Jesuiten 2012-3

Schwerpunkt Vergisst Gott? Von der Barmherzigkeit Gottes Vergisst Gott? Natürlich nicht! – so möchte man wohl spontan antworten.Gott – das ist reine Wirklichkeit, „actus purus“, wie die Theologen im Hohen Mittelalter sagten;in Gott gibt es keine Veränderung, keinen Wandel – und deshalb selbstverständlich auch keinVergessen. In Gott gibt es deshalb aber auch nicht eigentlich ein „Lernen“,einen Zugewinn anWissen. Alle Wirklichkeit, das Vergangene, das Gegenwärtige und auch das Zukünftige, ist in Gottes alles umfassendem Bewusstsein unmittelbar gegenwärtig. Andernfalls nämlich müsste ein Werden in Gott angenommen werden. Dann aber wäre Gott nicht als immer schon vollendete und vollkommene Wirklichkeit gedacht. Dass dieser metaphysisch anscheinend zwingende Gedanke die Existenz endlicher Freiheit neben Gott fragwürdig erscheinen lässt, wurde bereits von den Theologen der Spätantike gesehen. Noch der Gnadenstreit des 17. Jahrhunderts suchte das Verhältnis von göttlichemWissen und menschlicher Freiheit zu erhellen, ohne doch eine allseits befriedigende Lösung zu erzielen. Der Stuttgarter Philosoph Robert Spaemann (geb. 1927) hat in einem alles umfassenden Bewusstsein Gottes sogar die Garantie dafür erblickt,dass es überhaupt so etwas wieWirklichkeit und Geschichte gibt. Denn was ist, so fragt Spaemann, wenn es einmal im Kosmos keine Wesen mehr geben wird, die sich an das Vergangene erinnern? Wird dasVergangene dann, weil von niemandem mehr erinnert, niemals gewesen sein? Wird aber unsere Gegenwart einmal nicht gewesen sein, dann ist sie auch heute nicht Wirklichkeit – so Spaemann. Um dieser Konsequenz zu entgehen, postuliert er die Existenz eines absoluten Bewusstseins, in dem alle Wirklichkeit in Ewigkeit Bestand hat. Spaemann sieht in diesem Postulat so etwas wie den letzten noch möglichen Gottesbeweis. Vor allem in seinen späteren Schriften hat der französische Philosoph Paul Ricœur (19132005) hingegen auf die „Gnade des Vergessens“ hingewiesen. Menschen sind wesentlich fehlbareWesen;unvermeidlich werden wir aneinander, an uns selbst, aber auch vor Gott schuldig. Wie können wir mit dieser Schuld weiter leben? Wie können wir Neues beginnen, ohne durch die Last desVergangenen erdrückt zu werden? Nach Ricœur ist es nicht nur dasVergeben-Können, das uns einen neuen Anfang ermöglicht – ein Gedanke, der besonders für Hannah Arendt (1906-1975) wichtig wurde. Es ist auch das Vergessen von Schuld, das uns von den Fesseln der Vergangenheit befreit und Zukunft eröffnet. Kann man von Gott diese „Gnade desVergessens“ erhoffen? Die kirchliche Tradition scheint in eine andere Richtung zu weisen: beim Jüngsten Gericht wird der Mensch unausweichlich mit seiner schuldbeladenen Biographie konfrontiert,so die verbreiteteVorstellung. Seit dem 11. Jahrhundert erscheint das geöffnete „Buch des Gerichts“ (vgl. Dan 12,9) auf zahlreichen Darstellungen des Weltgerichts. In diesem Buch stehen dem „armen Sünder“ die guten ebenso wie die bösenTaten unabwendbar vor Augen.Vor dem göttlichen Richter wird er womöglich mit Schuld konfrontiert, die schon längst in sein Unbewusstes abgeglitten ist, die er verdrängt oder eben auch vergessen hat. 4 Jesuiten Schwerpunkt: Vergessen

RkJQdWJsaXNoZXIy MjIwOTIwOQ==