Jesuiten 2014-3

Radikale Ästhetik Radikale Ästhetik kann eine reduzierte bedeuten, die sich auf das Wesentliche konzentriert. Die mittelalterliche Kunst der Zisterzienser, die auf alles verzichtet, was die Sinne von Gott ablenken könnte, ist in diesem Sinne radikal: Keine Musik außer dem Chorgesang der Mönche, keine Farben in den Glasfenstern, keine Heiligenfiguren und nichts an Dekor außer Maria, die ganz Empfangende ist, so wie der Mönch es sein soll: Empfangender des reinen göttlichen Lichts. Als Purgatorium für die Sinne und für eine begrenzte Zeit sicherlich sehr hilfreich, um das Entscheidende wieder zu entdecken. Aber wird damit nicht ein ideales Menschenbild vorausgesetzt und angestrebt, das mit unserer Erfahrungswirklichkeit nichts zu tun hat? Fördert radikale Ästhetik so verstanden und die ihr entsprechende Lebensweise nicht geradezu radikale Ansichten und Haltungen? Einfachheit und Kargheit im Stil der Kunst der Zisterzienser inspirierten den weltberühmten Architekten Le Corbusier beim Bau des Dominikanerklosters La Tourette bei Lyon. Asketischer, puristischer Geist wurde zwischen 1956 und 1960 Form in Beton und Glas. Klarheit und Schönheit sollen sich um ihrer selbst willen zeigen. Unabhängig vom Leben, wie es scheint. Es heißt lapidar, der Konvent sei wegen Nachwuchsmangels schon nach nicht ganz zehn Jahren wieder ausgezogen. Es darf gefragt werden: Ist radikale, absolute Ästhetik, die den Menschen und seine Bedürfnisse nicht ernst nimmt, letztlich rücksichtslos und unmenschlich? Bedeutet radikale Ästhetik, die Realität – so wie sie dem Auge erscheint – schnörkellos und ungeschminkt zu zeigen? Domenico Ghirlandaio malt um 1490 in seinem Portrait eines alten Mannes dessen Nase mit seinen krankhaften Wucherungen so realistisch, dass unser Auge, von der Werbeästhetik enggeführt, am liebsten wegschauen möchte. Ein paar Jahre später porträtiert Albrecht Dürer seine Mutter in ähnlicher Radikalität: die hervortretenden Backenknochen und die heraustretenden Augäpfel lassen den Betrachter teilhaben am Prozess des Alterns eines Menschen und konfrontieren ihn mit Endlichkeit und Tod. Max Beckmann und Otto Dix haben am Beginn der Moderne ähnlich empfunden und die Schrecken und die Brutalität des 1. Weltkriegs künstlerisch aufgearbeitet. 18 Schwerpunkt Jesuiten n September 2014 n Radikal Schönheit und Kunst verweisen auf den Künstler als Schöpfer: auf den Menschen.

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