Jesuiten 2017-3

Nur unter Spannung fliegt der Pfeil Ein Plädoyer für Spannungen Darf ich Ihnen Karl vorstellen: Permanent erreichbar, immer auf dem Sprung, viel Anspannung – wenig Entspannung. Er hat ordentlich Stress, und Konflikte sind keine Mangelware. Was ihm aber fehlt ist Entspannung. „Einfach mal wieder einen ruhigen Abend erleben“, so lautet der Wunsch Nr. 1. Ich begegne oft solchen Menschen. Im Gespräch wird schnell deutlich: Möglichkeiten zur Entspannung gibt es, sie werden nur nicht genutzt. Karl füllt freie Minuten mit Surfen im Internet oder Fernsehen, ordnet Bücher um oder bereitet andere Dinge vor. Ich frage dann immer, warum er die freien Zeiten der Entspannung nicht nutzt, und dann wird klar: Sie fördern Dinge zutage, die man lieber vermeidet: endlose Gedankenketten, fiktive Streitgespräche, Zweifel an Job, Beziehungen oder an sich selbst … Wie Karl suchen viele Menschen lieber den Stress im Beruf und in der Freizeit, weil sie so die Beschäftigung mit der Innenwelt vermeiden können. Doch was – vielleicht sehr verborgen – in uns arbeitet, verschwindet durch das Ausweichen nicht. Es bleibt, nur unerledigt. Spannungen lassen sich nicht einfach aussitzen. Es wäre auch naiv zu glauben, dass es ein spannungsfreies Leben gibt. Spannungen brauchen Aufmerksamkeit. Spannungen geben Identität: Es gibt Naturtalente. Menschen, die – wieso auch immer – entspannt, heiter und verbunden mit anderen durchs Leben gehen und denen es gelingt, Spannungen zu integrieren. Andere müssen dies lernen und üben. Wir Jesuiten üben dazu beispielsweise im Noviziat die fünf Prioritäten von Franz Jalics: 1. Ausreichend schlafen, 2. Auf den Körper achten (Ernährung, Bewegung), 3. Beten und in der geistlichen Ausrichtung bleiben, 4. Zeit für Mitmenschen haben, 5. Arbeiten. Dabei achten wir die Reihenfolge! Zudem sind bei uns Jesuiten Spannungsfelder im Selbstverständnis des Ordens grundgelegt. Wir schätzen das Denken und Leben in Spannungsfeldern. Jesuiten sollen Männer des Gebets sein, denen Kontemplation und Spiritualität am wichtigsten sind. Gleichzeitig setzen wir für unsere apostolische Arbeit alle Kraft und alle Mittel ein. Wir sollen disziplinierte Männer ohne übermäßige Bindung an weltliche Werte sein und doch aktiv in der Welt engagiert. Jesuiten sollen Männer von Leidenschaft, Intelligenz, Initiative und Kreativität sein – und doch gehorsam gegenüber unseren Oberen. Einfach – ist nicht immer gut: Wir Jesuiten leben in keinem einfachen Orden und pflegen das Miteinander so sehr wie den 16 SCHWERPUNKT JESUITEN n SEPTEMBER 2017 n POLARISIERT

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