Fragen sind immer in der Gefahr, die Erfahrung des Missbrauchs, die eine Erfahrung der Opfer und nicht der Jesuiten ist, zu vereinnahmen und in einer narzisstischen Selbstreflektion zu funktionalisieren. Und dennoch ist diese Reflexion wichtig, gerade weil die abnehmende Zahl der Jesuiten in den Bildungseinrichtungen umso mehr Erwartungen an die prägende Kraft des Einzelnen mit sich bringt.Wie also ist es möglich, mit der ganzen Persönlichkeit und individuellen Begabung Bildung zu vermitteln, ohne Menschen auf ungute Weise zu binden? Wie kann weiterhin eine Nähe von erziehender Person und Jugendlichen gelebt werden, die die Bildungssituation davor bewahrt, nun in der Gegenreaktion zum Missbrauch zu einem funktional bestimmten und bis ins letzte hinein reglementierten Rollenverhalten zu verkommen?Wie ist es möglich, das Charisma des einzelnen Jesuiten oder Mitarbeiters zu respektieren, ohne Intransparenz und abgeschottete Zirkel um eine Erziehungsperson zuzulassen? Und schließlich:Wie ist es um das Lob von Dissidenz, Originalität und Unkonventionalität bestellt? Braucht es heute vielleicht doch weniger Helden und einige Langweiler mehr? Tobias Specker SJ

18 Jesuiten Schwerpunkt: Bildung Schwerpunkt Die Klugheit des Bildungsfriedens Deutschland will den Bildungsfrieden. Die Gesellschaft selbst soll über ihre Bildung entscheiden. So könnte man die politische Bilanz nach zehn Jahren Aufklärung über die neue deutsche Bildungskatastrophe zusammenfassen. Die klugen Bildungspolitiker in fast allen Parteien haben erkannt, dass man mit einer Reform des Bildungswesens, die sich über die Sorgen und Ängste in den Mittelklassen der deutschen Gesellschaft hinwegsetzt, nichts erreicht. Ausschlag gebend dafür war die Hamburger Entscheidung vom Sommer 2010, als durch einen Volksentscheid das mit der größtmöglichen parlamentarischen Mehrheit unterstützte Projekt einer für alle Kinder verpflichtenden Primarschulbildung bis zum 6. Schuljahr gekippt wurde. Das war ein Schlag ins Kontor der seinerzeitigen schwarzgrünen Koalition, die die sozialmoralisch sensible „Mehrheitsklasse“ auf ihrer Seite wähnte. Die Vernunft des Vorschlags einer verpflichtenden Verlängerung der Beschulung aller Kinder lag doch auf der Hand. Denn je länger die Kinder gemeinsam lernen, umso größer ist die Chance, dass sie voneinander lernen: Die aus bildungsreichen genauso wie die aus bildungsarmen Elternhäusern, weil sie gemeinsam mit einer Sache beschäftigt sind.Außerdem können die Lehrerinnen und Lehrer sich mehr Zeit lassen, um Talente zu fördern und Schwächen auszugleichen. Irgendwie muss doch derTeufelskreis zu durchbrechen sein, der die einen in der Schule erfahren lässt, dass sie wie von selbst immer besser und die anderen, dass sie von vorneherein immer schlechter abschneiden. Wenn so eine wohlmeinende und gut begründete Initiative schief geht, dann müssen interessierte Gruppen am Werke gewesen sein. Heute kann man nüchtern feststellen, dass die sprichwörtlichen Chefärzte, Steueranwälte und Unternehmensberater aus den besseren Bezirken für den Bürgerentscheid nicht gereicht hätten. Die haben zweifellos zur Herstellung von Öffentlichkeit beigetragen, aber die vielen stillen Teilhaber und Teilhaberinnen, die dem Bürgerbegehren zu kritischer Größe verholfen haben, sind durchaus nicht diesem Oberklassensegment zuzuordnen. Man kann sie eher zur „neuen Mitte“ derer zusammenfassen, die von der Bildungsexpansion der 1970er und 1980er Jahre profitiert haben. Die Allermeisten von ihnen sind, was Bildung, Beruf und Einkommen betrifft, relativ privilegiert, aber sie hegen stille Zweifel, ob ihre Kinder es genauso weit bringen werden. Dafür machen sie weniger die mangelnde Motivation der Nachkommen verantwortlich als die Ungewissheit über die große gesellschaftliche Entwicklung und die Unsicherheit über das, was in zwanzig oder dreißig Jahren noch gilt und wichtig ist. Man erwartet nicht, dass die Kinder besser dran sein werden. Man wäre schon zufrieden, wenn der erreichte Status der Familie in der Generationenfolge gehalten werden könnte. Diese letztlich defensive Gestimmtheit ist dafür verantwortlich, dass sie von der Vorstellung, ihre Kinder könnten mit Kindern aus Familien, denen Bildung nichts wert ist und die die grundlegenden Voraussetzungen für ein diszipliniertes Verhalten in der Schule nicht selbstverständlich mitbringen, wild zusammengewürfelt werden, in Panik versetzt werden.Viele dieser zwischen Mitte der fünf-

Juni 2012/2 Jesuiten 19 ziger und Mitte der sechziger Jahre Geborenen waren die ersten Akademiker aus ihren Familien und wissen daher, was sie sich selbst abverlangt haben und wie sich vor allem die Mütter krummgelegt haben, damit der Sohn oder die Tochter aufs Gymnasium gehen konnte. Sie können daher nicht nachvollziehen, dass es Eltern aus bildungsfernen Milieus offenbar ziemlich gleichgültig ist, was aus ihren Kindern wird. Jedenfalls sehen sie nicht ein, dass sie ihre eigenen Nachkommen als Motivationsvehikel für die Nachkommen anderer zurVerfügung stellen sollen. Es ist eine sozialmoralische Ansteckungsangst, die sie zu einem bildungsprotektionistischen Verhalten treibt. Es geht um das Familienmotiv und denVererbungswillen. Denn die Mitglieder der „neuen Mitte“, die bisher oft Grün in der Kombination mit Rot oder Schwarz gewählt haben, haben nicht Vermögen und Besitz, sondern Bildung und Wissen zu vererben. Besonders für die Virtuosen zweiter Bildungswege kommt es deshalb einer Katastrophe gleich, wenn die Tochter oder der Sohn unter dem Bildungsabschluss der Eltern bleibt. Das können Familien mit Bildungsadel in der dritten und vierten Generation viel lockerer sehen: Am Ende entscheidet nicht der Bildungstitel, sondern das Weltwissen über die Zukunft der Sprösslinge. Solche Ruhe würde viel helfen. Vielleicht haben die Anderen, die man so voller Angst und Sorge um die Zukunft der eigenen Kinder flieht, doch auch etwas zu bieten. Denn in einer Schule, in der man mehr oder minder unter sich ist, kann man nicht lernen, mit Menschen zurechtzukommen, die ganz andere Vorstellungen davon haben, was im Leben wichtig ist. Die Pluralität einer Gesellschaft ist doch nur dann belastbar, wenn man mit Respekt auch jenen begegnet, die einem fremd und unheimlich sind. Sonst regiert nur noch das Prinzip der Selbstähnlichkeit, das über geschlossene Beziehungs- und Heiratsmärkte, über gereinigte Bildungsinstitutionen und distinktive Sportclubs, die Gesellschaft auf Dauer spaltet. Ein anspruchsvoller Begriff von Bildung versteht Bildung auch nicht als eine Ressource engherziger Selbstdurchsetzung, sondern als Bereitschaft, sich dem Anderen auszusetzen und sich für allgemeine Gesichtspunkte offen zu halten. Darin steckt ein Sinn für Verschuldung, die den Narzissmus der unbedingten Selbsterhaltung in Frage stellt. Heinz Bude

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