Jesuiten 2013-2

Jesuiten Europa! 2013/2 ISSN 1613-3889

Hängebrücke ©Eiskönig – fotolia Ausgabe Juni/2013 Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Europa – das ist mehr als Europa 4 Mein Europa 6 Jesuiten für Europa 8 Europa auf dem Weg: Rabanal del Camino 10 Ein Blick auf Europa vom Rande her: Malta 12 Sinti und Roma 14 Wer engagiert sich in Brüssel für Europa? 16 Europa von unten 18 Auswirkungen der Finanzkrise 19 Die Entdeckung des Ostens 20 Kann man Europa lernen? Geistlicher Impuls 22 Die Treppe hinab Nachrichten 25 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 28 Jubilare Medien 29 Papst-Bücher Vorgestellt 30 Papst Franziskus 33 Autoren dieser Ausgabe Die besondere Bitte 34 JRS 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Virtualität – Anwesenheit des Abwesenden 6 Virtualität aus der Schulperspektive 8 Mailgewitter & Twitterstürme 10 In die Computerzeit hineinleben 11 Erreichbarkeit 2.0: Facebook ohne Ende 14 Online-Exerzitien 16 Pastorale Projekte 17 Warum ich (noch) nicht bei Facebook bin 18 Warum ich bei Facebook bin 20 blog.radiovatikan.de 21 Jesuiten in Facebook Geistlicher Impuls 22 Von der Versuchung, virtuell zu leben Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Vorgestellt 29 Gebetsapostolat Nachrufe 2012 30 Unsere Verstorbenen Medien 32 DVD: Die Schrittweisen. Zu Fuß nach Jerusalem 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Die besondere Bitte 34 Ein Abonnement „Stimmen der Zeit“ 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2012/4 2012/4 Titelbild: @ Fotolia „Virtualität ist die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen.“ Diese Definition aus „Wikipedia“ auf vielfältige Weise umzusetzen, nahm sich Simon Lochbrunner SJ mit seinen Bildern im Schwerpunktteil dieser Ausgabe vor.

Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser, ob wir jetzt Papst sind? So fragten doch einige Freunde die Jesuiten mit einem Augenzwinkern nach der Wahl von Franziskus. Nun „gehört“ der Papst nicht dem Orden und im Mittelpunkt des Erstaunens steht wohl weniger, dass er „einer von uns“ ist. Vielmehr bewegen die demütigen und beeindruckenden Symbolhandlungen. Die ersten Monate machen deutlich, dass dieser Papst seinem Titel „Pontifex“ gerecht werden will: Er baut Brücken zur heutigen, modernen Welt und zu den Herzen der Menschen. Und wie es scheint, will er dabei ganz Jesuit bleiben: Er überschreitet Grenzen, die ihn davon abhalten, den Menschen nahe zu kommen und ihnen Christus zu verkünden. Brücken bauen und Grenzen überwinden ist aber kein Privileg des Papstes oder der Jesuiten, sondern eine Erfahrung, die wir alle in und mit Europa machen dürfen. „Europa!“ lautet unser Thema, wobei uns besonders das Ausrufezeichen wichtig ist. Seit der Finanzmarktkrise und den darauffolgenden Turbulenzen um die Stabilität des Euro setzen wir viele Fragezeichen: Hat der Euro noch Zukunft? Wie soll es weitergehen mit Europa? Ist eine einseitige und rigide Sparpolitik richtig? „Europa“ ist aber mehr als der Euro und die Finanzwelt. Europa ist eine Erfolgsgeschichte, eine Errungenschaft, eine Realität, die nicht nur im fernen Brüssel existiert, sondern unser alltägliches Leben verändert hat und prägt! Was „Europa“ ist und ausmacht, wird aus unterschiedlichen und vielfach ungewohnten Perspektiven beleuchtet. Sie können hier lesen, wie sich die rigide Sparpolitik auf das konkrete Leben in Spanien auswirkt. Sie erfahren, was Europa von den Sinti und Roma lernen könnte, wie die Ost-Erweiterung zur ganz persönlichen Horizonterweiterung geführt hat, und wie man von der Peripherie der Insel Maltas Europa wahrnimmt. Und Sie werden einen Ort kennenlernen, an dem ganz anschaulich und erlebbar ist, warum Europa auf dem Weg zu finden ist und nirgendwo anders. Aber auch an nachdenklicher Reflexion soll es nicht mangeln: Wir konnten den Präsidenten der Konferenz der europäischen Jesuitenprovinziäle, den Iren John Dardis SJ, sowie den Rektor der Päpstlichen Universität Gregoriana, den Franzosen François-Xavier Dumortier SJ, gewinnen, uns ihre Perspektive auf Europa mitzuteilen. Schließlich dürfen wir uns noch mit anderen Augen ansehen: In einer bewegenden Erinnerung denkt der ehemalige Präsident der Georgetown University Washington, Leo O’Donovan SJ, von der anderen Seite des Atlantik an „sein Europa“. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre und hoffen, dass Sie daraus Kraft und Mut für Ihre ganz persönlichen Grenzgänge und Brückenbauten schöpfen können! Tobias Specker SJ Patrick Zoll SJ 1 Jesuiten n Juni 2013 n Europa!

Europa – das ist mehr als Europa Einige verzweifeln in diesen Tagen an Europa: Auf Krisen folgen nur provisorische Kompromisse und auf Brüsseler Gipfel die jeweilige nationale Agenda. Und Kassandren gibt es genug, die selbstgefällig Schlimmstes vorhersagen. Es mangelt wirklich nicht an Gründen, zu fragen und zu zweifeln. Aber müsste man sich nicht auch die Zeit nehmen, um zu bedenken, welchen Weg wir schon zurückgelegt haben und sich zu fragen, welches Ziel uns heute aufgegeben ist? Europa, das heißt: Frieden. Tatsächlich hatte der Prozess der europäischen Einigung von Anfang an den Frieden als seine Herausforderung angesehen – mitten in einem mörderischen Europa, das verwundet und entstellt durch so viele Bruderkriege war. Heutzutage garantiert es ein Leben im Frieden, an das man sich so schnell gewöhnt hat und dessen Wert man erst sieht, wenn es bedroht ist. Europa, das ist ein klares Nein zum Fatalismus. Ja, es ist ein Europa der kleinen Schritte. Diese kleinen Schritte erscheinen nur denen zermürbend, die keine Geduld haben und vergessen, was Europa von Anfang an beseelt: Der Sinn dafür, die Geschichte noch vor sich zu haben. Ja, Europa liegt vor uns: Wie könnte man es übersehen, dass die Europäische Union eine noch unvollendete politische und geschichtliche Wirklichkeit ist, die weniger verächtliche Kritiker und Ankläger bräuchte als Frauen und Männer, die sich für die Zukunft Europas verantwortlich fühlen – für das, was wir unseren Nachkommen hinterlassen werden? Denn dieser Prozess der europäischen Einigung ist wahrlich keine europäische Selbstbezogenheit. Er ist vielmehr das größte Wagnis an Solidarität, das seit 60 Jahren in der gesamten Welt eingegangen wurde und das nicht aufgehört hat, die Augen zur Welt hin offen zu halten. Jenseits noch des „Internationalen“ ist es der Sinn für das Umfassende, das Universale, der das europäische Bewusstsein seit langem antreibt. Bereits am 9. Mai 1950 sagte Robert Schuman: „Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muss in erster Linie Deutschland und Frankreich erfassen“ – und am 22. Januar 2013 haben wir den 50. Jahrestag des Élysée-Vertrags gefeiert. Dieser zurückgelegte Weg hat eine Bedeutung, die zwei Völker und zwei Nationen übersteigt: • Es ist ein Weg der Versöhnung zwischen zwei Völkern, die sich zerfleischt haben. Heute ist diese Versöhnung kein Wunschtraum mehr, kein bloßes Versprechen: Sie ist eine lebendige Realität – mit einer Bedeutung auch für die anderen Völker im Herzen Europas: Sie ist ein Beweis, dass die Gewalt besiegt werden kann, wenn freie und mutige Menschen sich entscheiden, dass das Vergangene sich nicht wiederholen darf, und 2 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2013 n Europa!

die eine Vision für die Zukunft voranbringen, die neue Wege eröffnet. Denn der Frieden ist niemals nur bequeme Zufriedenheit und bloße Abwesenheit des Konflikts. Er ist ein täglicher Kampf gegen das, was ihn bedroht und was im Innersten des Herzens eines jeden Einzelnen wachsen kann. • Es ist ein Weg der Freundschaft. Freundschaft ist niemals banal und schließt die Freunde niemals gegenüber den Anderen aus. So überschreitet sich die deutsch-französische Freundschaft selbst und erreicht erst im Dienst eines größeren Friedensprojektes ihre Erfüllung: im Dienst der europäischen Einigung und in der Sorge um den Frieden in der ganzen Welt. • Es ist ein Weg der Hoffnung: Dort, wo die Versöhnung neue Zukunft eröffnet, dort, wo der Frieden eine unausweichliche Verantwortung wird, dort, wo die Freundschaft einen Vorgeschmack gibt auf eine immer intensivere Solidarität zwischen den Menschen, ist die Zukunft der Horizont, zu dem wir als Europäer unterwegs sind. So trägt die Versöhnung und Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland im Herzen der europäischen Einigung eine unvergleichbare Bedeutung in sich. Und wie könnte man die Erfahrung übersehen, die so viele Europäer machen, wenn sie reisen oder in anderen Kontinenten leben? Entdecken sie dort nicht alles, was sie an das „Alte Europa“ bindet? Ja, es gibt jenes Erbe, in das man hineingeboren wird: das Europa des Geistes und der Kultur… Es ist das Europa, das ein Menschenbild und eine Sorge um die menschliche Person verkörpert, die bisher noch nicht auszulöschen war. Es ist das Europa, das geformt wurde durch den christlichen Glauben, es ist das Europa der gemeinsamen Werte. Václav Havel sagte: „Ein Bürger zu sein, bedeutet, sich einer Verantwortung zu öffnen, die sich nicht durch eine Gewinn- und Verlustrechnung berechnen lässt.“ Europa braucht Bürger, die nach dem Vorbild unserer Gründungsväter – Adenauer, Schuman, de Gasperi – die europäische Einigung als eine Verantwortlichkeit leben, die es anzunehmen gilt, als eine Aufgabe, der man sich nicht entziehen kann, als eine Hoffnung, die zu verkörpern ist. Es liegt an uns, die Herausforderung anzunehmen. François-Xavier Dumortier SJ Rektor der Päpstlichen Universität Gregoriana Das größte Wagnis an Solidarität, das seit 60 Jahren in der gesamten Welt eingegangen wurde. 3 Jesuiten n Juni 2013 n Europa!

Mein Europa Meine Reisen haben mich quer durch Europa geführt – von Dublin nach Prag, von Stockholm nach Madrid. Doch gelebt habe ich nur in Deutschland und Frankreich – und „mein Europa“ ist deshalb deutsch und französisch. Als ich 1956 nach Frankreich kam, um Philosophie zu studieren, kam ich mitten in die Erfahrungen internationaler Krisen am Suez-Kanal und in Ungarn (letztere wurde mit intensiven Protesten meiner Kommilitonen gegen den russischen Einmarsch begleitet), aber auch der Perspektive der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die mit den Römischen Verträgen feierlich begründet wurde. Papst Pius XII. war in den letzten Jahren seines Amtes. Natürlich wurde ich bezaubert von Paris und fand in Chartres den schönsten Ort der Welt. Es war eine offene Welt – aber immer noch beschäftigt und sehr bemüht, nach dem II. Weltkrieg wieder auf die Beine zu kommen. Ich wurde ein europäischer Amerikaner. Zwölf Jahre später kam ich in Münster an, um mein Promotionsstudium bei Karl Rahner zu beginnen. Das Zweite Vatikanische Konzil war gerade erst beendet, Paul VI. hatte seine großartige Enzyklika „Populorum Progressio“ verfasst, und die Horizonte der Kirche wirkten so vielversprechend wie die Horizonte Europas verwirrend. Der Sechs-Tage-Krieg war die erste Erfahrung in meiner neuen Universitätsstadt, und ich fühle heute noch die Schockwellen der folgenden Ereignisse wie der Ermordung Martin Luther Kings und Robert F. Kennedys. Die Theologie in Münster, unter anderem mit J.B. Metz und Walter Kasper an der Fakultät, war nichtsdestoweniger aufregend. Gesegnet war ich mit meiner Stelle als Kaplan in einer wunderbaren Pfarrei, ganz zu schweigen davon, dass ich nicht nur Westfalen, sondern auch das Rheinland, Bayern und Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg und – jawohl – die „Romantische Straße“ 4 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2013 n Europa!

entdeckte. Ich war ein Amerikaner mit tiefen europäischen Wurzeln. Nun, da wir den 50. Jahrestag des ÉlyséeVertrags feiern, ist es mir bewusst, dass „mein Europa“ natürlich manch exzessivem Eurozentrismus geschuldet war. Mein Versuch ist heute, eine globale Menschheit und mit Rahner eine „Weltkirche“ zu denken. Aber ich glaube auch, dass mir das ungemein wertvolle Erbe eines europäischen Geistes geschenkt wurde, der in seinem Engagement und dem Streben nach hohen Idealen in sich anti-eurozentrisch ist: die Ideale der Würde einer jeden menschlichen Person, der hohe Wert der Gemeinschaft, des Strebens nach Freiheit und Gerechtigkeit, der freien Forschung und Meinungsäußerung, der künstlerischen Kreativität und des je größeren Horizontes Gottes in unserer menschlichen Erfahrung. Mein Europa, so finde ich, ist tiefer und weiter, sanfter und stärker, als ich es je verstehen konnte. Leo O’Donovan SJ 5 © WestPic Europabrücke auf der Brenner-Autobahn

Wir Jesuiten haben über zwanzig theologische Fakultäten in Europa. Jesuiten für Europa Ich war 17, als ich zum ersten Mal von Irland nach Deutschland kam. Es war das Jahr 1973 und ich verbrachte mit einem Austauschprogramm einige Zeit an einem Gymnasium in Aachen. Es war eine wunderbare Erfahrung in einer wichtigen Phase meines Lebens. Sie hat mich in die Geschichte der europäischen Wirklichkeit eingeführt – den Schmerz und das Leiden, den Reichtum der Unterschiede und der Chancen. Die Erfahrung gab mir eine Liebe zu den anderen europäischen Kulturen, genauso wie eine tiefere Wertschätzung meiner eigenen. Wandlungen 40 Jahre sind seitdem vergangen, und so viel ist seitdem geschehen. Europa befindet sich in einer Zeit der weitreichenden Transformation. Bald werden wir Kroatien als 28. Mitglied der Europäischen Union aufnehmen. Zum ersten Mal etabliert der Lissabonner Vertrag einen strukturierten Dialog zwischen Kirchen und der EU. Und zugleich gibt es die großen Herausforderungen: die massive Jugendarbeitslosigkeit, ein ansteigender Nationalismus und ein Überdruss im Appell an die Solidarität. Doch selbst im Zeitalter des Säkularismus gibt es heute große Chancen für das Christentum in Europa. Die Schlüsselprinzipien der katholischen Soziallehre, die Option für die Armen und das ökologische Bewusstsein können ein großer Beitrag sein. Wir Jesuiten haben über 20 theologische Fakultäten in Europa, voll von Experten in verschiedensten Gebieten. Man stelle sich vor, man könnte den vorherrschenden Provinzialismus hinter sich lassen und all die Expertise auf dem Level der Europäischen Union einbringen! Ein internationaleres Engagement der Jesuiten? 1994 stellte die 34. Generalkongregation der Jesuiten eine neue Dimension der Gerechtigkeit heraus und optierte für „eine Zusammenarbeit mit anderen nationalen und internationalen Gruppen für eine gerechtere internationale Ordnung“. Die Mission der Gesellschaft Jesu in Europa übersteigt die Arbeit einer einzelnen Provinz. Die gemeinsamen jesuitischen europäischen Werke sind zugleich Beispiel und Testfall der interprovinziellen Zusammenarbeit und der effektiven überprovinziellen Planung. 6 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2013 n Europa!

Unsere Aufgabe ist es, für die zu sprechen, die am Boden der Gesellschaft leicht vergessen werden. Lobbying für die Armen Lobbying ist in Brüssel eine eigene Industrie. Die Stadt ist voll von Bankern und Rechtsanwälten, die ziemlich gut darin sind, für ihre eigenen Interessen, wenn nicht Privilegien, Lobbyarbeit zu machen. Warum begeben sich Jesuiten in diese Welt? Unsere Aufgabe ist es, zusammen mit anderen christlichen Gruppen für die zu sprechen, die am Boden der Gesellschaft leicht vergessen werden, so, als ob sie im politischen Entscheidungsprozess keine Rolle spielen. Deswegen ist unsere Arbeit im Jesuit European Social Centre und beim europäischen Jesuiten-Flüchtlingsdienst so wichtig. Immer dann, wenn wir Flüchtlinge in das Parlament bringen oder über Migranten und Arbeitslose sprechen, werfen wir das Gewicht des Jesuitenordens und der Kirche in ihre Waagschale. Die Zukunft Mein Traum für Brüssel ist ein Haus der Jesuiten, das ein lebendiges Zentrum von Diskussionen, Debatten und Ideen ist, von dem aus wir pastorale und persönliche Unterstützung für die Angestellten und Politiker geben könnten, die in diesem komplizierten europäischen Umfeld arbeiten. Über 50.000 Angestellte sind es, die in den europäischen Institutionen und bei der NATO arbeiten – könnten wir ihnen doch Workshops zur katholischen Soziallehre und zu ignatianischer Spiritualität anbieten! Nicht zu vergessen, dass schätzungsweise alleine über 1000 Altschüler von Jesuitenschulen aus der ganzen Welt vor Ort sind! Manchmal stellen sich Jesuiten selbst Europa als eine Art Superbürokratie vor, die das rege Leben der Nationalstaaten erstickt. Diese Haltung muss sich unbedingt ändern. Die Provinzen müssen quer über Europa mehr zusammenarbeiten. Und sie müssen in Europa arbeiten, auch in Brüssel, so dass unsere christlichen Werte präsent sind, die Armen und Machtlosen am Tisch der EU-Politik eine Stimme haben und die Gute Nachricht der Befreiung und Gerechtigkeit gehört wird. John Dardis SJ 7 Jesuiten n Juni 2013 n Europa!

Europa auf dem Weg: Rabanal del Camino Europa ist auf dem Weg. Dies wird uns in den letzten Jahren sehr deutlich, angesichts der Euro- und Finanzkrise. In der gegenwärtigen geschichtlichen Etappe müssen Lösungen gefunden werden für die Finanzprobleme, die das europäische Projekt zu zerstören drohen. In der Konzentration auf die Herausforderungen dieser Wegstrecke vergessen wir aber allzu oft, dass „Europa“ mehr ist als der Euro und Finanzen. Europa ist nicht nur auf dem Weg, Europa selbst ist ein Weg. Welche Französin und welcher Deutsche hätte es etwa vor 70 Jahren nach den schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges für möglich gehalten, dass Deutschland und Frankreich nicht nur friedlich nebeneinander koexistieren, sondern wirtschaftlich und politisch auf’s Engste kooperieren? Erfahrungen aus Städtepartnerschaften und Schüleraustausch, aus dem Erasmus-Programm oder Urlauben haben den Weg für eine derartig erstaunliche – und geschichtlich gesehen wohl einmalige – Entwicklung geebnet. Europa steht für einen Weg der Versöhnung und Friedenssicherung. Diese Tatsache hat im letzten Jahr durch die Verleihung des Friedensnobelpreises Anerkennung erfahren. Diese europäische Gründungsidee kann jedoch nicht durch eine nostalgische Erinnerung am Leben erhalten werden. Wo kann man heute konkret erfahren, was „Europa“ über eine gemeinsame Währung hinaus bedeutet? Was „Europa“ ist, lässt sich für mich am besten auf dem Weg, dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela und einem Ort auf diesem Weg, Rabanal del Camino, veranschaulichen. Auf dem Weg nach Santiago begegnet man Engländern, Belgierinnen, Franzosen, Polinnen, Italienern und natürlich auch vielen Spanierinnen. Täglich formiert sich auf dem Weg und in den jeweiligen Pilgerunterkünften ein neues kleines Europa. Ein Europa, das sich geeint weiß durch ein gemeinsames Ziel. Der Weg auf dieses Ziel hin „schweißt“ – in mehrfacher Hinsicht – zusammen. Blasen, Erschöpfung, Sonnenbrand und Hunger sind international und relativieren sprachliche und kulturelle Unterschiede. Auf diesem Weg nun liegt Rabanal. Nahe León befindet sich hier eine kleine Niederlassung der Missionsbenediktiner aus St. Ottilien, die Pilger in ihrem Klostergebäude und einem nahe gelegenen Gäste- und Exerzitienhaus aufnehmen. Als ich mich dort im Januar 2007 mit vier Spaniern, einem Ecuadorianer und einem US-Amerikaner auf die Diakonweihe vorbereitete, war es eisig kalt. Doch selbst in dieser Zeit waren Pilger unterwegs. Im Frühjahr und Sommer ist es dann ein nicht versiegender Strom von Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprachen, Kulturen und wahrscheinlich auch Motivationen. Zusammen mit jesuitischen Helfern kümmern sich die Benediktiner dann um die Pilger. Jeden Abend wird gemeinsam Messe in der Dorfkirche gefeiert, und wer will, kann an den benediktinischen Gebetszeiten teilnehmen. Es ist schon spannend, dass hier 8 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2013 n Europa! © Fulcanelli

9 zwei Ordensgemeinschaften eng zusammenarbeiten, deren Gründungsfiguren jeweils in besonderen Krisenzeiten Europas gelebt haben: Benedikt von Nursia in Zeiten der Völkerwanderung und Ignatius von Loyola in Zeiten der aufbrechenden Kirchenspaltung, dem beginnenden Siegeszug der Naturwissenschaften und der Entdeckung Amerikas. Ihre Antworten auf diese europäischen Krisen waren jeweils anderer Art: Der eine setzte auf Stabilität, auf feste Orte, die dann ihr Umfeld kultivierten, und der andere auf Flexibilität und Mobilität. Die Notwendigkeit zu Aufbruch, aber auch zu Rast, zeigt sich somit in der christlichen Geschichte Europas. Vielleicht kann uns dies – neben nostalgischer Selbstvergewisserung – auch Hoffnung für das Projekt Europa geben. Weitere Informationen: http://de.monteirago.org/camino Patrick Zoll SJ Der Jakobsweg über die romanische Brücke in Puente la Reina, Spanien

Ein Blick auf Europa vom Rande her: Malta Europäische Flaggen, die Seite an Seite neben maltesischen auf öffentlichen Plätzen wehen und Euromünzen in den Brieftaschen sind selbstverständliche äußere Zeichen, die uns beständig daran erinnern, dass Malta nun schon für sieben Jahre ein Mitglied der EU ist. Aber sind wir auch mit dem Herzen schon in Europa angekommen? Gesetzgebung: Die Anpassung der maltesischen Gesetzgebung an EU-Richtlinien verlief relativ schnell. Aber die Übernahme einiger Gesetze (z.B. das Verbot der Vogeljagd) wurde doch nur zähneknirschend akzeptiert. Während ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Umweltschutz in Malta wächst, so machen doch manche Lobbygruppen solch „traditioneller” Freizeitbetätigungen Druck, Ausnahmeregelungen von der EU zu erwirken. Dies erregt dann oft mediale Aufmerksamkeit und schadet dem Image Maltas als sonnige und ruhige kleine Insel. Von diesen „traditionellen“ Gruppierungen abgesehen zeigt sich aber deutlich, dass die Mehrheit der Malteser eher noch europäischer werden will. Dies hat sich z.B. im „Ja” zur gesetzlichen Möglichkeit der Ehescheidung in einem Referendum 2010 deutlich manifestiert, die es so vorher nicht gab. Abgesehen von diesem strittigen Punkt ist man im Allgemeinen der Ansicht, dass Malta von der Einführung von EU-Richtlinien profitiert hat, insbesondere bezüglich Fragen der Gesundheitsfürsorge und Sicherheitsbestimmungen. Gesellschaft: Wenn man die Hauptstadt Valletta besucht, sind die vielfältigen europäischen Einflüsse augenfällig. Die Stadt und ihre Kirchen wurden im für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts typischen Barockstil von den Söhnen des europäischen Adels erbaut, den Rittern des Malteserordens. Die Bewerbung und schließlich die Entscheidung, dass Valletta europäische Kulturstadt 2018 wird, hat eine immense Renovierungs- und Bautätigkeit in Gang gesetzt. Besucht man hingegen kleinere maltesische Städte und Dörfer, so bemerkt man hier, dass der mediterrane Einfluss die Überhand gewinnt. Aber auch hier macht sich die Nutzung von EU-Geldern für Infrastrukturprojekte positiv bemerkbar. Das Schöne dabei ist, dass die meisten Zuschüsse dazu dienen, die typisch maltesische Kultur zu erhalten. Ein Brennpunkt: Illegale Einwanderung. Aufgrund seiner strategischen Position befindet sich Malta seit 2002 in einer heiklen Lage. Seitdem versuchen viele Afrikaner illegal über Malta nach Europa einzuwandern. Dieses Phänomen wird in der maltesischen Gesellschaft kontrovers diskutiert und anfangs hoffte man, dass die damit verbundenen Probleme von Brüssel schnell gelöst werden. Da es sich hier aber um eine komplexe Realität handelt, konnte die EU bisher keine schnelle und befriedigende Antwort auf diese Herausforderung präsentieren. Zumindest kann man feststellen, dass wenigstens einige Migranten, die oft aus verzweifelten Situationen fliehen, von 10 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2013 n Europa! © David Woolfenden

11 der EU-Gesetzgebung und dem damit gewährten Schutz profitieren. Auf der anderen Seite wird illegale Einwanderung nach dem maltesischen Gesetz mit 18 Monaten Haft bestraft, ohne dass EU-Richtlinien daran etwas geändert hätten. Die Tatsache, dass EU-Gesetze manchmal, wie in diesem Fall, neben maltesischen Gesetzen in Kraft sind, macht es für den gewöhnlichen Bürger schwer zu verstehen, was Migranten denn nun wirklich für Rechte haben. Die Zukunft: Die Mehrheit der Malteser, die Europa befürwortet, wächst beständig. Die Zukunft Maltas liegt sicherlich in den Händen der Kinder, die geboren wurden, nachdem Malta der EU beigetreten ist. Die Hoffnung ist, dass sie tolerant genug sind für eine Öffnung der Gesellschaft und gleichzeitig vorsichtig genug, um die wunderbaren Werte und Traditionen zu bewahren, die dieses Land lange gepflegt hat, insbesondere seitdem jener illegale Migrant Paulus zufällig mit seinem Boot im Jahre 60 nach Christus an der maltesischen Küste strandete. Joanna Falzon Brückenschlag über einen historischen Pfeiler: Die „Breakwater Bridge“ im Hafen von Malta

Sinti und Roma Das europäischste aller Völker In Europa leben etwa zwölf Millionen Sinti und Roma. Sie sind die größte Minderheit und jene ethnische Gruppe, die am schnellsten wächst. Die letzten vier Jahre habe ich in Sofia/Bulgarien im Rahmen der Stiftung „Concordia“ das Jugend- und Sozialzentrum „Sveti Konstantin“ aufgebaut und geleitet. Der überwiegende Teil der 80 Kinder und Jugendlichen, die bei uns wohnen, kommt aus Roma-Communities. Ich begegne in ihnen Menschen, in denen ein großer Reichtum liegt, ein Schatz, der Europa gut tut. Wie im Dschungel Im EU-Vergleich hat Bulgarien mit ca. 11% der Bevölkerung – das sind eine Million Menschen – einen der höchsten Anteile an Roma und Sinti. In ländlichen Gegenden konnten sich manche Berufe, die für Roma typisch sind, länger halten als in Mitteleuropa: Scherenschleifer oder Kesselflicker; auch Handarbeiter wie Korbflechter und Besenbinder. Doch inzwischen hat das Reparieren angesichts der billigen Massenfertigung auch in osteuropäischen Ländern keinen Sinn mehr. Auf der Suche nach einem besseren Leben zieht es daher auch sie in die Großstädte. Dort lebt inzwischen mehr als die Hälfte aller Sinti und Roma in illegalen Siedlungen, den sogenannten Mahalas. Auf dem Papier hat sich ihre rechtliche Situation seit den neunziger Jahren zwar gebessert, doch in den Armenvierteln ist wenig davon zu spüren. Das Leben in der ständigen Ungewissheit bestimmt ihr Lebensgefühl. Ein Roma-Jugendlicher hat das Leben in den Großstädten mit einem Dschungel verglichen, in dem die stärkeren Tiere die schwächeren fressen. Unsere SozialarbeiterInnen besuchen wöchentlich die Mahalas und bringen den Familien Kleidung und Essen. Die Kinder laufen, auch wenn es kalt ist, barfuß im Dreck herum. Die durchschnittliche Lebenserwartung in den Ghettos beträgt 52 Jahre. Europa am Boden der Realität Nach den Krisen der vergangenen Jahre ist die Euphorie um den Euro verschwunden. Wir sind auf dem harten Boden der Realität gelandet. Angesichts der Frage der Inklusion der Sinti und Roma könnten wir zeigen, dass es uns in Europa nicht nur um wirtschaftliche Interessen geht. Die Europäische Union definiert im Rahmen der Dekade von 2005 bis 2015 der „Roma-Inklusion“ vier Bereiche, denen während dieser Jahre besonderes Augenmerk geschenkt werden soll: Ausbildung, Arbeit, Gesundheit, Wohnen. In unserem Jugendzentrum in Sofia dreht sich sehr viel um die schulische und außerschulische Bildung der Kinder und Jugendlichen. 12 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2013 n Europa! © Benjamin Cabassot

13 Lernen von den Sinti und Roma Der Begriff „Inklusion“ betont im Vergleich zum Begriff „Integration“, dass es beim neuen Miteinander nicht um eine Einbahnstraße geht. Die Sinti und Roma werden in den genannten Bereichen Unterstützung benötigen. Damit dies aber gelingen kann, müssen sich die etablierten Gesellschaften auch Gedanken machen, was sie bei sich ändern und wo sie von den Sinti und Roma lernen wollen. Ein zentraler Wert in Europa ist Toleranz. Sinti und Roma leben diesen Wert. Sie sind es gewohnt, ihre Traditionen an verschiedene Kulturen und veränderte Bedingungen anzupassen. Der Zusammenhalt untereinander und in den Familien ist groß. In Roma-Communities im Kosovo zum Beispiel leben innerhalb einer Familie katholische und orthodoxe Christen und Moslems miteinander. Sinti und Roma kommunizieren über nationale Grenzen hinweg. Fahrende machen ihresgleichen mit geheimen Symbolen auf gute Stellplätze aufmerksam. Vielleicht könnten wir Sinti und Roma bitten, für Europa verschiedene Symbole der Gastfreundschaft zu entwerfen. Das wäre ein Signal dafür, dass wir ein gegenseitiges Interesse entwickeln wollen und dass Europa ein Miteinander verschiedenster Kulturen und Lebensweisen bleiben soll. Markus Inama SJ Historische Brücke von Mostar in Bosnien-Herzegowina

Wer engagiert sich in Brüssel für Europa? Den nicht immer scherzhaften Vorwurf „Ihr Jesuiten in Brüssel gehört also auch zu den Eurokraten“ habe ich in „meiner Zeit in Brüssel“ selten gehört. 1997 bis 2009 waren aufregende Jahre: Erweiterung; Euro; Verfassungskonvent, bei dem die Kirchen mit vielen Experten beteiligt waren… Einige Begegnungen rufe ich mir ins Gedächtnis: • René aus Frankreich, der mich immer wieder an die Geschichte der Union erinnerte: seine Generation sei noch viel mehr vom Idealismus geprägt gewesen als die junge „Generation der Karrieristen“. • Die philippinische Botschaftsangehörige, die mir sagte: „Je nachdem, wie eine Beamtin hier in Brüssel ein Komma setzt, verlieren oder gewinnen wir 100.000 Arbeitsplätze“ – das Komma entscheidet, ob bestimmte Waren zollpflichtig sind oder nicht. • Gosia aus Polen, die in Brüssel ihre Heimat vermisst, obwohl ihr Gehalt hier das von zu Hause um ein Vieles übersteigt. Sie sieht ihren Partner abwechselnd in Brüssel oder Warschau – eine „normale“ Wochenendbeziehung. • Alvis aus Lettland macht ein Praktikum. Die europäischen Einrichtungen arbeiten wie ein Durchlauferhitzer: jungen Leuten einige Monate die Lust auf Europa zu vermitteln, so dass sie zu Hause ein positives Bild von Europa aus erster Hand weiter geben. • Alessandra (16) zieht mit ihrer Familie alle vier Jahre in ein anderes Land: Saudi-Arabien – Rom – Washington – Rom. Jetzt für einige Jahre Brüssel: „Kaum hatte ich Freunde in Washington, da sind wir wieder weggezogen“ – und das wiederholt sich für NATO-Angehörige alle vier Jahre. • Miguel ist mit Leib und Seele „Andaluz“ – und Europäer. Jedes Jahr macht er die große Wallfahrt zur „Virgen del Rocío“ in einer Tracht, die in Brüssel nur auf Befremden stoßen würde. Traditionsverbunden als Andalusier und modern als Europabeamter – für ihn kein Widerspruch. • Gerlinde aus Österreich, die in Ausschüssen mit wildgewordenen Spaniern, Briten und Franzosen über Hochseefischerei streitet – mit dem Wissen über Fischerei auf Donau und Bodensee. • Jeroen, der holländische Reformierte, der seit Jahrzehnten die ökumenische Stimme der Kirchen in Brüssel unterstützt. In den verschiedensten, für ihn vielleicht befremdlichen Gottesdiensten tritt er auf, um „die gute Nachricht“ von der europäischen Einigung unters Volk zu bringen. • João, der portugiesisch-sprachige Priester, dem es auch nach Jahren nicht gelingen will, die EU-Portugiesen mit den Gastarbeitern zusammenzubringen, geschweige denn mit den brasilianischen Einwanderern. • Muammar aus Tunesien, der mit der EU ein Programm auflegt, das die abra- 14 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2013 n Europa! ©Russell Watkins

hamitischen Religionen an einen Tisch bringt. Die europäische Einigung ist auch von Interesse für die 16 Millionen Muslime in der Union. • Schwester Ines aus Spanien, die in Brüssel für die 400.000 europäischen Ordensleute arbeitet: hier die Ordensgemeinschaften in Europa in Erinnerung rufen und europaweit Veranstaltungen organisieren, um Ordenschristen „Europa“ näherzubringen. • Antun aus Zagreb freut sich auf den Beitritt seines Landes zur EU als 28. Mitglied – er hat Chancen, als mehrsprachiger junger Kroate dem Bedarfsprofil zu entsprechen. • Heide aus Deutschland arbeitet für die „Evangelische Kirche in Deutschland“: Die großen Kirchen sind hier nach dem Staat der zweitgrößte Arbeitgeber – in Brüssel haben sie ein großes Interesse, dass gewachsene Strukturen respektiert werden. • Die beiden Pfarrer der katholischen und protestantischen deutschen Gemeinden, die sich bemühen, ihre „EU-Deutschen“ nicht in ein europäisches Ghetto abdriften zu lassen – was ihnen auch mit viel Energie durch soziale Aktionen für Brüsseler Bürger gut gelingt. Der Einsatz der Jesuiten in Brüssel ist getragen von der Überzeugung, dass die ignatianische Spiritualität gut ist für die Menschen, die hier tätig sind: Gott in allen Dingen entdecken und die Welt Seinem Projekt näher bringen. Das europäische Projekt ist einem christlichen Gesellschaftsentwurf sehr nahe, und es gibt viele Menschen guten Willens, die sich dafür einsetzen: Ihnen bei ihrer Suche nahe zu sein, ist Hauptaufgabe unserer Pastoral in diesem Milieu. Einige dieser Menschen wollte ich vorstellen. Wolfgang Felber SJ 15 Jesuiten n Juni 2013 n Europa! Brücke im Nebel

Europa von unten Die Notwendigkeit einer integralen Evangelisation Europas Ich lebe und arbeite in Madrids Stadtviertel Ventilla, wo vor 100 Jahren der Jesuitenheilige José María Rubio etwas zu entwickeln begann, was er „integrale Evangelisation” nannte, also eine Evangelisation, die neben einer katechetischen und liturgischen auch eine soziale und erzieherische Dimension hat. Ist so etwas in einem Sozialstaat im Jahre 2013 auch noch notwendig? Ich möchte dazu vier Geschichten aus dem Alltagsleben unseres Viertels erzählen. Die Zahlen zur Arbeitslosigkeit in Spanien sind so erschreckend, dass sie fast nicht zu glauben sind. Die Arbeitslosenquote beträgt 25%. In mehr als 10% der spanischen Haushalte sind alle Mitglieder von Arbeitslosigkeit betroffen. Unter Jugendlichen oder Migranten wird die Arbeitslosenquote von 50% überschritten. Eine konkrete Lebensgeschichte dazu: Unser Nachbar Mohamed ist Spanier mit marokkanischem Hintergrund. Er ist Bauarbeiter, 47 Jahre alt und seit drei Jahren arbeitslos. Seine Arbeitslosenhilfe ist ausgelaufen. Seine Frau Fátima arbeitet stundenweise als Haushaltshilfe, was das einzig regelmäßige Einkommen der Familie darstellt. In dieser gesellschaftlichen Situation, schließt die Stadtregierung Madrids im Juni 2012 ihre Zentren der Arbeitsvermittlung. Die Sparpolitik trifft in diesem Fall die Personen, die die größten Schwierigkeiten haben, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen: Behinderte, Migranten und Frauen. Eine weitere Geschichte: Mein Freund Yaya kam vor vier Jahren aus Mali nach Spanien, nach einer Odyssee durch Afrika. Zurzeit fehlt ihm eine Wohn- und Arbeitserlaubnis. Die Reform des Gesundheitswesens, die von der spanischen Regierung im April 2012 erlassen wurde, hat zur Folge, dass er zu diesem keinen Zugang mehr hat. Er hat eine chronische und degenerative Augenkrankheit, die zur Erblindung führt. Seine Ärzte kennen ihn schon lange und wollen ihn weiter behandeln, aber politische und bürokratische Entscheidungen verhindern dies. Yaya erblindet, aber unser System (vormals „Wohlfahrtsstaat“ genannt) erblindet ebenfalls. Es erweist sich unfähig, das Leiden der Personen zu sehen, die am Verwundbarsten sind. Zur Blindheit kommt die Kurzsichtigkeit. Die Kürzungen im Bildungssektor sind ohne Zweifel, eine sehr kurzsichtige Maßnahme. Damit werden kurzfristig Einsparungen erzielt, die in einer nicht allzu fernen Zukunft schwere und nachhaltige Schäden zur Folge haben werden. Die 16-jährige Oberstufenschülerin Luisa ist in Madrid als Tochter einer bolivianischen Mutter und eines spanischen Vaters geboren. In diesem Jahr gab es in ihrer Schule – wie in so vielen anderen – kein Bücherstipendium. Ohne 16 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2013 n Europa!

Eine Evangelisation, die auch eine soziale und erzieherische Dimension hat. Bücher kann sie nicht lernen. Deshalb entschloss sich das jesuitische Sozialzentrum „Pueblos Unidos“ in Ventilla, ihr das Buch zu kopieren. Man sagt, hier sei eine Straftat begangen worden. Aber welche? Den Schutz des intellektuellen Eigentums nicht respektieren oder eine 30% Quote von Schulabbrüchen hinnehmen, die wiederum die schwächsten Glieder der Gesellschaft trifft, insbesondere Angehörige der zweiten Generation von Migranten? Heute hat mich meine Nachbarin Jenny besucht. Seit Monaten arbeitslos, kann sie die Miete ihrer Wohnung nicht mehr bezahlen. Ihr ältester Sohn, der 19-jährige Juan, hat ebenfalls seinen Arbeitsplatz in einem Obstladen verloren. Wie bewältigt man den kommenden Monat? Muss sie beginnen, ihr Hab und Gut und das ihrer drei Sohne aus der Wohnung zu räumen? Seit über einem Jahrzehnt lebt sie im Viertel, und jetzt weiß sie nicht, wo sie in einigen Wochen wohnen wird. Diese Erzählungen spiegeln nur kleine Facetten der dramatischen und erschütternden Geschichte, in der wir seit einigen Jahren leben. Begonnen hat diese Geschichte mit einer brutalen Finanzkrise, und verstärkt und weitergeschrieben wird sie durch die politische Antwort, die auf diese Krise gegeben wird. Konterkariert wird dieser politische Umgang mit der Krise von zivilgesellschaftlichen Reaktionen bürgerlicher Solidarität. Es sind lokale und selbstverwaltete Beschäftigungsinitiativen entstanden, wie das afrikanische Restaurant, welches wir vom Zentrum „Pueblos Unidos“ mit gegründet haben. Eine Bewegung hat sich formiert, die Menschen begleitet, die durch die erwähnte „Reform“ des Gesundheitswesens von einer ärztlichen Grundversorgung ausgeschlossen werden. Sie ruft zu zivilem Ungehorsam gegen diese politisch legitimierten Maßnahmen auf. Die sogenannte „Grüne Welle“ kämpft für einen Zugang zu öffentlicher Bildung und Erziehung ohne Beschränkungen durch Armut oder Migrationshintergrund. Ebenso kann die „Plattform von Verschuldeten“ genannt werden, die für Hunderte von Familien erreicht hat, dass eine Zwangsräumung ihrer Wohnungen und Häuser ausgesetzt wird, und die es geschafft hat, eine gesellschaftliche Debatte über das Recht auf Wohnung zu entfachen. Integrale Evangelisation scheint in unseren Zeiten so notwendig wie zu Zeiten des Pater Rubio. Daniel Izuzquiza SJ 17 Jesuiten n Juni 2013 n Europa!

Auswirkungen der Finanzkrise Das Institut zur Friedensforschung – Fundación Seminario de Investigación para la Paz (SIP) – wurde vor mehr als 25 Jahren von einem Jesuiten in Zaragoza, im Nordosten Spaniens, gegründet. Hauptziel ist die Förderung einer Kultur des Friedens und der Menschenrechte, deren wissenschaftlicher Reflexion sich das Institut annimmt. Trotz seiner großen Anerkennung weiß dieser „Think Tank“ der spanischen Gesellschaft, dessen Bestehen von einer Finanzierung durch die Regionalregierung der Provinz Aragón abhängt, nicht, ob er seine Arbeit noch lange wird fortsetzen können. Die Zukunft Europas, wie wir es kennen, wird im Süden aufs Spiel gesetzt. Die seit fünf Jahren andauernde ökonomische Krise der iberischen Halbinsel untergräbt das Vertrauen, dass die spanischen und europäischen Institutionen in der Lage sind, die drängenden Probleme zu bewältigen. Diese Institutionen erweisen sich als ohnmächtig gegenüber einer wohl noch nie da gewesenen Situation, die sich durch das Zusammenspiel von drei Faktoren auszeichnet: Nationalismus, Korruption und Arbeitslosigkeit. In einer derartigen Lage wächst der Dissens über die Errungenschaften des demokratischen Übergangs in Spanien, seiner europäischen Integration und des Wohlfahrtstaats im Allgemeinen. Was als Krise der Märkte begann, hat sich zu einer gesellschaftlichen Krise ausgeweitet. Das Phänomen der „Empörten“ – was seinen symbolischen Ausdruck in den Tausenden von Jugendlichen fand, die im Frühjahr 2011 einen zentralen Madrider Platz besetzt hielten – spiegelt die wachsende soziale Unzufriedenheit wider und das Misstrauen gegenüber einer ökonomischen wie finanziellen Klasse, der es an Willen oder Fähigkeit fehlt, sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Die gesellschaftlichen Krisen, die der spanische Staat in den letzten fünf Jahren verursacht hat, haben den ökonomischen und sozialen „Boden“ erodieren lassen, den es für die Etablierung und Erhaltung einer Gesellschaft braucht, in der Menschen in Würde leben können. Die Bewahrung dieses sozialen „Bodens“ ist letztlich nicht ohne ein Vertrauen von Menschen ineinander und gegenüber ihren gesellschaftlichen Institutionen möglich. Ein Vertrauen, das lebensnotwendig für das Fortbestehen jeder Gesellschaft ist. Die Arbeit von Institutionen wie der SIP ist darauf ausgerichtet, genau dieses Vertrauen herzustellen und zu pflegen. Jordi Paniagua Soriano Jaime Tatay Nieto SJ 18 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2013 n Europa!

Die Entdeckung des Ostens 1991 war meine erste Fahrradtour Richtung Osten. Ich kannte Europa von Radtouren. Genauer: Ich dachte, Europa zu kennen. Aber wie bei vielen meiner Generation - ich bin im Jahr der Mauer 1961 im Westen geboren - hat die Mauer und der Eiserne Vorhang in meinem Kopf funktioniert. Ich fühlte mich als Europäer und hätte freihändig eine Karte von Frankreich und Italien malen können. Aber dass es da Richtung Osten noch ein reales Land gibt, wo reale Menschen wohnen, das war ausgeblendet. Und dann wurde die Grenze geöffnet. Erst wurde mir klar, dass Deutschland größer ist als das, was ich kannte. Dann sickerte ins Bewusstsein, dass es dahinter noch mehr gibt. In dem Maße, in dem ich gemerkt habe, wie sehr ich mich durch die Mauer habe manipulieren lassen, habe ich mich schlicht geschämt. Die Menschen im Osten mussten mit der Mauer leben. Ich hätte eine Alternative gehabt. Was mir in diesem Sommer klar geworden ist, war, dass es leicht ist, sich als Kosmopolit und weltläufiger Europäer zu fühlen, solange man aus dem unbewussten Gespür von klaren Grenzen lebt; Mittelmeer, Atlantik und eben die künstliche Grenze im Osten. Es war ein Schritt von meiner Seite nötig, mich der Unüberschaubarkeit zu stellen. Als ich einige Jahre später dem Provinzial einen Vorschlag machen konnte, wo ich das Tertiat absolvieren wollte, habe ich Polen genannt. Und so war ich mit neun polnischen Jesuiten als einziger Ausländer in einem Kurs und musste mich einer Kultur und Religiosität stellen, in der es Vertrautes und Fremdes gleichermaßen gab. Ich musste lernen, wie viel von dem, was ich als selbstverständlich jesuitisch annahm, in Wirklichkeit Prägung der westlichen Kulturrevolution der 70er Jahre gewesen ist. Ich habe dabei auch viele Vorzüge dieser Erneuerungen im Westen schätzen gelernt; aber in den Monaten an der polnischen Ostseeküste habe ich auch etwas von der westlichen Arroganz verlernt, die sich gerne als Spitze des kulturellen und kirchlichen Fortschritts begreift. Ich bleibe Kind meiner Generation. Ich bin wieder zurück in Deutschland. Aber ich bin dankbar, dass ich mein Tertiat in diesem ganz nahen und doch ganz fernen Land direkt an unserer Grenze im Osten verbracht habe, am Tor zu einer Kultur, die zu Europa dazu gehört und ohne die weder unsere Gesellschaften noch die Kirche in Europa vollständig wären. Martin Löwenstein SJ 19 © yelena011

Kann man Europa lernen? Erfahrungen aus der Jugendbildung Europa retten? Nichts leichter als das: Man nehme Jugendliche aus dem ganzen Kontinent und bilde sie zu überzeugten Europäerinnen und Europäern. Punkt. Wenn Sie jetzt skeptisch blicken, dann zu Recht, ist es doch einiges komplizierter, „Europa“ zu vermitteln. Leider kommt in den meisten Schulen das Thema Europa zu kurz – auch wenn es eigentlich in allen Bundesländern in den Lehrplänen steht. In der außerschulischen politischen Jugendbildung gibt es dagegen schon lange einen eigenständigen Zweig der europapolitischen Bildung, mit eigenen Konzepten und Veranstaltungen. Es sind im Wesentlichen drei Themenkomplexe, auf die die europapolitische Bildung abzielt: Erstens ist es die gemeinsame europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Erzählung, dass die europäischen Staaten nach zwei Weltkriegen die Notwendigkeit erkannten, dass nur durch eine enge Kooperation zwischen den Staaten ein friedliches Europa möglich ist, ist hierbei der Kern. Für Jugendliche ist das heute zu wenig: Die Weltkriege des letzten Jahrhunderts sind weit weg, und Frieden gibt es, seitdem sie denken können. Dennoch ist es der Ausgangspunkt, um zu erklären, wie es überhaupt dazukommen konnte, dass sich Nationalstaaten auf diese einzigartige Weise voneinander abhängig machten. Das zweite Thema sind die europäischen Institutionen: das Europäische Parlament, die EU-Kommission, der Rat der EU – nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat. Auch für diese können sich die meisten Jugendlichen nicht auf Anhieb begeistern. Doch wie soll ohne sie erklärt werden, wie Europa funktioniert, wie und von wem Entscheidungen getroffen werden? Sie sind schließlich die Akteure, die über die europäischen Normen abstimmen, auf die inzwischen fast 80 Prozent der Gesetze in Deutschland zurückgehen. Der dritte Themenkomplex ist die Politik, die in und durch Europa betrieben wird. Sicherlich hat heute jedes Politikfeld eine europäische Dimension. Doch welches sind die politischen Fragen, die wirklich europäisch angegangen werden müssen und gleichzeitig aktuell sind? Für Seminare bieten sich vor allem die Umweltpolitik und die mit ihr eng verbundene Energiepolitik an. Nach wie vor gilt: Die Luftverschmutzung macht an nationalen Grenzen nicht halt – und dasselbe gilt auch für den Klimawandel. Migration ist das zweite große Thema, das nicht auf nationalstaatlicher Ebene alleine gelöst werden kann. An den Außengrenzen der EU wird eine Abschottungspolitik betrieben, die bei einem Europa-Seminar nicht verschwiegen werden darf. Das dritte Politikfeld, das aktuell in den Europa-Seminaren eine wichtige Rolle spielt, ist die Wirtschafts- und Finanzpolitik. 20 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2013 n Europa! © h368k742

21 Wenn ein Europa-Seminar zugleich eine internationale europäische Jugendbegegnung ist, dann verläuft parallel zu den genannten Themenkomplexen ein interkultureller Prozess. Jugendliche erfahren, dass Franzosen manche Fragen anders beantworten als wir, und ebenso die Polen, oder auch die Malteser. Nur leider fällt die Förderung solcher wirklich europäischer Seminare der durch die Finanzkrise verursachten Sparpolitik häufig zum Opfer. Ein letzter Aspekt noch: Europapolitische Jugendbildung ist zugleich auch politische Bildung. Das heißt, es gilt auch hier der sogenannte Beutelsbacher Konsens, in dem Grundsätze der politischen Bildung formuliert sind. Unter anderem bedeutet das dort genannte Überwältigungsverbot, dass Jugendliche nicht einseitig inhaltlich manipuliert werden dürfen. Ziel dieser Seminare darf es also nicht sein, eine Europa-Begeisterung zu vermitteln, sondern Jugendliche in die Lage zu versetzen, die europäische Politik kritisch zu begleiten. Kann Europa also durch Bildung hergestellt werden? Nein, aber es ist möglich, Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, sich differenziert mit den Fragen Europas auseinanderzusetzen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Kai Stenull

Die Treppe hinab Im Evangelium nach Lukas beobachtet Jesus, wie sich die geladenen Gäste die Ehrenplätze aussuchen. Ihnen gilt seine Mahnung: „Wenn du eingeladen bist, setz dich auf den untersten Platz.“ Dieses Wort hat die Kleinen Brüder und Schwestern von Charles de Foucault zu einer entschiedenen Option inspiriert, ihr Leben mit den Armen zu teilen und dauerhaft unter ihnen präsent zu sein. Auch Arbeiterpriester haben diese Mahnung Jesu radikalisiert und sich geweigert, den letzten Platz zu verlassen und sich von den Kollegen zum Betriebsrat wählen zu lassen. Spricht Jesus nur eine Empfehlung aus, bescheiden zu sein? Oder verkörpern sein Lebensstil und er selbst die Absicht Gottes, den letzten Platz unter den Menschen zu wählen? Jahwe hat unter den Völkern nicht diejenigen erwählt, die zahlreich und mächtig sind, um andere zu beherrschen. Seine Wahl gilt dem kleinsten unter allen Völkern, dem Wurm Jakob, dem Würmlein Israel. Jesus hat nicht das Ambiente der Hauptstadt gesucht, das Milieu der religiösen und politischen Eliten. Sein vorrangiger Ort war Galiläa, die Lebenswelt der Bauern und Fischer, das geächtete Volk, das vom Gesetz nichts versteht. Der Philipperbrief fasst den hinabsteigenden Lebensentwurf Jesu in die Worte: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ Sind die Christen, sind die verfassten Kirchen in der Lage, über ihre verbale „Option für die Armen“ hinaus die gesellschaftliche Treppe hinabzusteigen und das Leben mit den Benachteiligten zu teilen? Christen in Europa sind beunruhigt über die monetären Turbulenzen und die realwirtschaftlichen Spaltungen, die längst nicht bewältigt sind, auch wenn die Regierenden Parolen streuen, sie hätten die Metastasen der Krise im Griff. Sie meinen nämlich, mit geschärften finanztechnischen Instrumenten dort fortfahren zu können, wo der Trend wachsender Produktion und zusätzlichen Konsums unterbrochen worden war. Was Europa zuerst braucht, ist eine Architektur der Solidarität. Leider neigen die wirtschaftlich stabilen Länder zu einer verengten Sichtweise. Sie gleichen darin den von Jesus beobachteten Gästen, die auf die Ehrenplätze starren und behaupten, sie entsprächen ihren Verdiensten. Aber sind sie berechtigt, diese ausschließlich als ihr eigenes Verdienst zu beanspruchen? Verdanken sie nicht vieles von dem, was sie sind, dem Zusammenspiel aus Zufall, günstiger Startposition und Vorleistungen, die andere für sie erbracht haben? Wer sich derart überzogen einschätzt, deutet alles Geschehen aus der eigenen Perspektive der Stärke und nicht vom Standpunkt der Schwächeren aus. Er 22 Jesuiten n Juni 2013 n Europa! Geistlicher Impuls

23 verlangt, alle anderen sollten ebenso begabt sein und sich ebenso anstrengen wie er selbst. Zudem behandelt er andere wie ein schlechter Oberlehrer, unterstellt ihnen Faulheit, Täuschung und Betrug. Die Sprache europäischer Solidarität klingt anders. Bevölkerungen sind ungleich und bleiben es. In der menschlichen und kulturellen Vielfalt liegt der Charme Europas. Zugleich fühlen sich die Völker miteinander verbunden: Die kriegerische Geschichte ist einer Epoche des Friedens gewichen, der Wille zur Verständigung hat Sprachbarrieren weggeräumt, Flüchtlinge aus den ehemaligen Diktaturen wurden als Kollegen begrüßt. Europa ist in den Menschenrechten verankert, es gelten politische Beteiligungsrechte, wirtschaftlich-sozial-kulturelle Anspruchsrechte und freiheitliche Abwehrrechte. Mit dieser gemeinsamen Grundlage wird eine Gegenseitigkeit bejaht, die asymmetrisch ist: Die reichen und mächtigen Länder sind verpflichtet, Beiträge zu entrichten, die ihrem Leistungsvermögen entsprechen. Die benachteiligten und schwächeren Länder sind berechtigt, Hilfen zu beanspruchen, die ihrer Notlage entsprechen. Eine solche Asymmetrie von Pflichten und Rechten macht das „Geheimnis“ der Solidarität aus, die der Markt und eine marktförmige Demokratie nicht kennen. Eine solche Steuerung braucht Europa: das Herabsteigen der großen und mächtigen Völker nach unten zu den Schwestern und Brüdern, die in Not sind und leiden. Friedhelm Hengsbach SJ ©DaPix/photcase.com

RkJQdWJsaXNoZXIy MjIwOTIwOQ==