Jesuiten 2016-3

Der Feind in mir Lüneburg, am 21. April 2015. Vor der vierten großen Strafkammer beginnt einer der letzten Auschwitz-Prozesse. Angeklagt ist der 93-jährige Oskar Gröning, der von 1942 – 1944 in AuschwitzBirkenau tätig war. Er arbeitete an der Rampe, entwendete den ankommenden Häftlingen ihr Gepäck, nahm ihnen ihr Geld und brachte es zur SS nach Berlin. Unter den 60 Nebenklägern, zumeist Holocaust-Überlebende und Angehörige der Opfer, ist auch Eva Maria Kor. Im Mai 1944 wurde sie mit ihren Eltern und drei Schwestern ins Konzentrationslager verschleppt. Nur sie und ihre Zwillingsschwester Miriam überlebten – trotz der grausamen Experimente, die der Lagerarzt Josef Mengele an beiden durchführte. Bis heute weiß sie nicht, welche Mittel ihr damals injiziert worden sind. Ein Tag später. Eva Maria Kor tritt auf. An ihrer Aussage werden sich später manche stoßen und mit Empörung reagieren. Sie erzählt, sie habe abseits der großen Öffentlichkeit dem Angeklagten die Hand zur Versöhnung gereicht. „Ich habe den Nazis vergeben“, sagt sie von sich, auch wenn ihre Vergebung die Täter nicht freispreche. Es ist nicht nur Kors öffentliche Inszenierung und ihre aufdringlich missionarische Haltung, die bei vielen Befremden hervorruft. Die öffentlich geäußerte Vergebungsgeste sei, so kritisieren manche, unanständig. Und wenn nicht unanständig, dann zumindest missverständlich, weil man die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer zum zweiten Mal zu Opfern mache: Wenn sie nicht in der Lage seien, mit dem ihnen zugefügten Leid versöhnt umzugehen, dann sei das ihr eigenes Problem. In einem BBC-Interview erklärt sich Kor ein paar Tage später. Es stimmt, sie habe allen Nazis vergeben, sagt sie, aber nicht, weil diese es verdient hätten, sondern weil sie selbst es verdient hätte. Jedes Opfer habe das Recht, sich von allem zu befreien, was ihm angetan worden sei. Ein freies Leben sei aber nur durch Vergebung möglich. Durch die Vergebung habe sie es geschafft, sich selbst die tägliche Last von Schmerz und Wut von ihren Schultern zu nehmen. Kor, so könnte man es ausdrücken, wollte sich nicht zum zweiten Mal zu einem Opfer machen lassen. Es reicht, was die Nazis ihr und ihrer Schwester, die 1993 an den Spätfolgen der Experimente gestorben war, angetan hatten. Sie wollte sich dadurch nicht ihr Leben zerstören und ihre Identität nehmen lassen. Und das wäre geschehen – und das geschieht bei jedem -, wenn sie ihr Leben in Schmerz, Hass und Wut verbracht hätte. Es stimmt: Hass und Wut zerstören nie das Leben des anderen, des Feindes, sondern zerfressen die eigene Seele, die 2 SCHWERPUNKT JESUITEN n SEPTEMBER 2016

RkJQdWJsaXNoZXIy MjIwOTIwOQ==