Jesuiten 2012-3

10 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen Schwerpunkt Aus den Medien, aus dem Sinn… „Allem Anschein nach verdampft das Gefühl der Menschlichkeit und wird schwächer, indem es sich über die Erde ausdehnt und es ist uns nicht gegeben,von den Unglücksfällen bei den Tataren oder in Japan ebenso berührt zu werden wie von dem, was einem europäischen Volk zustößt“, schreibt der vor genau 300 Jahren geborene Philosoph Jean-Jacques Rousseau und bringt damit ein Dilemma zum Ausdruck,das ich so beschreiben möchte:Leid,das uns nahe ist, geht uns auch nahe; entferntes Leid hingegen weniger. Ist das „Gefühl der Menschlichkeit“ also abhängig von der Entfernung? In unserer globalisierten Welt könnte man meinen, dass diese Frage durch die weltumspannende Live-Berichterstattung obsolet geworden sei. Die Bilder des 11. September, des Tsunamis im Indischen Ozean oder der Reaktorkatastrophe von Fukushima erreichen uns durch Fernsehen und Internet sofort und direkt. Das „ferne Unglück“ (Henning Ritter) bekommt ein Gesicht, das unbekannte Leid steht uns direkt vor Augen. Selbst das entfernteste Unheil kann uns durch die Vermittlung der Medien so nahe kommen, dass wir uns durch das Leid berühren und zu solidarischem Handeln treiben lassen. Die internationalen Medien lenken dabei aber die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit mal hierhin, mal dorthin und bestimmen somit auch unsere Wahrnehmung der Welt. Hilfsorganisationen fordern uns auf, sofort zu helfen.Mitleid und hohe Spendenaufkommen für die Notleidenden in der Region, die gerade im Bild ist, sind die Folge. Doch kaum ziehen die Journalisten und Kameras weiter,ist das Leid dieser Menschen demVergessen anheimgegeben.Gestern noch Hungersnot in Ostafrika, heute Aufruhr und Befreiung, aber auch Elend im Nahen Osten, morgen vielleicht eine Naturkatastrophe in Ostasien, und übermorgen? Aus den Medien, aus dem Sinn... Es bleibt also dabei, dass die Mitmenschlichkeit mit der Entfernung abnimmt. Es ist nicht mehr so sehr die räumliche, sondern eine virtuelle Entfernung, die ihr Maß am kollektiven Vergessen nimmt.Unsere Solidarität mit dem Leid der Menschen in weiten Teilen der Welt hat demnach etwas geradezu „Episodisches“ (Boris Holzer) an sich. Die Bilder aus den Krisenherden machen aus dem unbekannten Opfer, demVertreter einer nur abstrakten Mitmenschlichkeit, ein konkretes Gegenüber – aber nur für den Moment, in dem wir das Leid dieses konkreten Menschen noch erinnern. Doch „verdampft“ unser Mitgefühl zu diesem Menschen schnell, sobald neue Bilder aus einer anderen Weltregion unser Mitleid anregen. Diese Form von kurzfristiger Solidarität ist nun nicht nur deswegen fragwürdig, weil verantwortliche Entwicklungszusammenarbeit langfristig und nachhaltig sein müsste, sondern weil sich darin auch eine bestimmte Vorstellung von der Welt oder besser gesagt von der Menschheit offenbaren dürfte. Diese Weltkonstruktion hinterlässt vergessene und doch offene Wunden in der Menschheit. Wie ist dies zu moralphilosophisch zu deuten? Wie können wir darauf reagieren? Dazu hilft ein Blick auf eine der geistesgeschichtlich fol-

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