Jesuiten 2012-4

18 Jesuiten Schwerpunkt: Virtuelle Welt Schwerpunkt Warum ich bei Facebook bin „Erlich bin ich ein zicke ??“ postete Anne am 24. September via Facebook – und erhielt darauf fast hundert Kommentare ihrer „Freunde“. Man kann über eine solche Nachricht schmunzeln. Und ja, man kann auch resigniert den Kopf schütteln über das Kommunikationssystem Facebook. Man kann aber auch versuchen, ganz nüchtern zu sehen, welche Bedeutung dieses Medium inzwischen für Abermillionen von Menschen gewonnen hat. Anne zum Beispiel hat durch Facebook die Möglichkeit, auf ganz einfache Art und Weise überall ihr Leben mit anderen zu teilen – in all seiner Banalität. Sie erreicht ohne großen Aufwand ein personalisiertes Publikum von mehreren hundert Menschen, je nachdem, wie groß der „Freundeskreis“ ist. Schnell und einfach. Um diesen Artikel zu schreiben, der theoretisch ca. 60.000 Menschen erreicht, wird ein nicht unbeachtlicher Aufwand betrieben. Die Worte müssen so gewählt werden, dass sie von einer Redaktion angenommen werden.Anschließend muss der Text gelayoutet, gedruckt, verteilt, aufgeblättert und bis hierher gelesen werden – sofern diese Kette nicht längst an einer beliebigen Stelle abbrach. Wenn ich meine Meinung auf Facebook poste, ist es nur eine Frage von Sekunden, um den Leuten mitzuteilen, was mich bewegt. Zunächst sind es ca. 600 Personen, die diese Meldung theoretisch erreicht – also gut ein Hundertstel des Jesuitenmagazins. Diese Kontakte jedoch können den Beitrag liken, kommentieren und teilen – und machen ihn damit einer weiteren Vielzahl von Menschen zugänglich. Je nach Qualität der Meldung, je nachdem, wie sehr ich den Geschmack meiner „Freunde“ treffe, vergrößert sich die Anzahl derer, die den Beitrag lesen theoretisch exponentiell. Und bei alledem hat jeder Leser die Möglichkeit, seine Meinung diesem Beitrag anzufügen. Facebook als Arbeitsplatz. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass Facebook einer der wichtigsten Bereiche meiner Arbeit als Jugendseelsorger ist. Zum einen, weil die E-Mail eine immer geringer werdende Rolle spielt. Denn die Kommunikation läuft zunehmend über Facebook. Zum anderen, weil ich über Facebook vieles von dem mitbekomme, was Jugendliche meines Umfelds beschäftigt. Als Annes „Freund“ – oder besser: als jemand, den Anne ihrer Freundesliste hinzugefügt hat – weiß ich, wen sie kennt, was sie gerne macht, worüber sie sich aufregt, was sie fühlt und was sie denkt. Ich kann womöglich viel näher an Anne dran sein, als viele meinerVorgänger es je hätten sein können. Und dazu muss ich lediglich auf ihr Profil schauen. Nähe und Distanz. Sicher liegt in dieser Möglichkeit auch eine große Gefahr. Die Grenze aus Nähe und Distanz ist nicht mehr leicht zu ziehen. Ist es denn wirklich gut, wenn ich so viel von Annes Leben mitbekomme? Wahrscheinlich ist ihr mittlerweile gar nicht mehr bewusst, dass manche der über 350 Freunde, die sie derzeit hat, gar nicht die sind, die sie meint, wenn sie ihren Kommentar ins soziale Netzwerk entlässt. Vielleicht erwartet sie aber auch, dass ich bei unserer nächsten Begegnung in der „real world“ Bescheid weiß, was auf ihrem Profil los war. Denn immerhin bin ich ja ihr „Freund“. Gefahr und Problembewusstsein. Facebook ist virtuelle Realität. Doch das bedeutet nicht, dass es deswegen weniger relevant oder

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