Jesuiten 2015-4

Augen des Glaubens Vor Jahrzehnten wollte ich die Wendung Jesu erklären: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder ...“. Ich machte eine Sonntagsaushilfe im Schwäbischen und kannte den Gemeinderatsvorsitzenden. Er hatte eine Tochter von 10 Jahren. Ich bat das Mädchen: „Marion, wenn ich dich während der Predigt rufe, dann komm einfach aus der Bank, geh zu mir nach vorne und schau mich an.“ Die Aufgabe war leicht und das Mädchen spielte mit. Ich stand vor dem Mittelgang, drei Stufen erhöht, Marion blieb vor der untersten Stufe stehen und schaute hoch zu mir. Ich sagte: „Seht her, die Marion blickt nach oben. Ein Kind muss, weil es klein ist, zu den Erwachsenen hoch schauen.“ So deutete ich das Wort und Kindsein Jesu: „Wird in den Evangelien nicht oft erzählt, dass Jesus zum Himmel, zu seinem Abba aufblickt? War nicht das gläubige Aufblicken zum Vater seine Speise, sein Lebensinhalt?“ Mit der Zeit kamen mir Zweifel an meiner Auslegung. Ich sagte mir: „Definierst du das Kindsein nicht zu sehr vom Erwachsenen her? Ist das nicht eine autoritäre Grundkonzeption?“ Ich machte das Experiment nochmals und rief bei einer Predigt ein viel jüngeres Kind, das bei seinem Vater noch auf dem Schoß saß. Es war vielleicht drei Jahre alt und bewegte sich noch unsicher auf den Beinen. Ich bückte mich etwas, schaute das Kind an und rief es. Der Papa ermutigte die Kleine, und sie stapfte ein paar Schritte allein durch den Mittelgang. Zu mir hoch schauen; das konnte ich vergessen. Das Kleinkind blickte mit großen Augen vor sich hin, und ich musste mich noch tiefer hinab bücken, um ihm in die Augen zu schauen. Jetzt hatte ich eine ganz andere Predigt und fragte: „Was macht das Kind zu einem Kind?“ Die Antwort: „Ein kleines Kind nimmt die Welt mit den Augen wahr. Es schaut mit offenen Augen in die Welt. Rückenstärkung dazu gibt die Liebe der Eltern. Der liebevolle Blick der Erwachsenen hilft einem Kind, die Welt mit großen, staunenden Augen zu entdecken.“ Ich konnte jetzt das Kindsein Jesu ganz anders deuten: „Jesus war ein Augenmensch. Das Auge war für ihn das Licht des Leibes (Mt 6,22). Er hatte den ganzheitlichen Blick für die Wirklichkeit, nicht den Schauklappenblick des Richtens und Urteilens. Er konnte mitten aus dem Alltagsgeschehen und mit ungewöhnlichen Begebenheiten das Wirken Gottes aufzeigen und in Geschichten kleiden. Die Natur war für ihn ein offenes Bilderbuch Gottes. Er lebte aus einer unverstellten Grundbeziehung zu Gott. Weil er um den liebenden Blick seines Abba wusste, konnte er Menschen bis auf den Grund ihrer Seele blicken, sah Heilungs- und Hoffnungskräfte in jedem, 22 Jesuiten n November 2015 n Junger Glaube Geistlicher Impuls

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