September 2012/3 Jesuiten 11 genreichsten Katastrophen der Geschichte: 1755 hatte ein großes Erdbeben nicht nur Lissabon schwer getroffen, sondern auch eine Vielzahl von Diskussionen im philosophischen wie im theologischen Bereich ausgelöst. Unter diesen Debatten ist sicherlich die Frage nach der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes gegenüber dem Leid, die bekannteste. Nicht minder wichtig ist die Frage nach dem Mitleid: Wie entsteht es? Ist es anders,wenn ich das Opfer persönlich kenne? Aus dieser Debatte stammt auch das Rousseau’sche Eingangszitat. Eine weiterführende Unterscheidung bringt Adam Smith in diese Diskussion mit der Parabel vom humanen Londoner ein: In diesem Gedankenexperiment erfährt ein Bewohner der Stadt London von einer großen Katastrophe in China, bei der viele Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten. Der Mann lässt sich nun vom Leid dieser vielen Menschen berühren und beginnt über die Folgen und notwendigen Handlungen nachzudenken. Aber mit der Zeit wendet er sich wieder seinem Alltag zu. Plötzlich hat er selbst einen kleinen Unfall und verfällt in große Bestürzung, die ihm sogar den Schlaf raubt und ihn mehr angeht als das Leid so vieler Chinesen. Smith folgert aus dieser Geschichte, dass es um die Menschheit schlecht bestellt wäre, wenn sie sich den eigenen Gefühlsregungen überlassen würde. Er fordert, die Moral der Gefühle von der Moral des Handelns zu trennen. Mitleid mit fernem Unglück ist für Smith Ausdruck einer überfeinerten Moral, er will das Mitleid auf die Menschen in der unmittelbaren Nähe beschränkt sehen:Wir sollten mehr die Hilfe für den konkreten Nächsten als die für den Übernächsten im Blick behalten. Diese Parabel und ihre Auslegung ist psychologisch nachvollziehbar und stellt den Zusammenhang von Selbstmitleid und dem auf andere bezogenen Mitleid in sehr realistischer Weise dar. Dennoch wäre es unangebracht, das Mitleid so zu begrenzen. Schon die immer weiter fortschreitende Globalisierung bringt uns den einzelnen fernen Menschen nahe, macht ihn gleichsam zu meinem Nachbarn. Die Weltgesellschaft wird zwar vielleicht nicht zu einem „global village“, aber eine gewisse Integration der Menschheit ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Dabei geht es natürlich auch um wirtschaftliche und ökologische Interdependenzen, im Grunde aber wird uns daneben zunehmend bewusst, dass wir eine einzige Menschheit sind, und dass bei offenen Grenzen und Handelswegen auch das Mitgefühl globalisiert werden muss. Unter diesem Blickwinkel erscheinen die leidvollen Weltereignisse als besondere Momente (als Kairos!) einer weltweiten Menschlichkeit. In ihnen wird erfahrbar, dass es – aller Entfernung des Leids und aller Verdampfung des Mitgefühls zum Trotz – immer wieder weltweite Solidarität gibt und sich die Menschheit zunehmend als Solidargemeinschaft erfährt, fast will man sagen: ereignet. Wenn es uns dann noch gelingt, diese Ereignisse nicht als Episoden abzutun und ins Vergessen abrutschen zu lassen, dann könnten sie zu Meilensteinen der Menschlichkeit werden. Dieses Nicht-Vergessen-Wollen ist dabei aber ein bewusster und aktiver Prozess, den wir als einzelne und als Gesellschaft leisten müssen.Es gilt dann, die Wunden dieser Welt eben nicht zu vergessen,nur weil die Medien sie uns nicht mehr vergegenwärtigen. Marc-Stephan Giese SJ
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