Jesuiten 2017-3

Einander retten „Richtet nicht vor der Zeit; wartet, bis der Herr kommt, der das im Dunkeln Verborgene ans Licht bringen und die Absichten der Herzen aufdecken wird. Dann wird jeder sein Lob von Gott erhalten.“ Diese Menschen wertschätzende Anregung des Heiligen Paulus (1 Kor 4,5) begleitet mich seit vielen Jahren. Zu oft schon griff meine erste Einschätzung zu kurz oder ich war zu schnell mit einer Reaktion. Wenn ich wirklich von innen her mehr verstanden hätte, warum der andere sich gerade so verhält, so nervig, innerlich verloren oder überhaupt so komisch ist (selbst diese Beschreibungen stehen in der Gefahr, lediglich meine Urteile zu sein), dann hätte ich ihn sicher leichter annehmen können. Ignatius empfiehlt, „dass jeder gute Christ bereitwilliger sein muss, die Aussage des Nächsten zu retten, als sie zu verurteilen; und wenn er sie nicht retten kann, erkundige er sich, wie jener sie versteht, und versteht jener sie schlecht, so verbessere er ihn mit Liebe; und wenn das nicht genügt, suche er alle angebrachten Mittel, damit jener, indem er sie gut versteht, sich rette.“ Hier ist das Pauluswort in ein aktives Beziehungsgeschehen übertragen. Ich gehe nicht nur davon aus, dass ich den Anderen verstehen und annehmen könnte, wenn ich mehr wüsste, sondern ich trete mit ihm so in Kontakt, dass sich das nach Möglichkeit zeigen und zwischenmenschlich ereignen kann. Gelebtes Interesse am Anderen lohnt. „Respektvolle Neugierde“ hilft weiter – uns beiden. Dazu passt auch eine Empfehlung, die Ignatius 1546 den Mitbrüdern gibt, die zum Trienter Konzil gesandt sind: „Ich wäre langsam im Sprechen, indem ich das Hören für mich nutze: ruhig, um die Auffassungen, Gefühle und Willen derjenigen, die sprechen, zu verspüren und kennenzulernen, um besser zu antworten oder zu schweigen.“ Freilich darf nicht alles „gerettet“ oder zu allem geschwiegen werden: menschenverachtendes Verhalten, gemeine Verletzung, berechnende Lüge. Ignatius wurde öfter mal fälschlich angeschuldigt, z.B. den rechten Glauben zu verbiegen, Menschen in die Irre zu führen, Frauen zu lebensgefährlichen Pilgerschaften anzustacheln. In solchen Fällen war es ihm durchaus wichtig, dass eine offizielle Instanz den Sachverhalt anschaut und zeitnah ein Urteil fällt. Klarheit schätzte er. Aber er hatte auch den mutigen Willen zur immer schwierigen Herausforderung, die Wahrheits- und die Beziehungsebene so weit wie möglich zusammenzuhalten. Thomas Hollweck SJ 12 SCHWERPUNKT JESUITEN n SEPTEMBER 2017 n POLARISIERT

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