Jesuiten 2012-3

2 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen Schwerpunkt Ich will vergessen können! Erinnern und Vergessen auf dem Weg zur Versöhnung Nicht wenige Bürger beantragten bei der Stasi-Unterlagen-Behörde die Einsicht in ihre Akten, weil sie wollten, dass ihre quälende Erinnerung an die DDR-Vergangenheit zur Ruhe kommen kann. Denn erst die Gewissheit, ob, wie und von wem man bespitzelt wurde, macht es möglich, sich mit dieser dunklen Vergangenheit auseinanderzusetzen und dann ein Kapitel der eigenen Geschichte abzuschließen. Vielleicht wird es sogar einmal möglich werden, sich mit einzelnen Personen oder dem eigenen Schicksal zu versöhnen und das Frühere zu vergessen.ImVergessen kommt die getriebene Seele zur Ruhe: Ein neues Leben kann beginnen. Vergessen ist wie eine Gnade:Wir können es nicht willentlich machen, es geschieht und wir bemerken es allenfalls, wenn wir uns nicht mehr erinnern können. Statt für immer an die eigeneVergangenheit gefesselt zu sein,bekommen wir neue Chancen, befreit in die Zukunft zu blicken.Auch wennVergessen letztlich heilsam ist, weil es die Reinigung des eigenen Gedächtnisses ermöglicht und uns Nachsicht erfahren lässt, ist es lebenslang herausfordernd, mit dieser Unsicherheit zu leben: Was wird wann vergessen sein? Man kann es versprechen und sich vornehmen: Ich will es vergessen! – Aber wann wird es wirklich soweit sein? Wann werden wir wieder ruhig schlafen können, wann wird die leidvolle Geschichte endgültig passé sein? Beim Vergessen sind zwei verschiedene Ebenen zu unterscheiden, die der Philosoph Paul Ricœur (1913–2005) folgendermaßen aufschlüsselt: Zum einen das tiefe, auslöschende Vergessen,das die eingravierte Erinnerung mit der Zeit schwinden und damit eigentlichVergangenheit entstehen lässt. Zum anderen das Vergessen, das etwas bewahrt, das bleibt und wieder erscheinen kann. Sich anVerschüttetes wieder zu erinnern ist möglich, doch zeigen sich hier auch problematische Züge:Verdrängtes kann zu Wiederholungszwang führen, unaufrichtig Vermiedenes hilft vor Unangenehmem zu fliehen, unehrenhaft Ausgesondertes kann eine Geschichte tendenziös manipulieren. Dennoch bleibt einem Autor nichts anderes übrig, als aus dem vorhandenen Material auszuwählen, um Geschichte gut darzustellen und eine Erzählung klar und spannend werden zu lassen. Manches interessiert, anderes wird demVergessen übergeben. Gerade diese Gefahren, die das nicht kontrollierbareVergessen in sich birgt, lassen zweifeln, ob Vergeben und Vergessen für eine Versöhnung schon ausreichen:Haben wir das,was wir einander angetan haben, so vergessen, dass keine Rache mehr aufkeimen kann? Habe ich etwas, das ich vergessen wollte, vielleicht nur verdrängt, so dass es mich irgendwann krank macht? Schreiben manche Täter, ohne sich wirklich versöhnt zu haben, die Geschichte so, dass Unrecht vergessen scheint? Führen staatliche Amnestien zumVergessen von Missbräuchen? Dient die vom Gesetz geforderte Gerechtigkeit nicht auch dem Schutz der Opfer? Nicht selten haben derartige politische Entscheidungen negative Konsequenzen für eine gesellschaftliche Versöhnung. Diese Anfragen zeigen: Beim Verzeihen und besonders bei derVersöhnung kommt es nicht darauf an, den Sollsaldo einer berechenbaren Bilanz zu löschen, sondern komplexe Knoten zu entwirren.Versöhnung ist der Prozess und das Ziel einer oft langwierigen Erinnerungs-

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