Jesuiten 2016-2

Bei einem etwas ungewöhnlichen Anlass wurde mir zum ersten Mal bewusst, welche Überzeugungskraft ein Prediger entfalten kann: Ein stadtbekannter Lebemann war verstorben, und unser Heimatpfarrer predigte eindringlich von der späten Reue des eigentlich herzensguten Sünders. Zum Schluss der Predigt war die sehr zwielichtige Trauergemeinde zu Tränen gerührt und fest entschlossen, fortan ein anständiges Leben zu führen – auch wir Ministranten schnieften und schnäuzten in unsere Taschentücher. Ich erlebte viele große Predigten unseres Pfarrers und war erstaunt, als er mir Jahre später erzählte, er habe während seiner Kaplanszeit enorme Schwierigkeiten beim Predigen gehabt. Er habe begonnen, sich vorzustellen, dass seine Zuhörer Freunde seien, welchen er in einem kurzen Brief mitteile, was ihm am Herzen liege: „Freunde verzeihen Formfehler, zu lange und zu kurze Briefe – aber sie merken sofort, wenn mich das Thema nicht interessiert.“ Ich habe viele gute und schlechte Predigten gehört, aber letztlich ist eines entscheidend: Wenn sich ein Pfarrer genug Zeit nimmt, um seine Gedanken zu ordnen, und herausstreicht, wovon sein Herz erfüllt ist, merken wir Zuhörer das und sind ihm dankbar – als Freunde, die sich mit ihm über kluge Einsichten freuen. Stefan Einsiedel 7 JESUITEN n JUNI 2016 n PREDIGEN Wenn sich ein Pfarrer genug Zeit nimmt, merken wir das und sind ihm dankbar. © SJ-Bild/Christian Ender

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