Jesuiten 2012-2

22 Jesuiten Geistlicher Impuls Geistlicher Impuls Weisheit als Lebensbildung Weisheit scheint ziemlich gerecht verteilt zu sein. Jedenfalls beschwert sich kaum jemand darüber, dass es ihm daran mangelt. Wer gibt schon zu, dass er wenig Ahnung hat? Weisheit beginnt allerdings erst mit der Einsicht, dass man wenig weiß. Gerade auf die drängenden Fragen des Lebens bringen wir oft nichts anderes als ein Gestammel als Antwort hervor. Ein Beispiel: Ihnen begegnet eine Bekannte und berichtet von einer schweren Krankheit, die viele berufliche und private Pläne zu zerstören droht. Was soll man da sagen? „Wird schon wieder!“ klingt peinlich unangemessen und verdrängt zu unverhohlen die grausame Realität. Die unausgesprochene Frage lautet ja: Ist das eine gut eingerichtete Welt, in der solch sinnloses Leiden möglich ist? Ist Gott in dieser Welt überhaupt anwesend? Vor dieser Frage verstummt das leichte Daherreden.Wie könnte aber eine weise, eine von Erfahrung gedeckte Antwort auf diese Lebensfrage lauten? Lassen Sie mich mit einer wahren Geschichte einen Antwortversuch unternehmen. Victor Klemperer, einVetter des berühmten Komponisten gleichen Namens, war ein von den Nazis verfolgter jüdischer Gelehrter in Dresden. Sein Herzenswunsch war es, eine große Geschichte der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts zu schreiben. Die Nazis verboten ihm aber den Zugang zu Universität und Bibliothek. Er war tief enttäuscht und verzweifelt. Das wissen wir aus einem Tagebuch, das er in den folgenden Kriegsjahren schrieb. Es wurde erst viel später, vor kaum mehr als einem Dutzend Jahren, veröffentlicht. Es ist ein bemerkenswertes Werk deutscher Prosa, das ihm nun als Schriftsteller mehr Anerkennung gebracht hat als seine Studien über französische Literatur. Aber das blieb ihm verborgen. In diesen Tagebüchern selbst beklagt er sich, dass es ihm unter den widrigen Umständen verwehrt bliebe, etwas Großes zu schreiben.Aber für ihn unbemerkt sind gerade diese Seiten das Größte, das er je schrieb. Er beschreibt dort auch das ausweglose Grauen der Bombenangriffe auf Dresden.Aber gerade das Chaos nach der Feuersbrunst ermöglicht ihm, sich dem Zugriff der Gestapo zu entziehen und zu überleben. Durch den Tunnelblick auf die Bedrohung wird der Mensch oft unwissend und ahnungslos, spürt nicht mehr, dass auch in der Katastrophe eine Chance verborgen sein kann. Unsere Welt ist ein offener Prozess, es werden in jeder Situation immer wieder neue, oft überraschende Möglichkeiten angeboten.Wir erreichen die Ziele, die uns bewegen und beflügeln, oft auf einem ganz unvorhergesehenen, ja verborgenen Weg. Hätte sich Klemperer träumen lassen, dass sein Ziel, ein großes Buch zu schreiben auf diese völlig andersartige Weise in Erfüllung gehen sollte? Das Erstaunliche ist nun, dass wir oft diese unbekannten Möglichkeiten trotzdem gleichsam blind ergreifen.Wir laufen nicht an ihnen vorbei, obwohl wir gar nicht wissen, was wir da tun. Erst nachher wird uns klar, dass wir einen

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