Jesuiten 2013-2

Die Entdeckung des Ostens 1991 war meine erste Fahrradtour Richtung Osten. Ich kannte Europa von Radtouren. Genauer: Ich dachte, Europa zu kennen. Aber wie bei vielen meiner Generation - ich bin im Jahr der Mauer 1961 im Westen geboren - hat die Mauer und der Eiserne Vorhang in meinem Kopf funktioniert. Ich fühlte mich als Europäer und hätte freihändig eine Karte von Frankreich und Italien malen können. Aber dass es da Richtung Osten noch ein reales Land gibt, wo reale Menschen wohnen, das war ausgeblendet. Und dann wurde die Grenze geöffnet. Erst wurde mir klar, dass Deutschland größer ist als das, was ich kannte. Dann sickerte ins Bewusstsein, dass es dahinter noch mehr gibt. In dem Maße, in dem ich gemerkt habe, wie sehr ich mich durch die Mauer habe manipulieren lassen, habe ich mich schlicht geschämt. Die Menschen im Osten mussten mit der Mauer leben. Ich hätte eine Alternative gehabt. Was mir in diesem Sommer klar geworden ist, war, dass es leicht ist, sich als Kosmopolit und weltläufiger Europäer zu fühlen, solange man aus dem unbewussten Gespür von klaren Grenzen lebt; Mittelmeer, Atlantik und eben die künstliche Grenze im Osten. Es war ein Schritt von meiner Seite nötig, mich der Unüberschaubarkeit zu stellen. Als ich einige Jahre später dem Provinzial einen Vorschlag machen konnte, wo ich das Tertiat absolvieren wollte, habe ich Polen genannt. Und so war ich mit neun polnischen Jesuiten als einziger Ausländer in einem Kurs und musste mich einer Kultur und Religiosität stellen, in der es Vertrautes und Fremdes gleichermaßen gab. Ich musste lernen, wie viel von dem, was ich als selbstverständlich jesuitisch annahm, in Wirklichkeit Prägung der westlichen Kulturrevolution der 70er Jahre gewesen ist. Ich habe dabei auch viele Vorzüge dieser Erneuerungen im Westen schätzen gelernt; aber in den Monaten an der polnischen Ostseeküste habe ich auch etwas von der westlichen Arroganz verlernt, die sich gerne als Spitze des kulturellen und kirchlichen Fortschritts begreift. Ich bleibe Kind meiner Generation. Ich bin wieder zurück in Deutschland. Aber ich bin dankbar, dass ich mein Tertiat in diesem ganz nahen und doch ganz fernen Land direkt an unserer Grenze im Osten verbracht habe, am Tor zu einer Kultur, die zu Europa dazu gehört und ohne die weder unsere Gesellschaften noch die Kirche in Europa vollständig wären. Martin Löwenstein SJ 19 © yelena011

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