Jesuiten 2017-3

4 Visionen und Tunnelblick in der Flüchtlingsfrage Wie blickt man heute auf den Herbst 2015, als so viele Menschen Zuflucht in Deutschland suchten und fanden? Ich denke bis heute, dass den Deutschen nichts Besseres hätte passieren können. Viel im Herzen verborgene Empathie wurde zur Tat. Mit Jesu Worten ausgedrückt: Viele konnten sich Schätze im Himmelreich sammeln. Es war schön zu sehen, wie die letzten 23 Jahre Frieden nach den Balkanflüchtlingen das Land noch großherziger gemacht haben. Merkels „Wir schaffen das“ war tatsächlich Ausdruck einer beinahe kollektiven Stimmung. Da fühlte sich mancher weitblickende Zeitgenosse, nur weil er dabei nicht mitmachen konnte, überhört. Etwa der Soziologe Hans Joas, der sich zu Unrecht in die rechte Ecke gestellt sah. Vielleicht gab es im Herbst 2015 tatsächlich zu viel Konformismus in der politischen Kultur. Vielleicht hätte sich Deutschland auch besser mit seinen Nachbarn abstimmen sollen. Zwei Jahre später ist die Willkommenseuphorie weitgehend verflogen. Wir haben nun eine ganz andere Verengung des Spektrums zulässiger Meinungen. Der Mainstream schaut nicht mehr so genau hin auf die Flüchtlingsfrage. Er geht darüber hinweg, dass EU-Mitgliedsländer ihre Verpflichtungen nicht erfüllen. Er forscht nicht nach, was in Italien mit abgeschobenen Flüchtlingen passiert, geschweige denn in Griechenland oder der Türkei. Er hat sich an die Todesmeldungen im Mittelmeer gewöhnt. Er verweigert vor der Wahl die Bundestagsdebatte, ob anerkannte Geflüchtete möglichst schnell ihre Familien nachholen dürfen. Die Hilfsbereitschaft im Land ist geblieben, sechs Millionen Menschen aller Altersstufen engagieren sich weiterhin für Flüchtlinge. Doch sind sie in den Medien weit weniger präsent. Sie haben keine starke politische Stimme mehr. Das hat den Vorteil, dass man ihre Stimme nicht mehr monopolisieren kann. Es hat den Nachteil, dass kaum mehr nach großen politischen Lösungen gegriffen wird. Man hat genug Sorge, dass diese eine afghanische Familie, die man persönlich kennt, nicht unter die Räuber fällt. Was, wenn ich damit nicht zufrieden bin? Der Freund des barmherzigen Samariters ist der Prophet, der ein Zeichen setzt, dass Gott das Ruder übernimmt, und der die Schönheit des Samaritertums strahlen macht. Ich suche und erwarte ein weiteres öffentliches Zeichen, wie es im Herbst 2015 zu sehen war. Matthias Rugel SJ SCHWERPUNKT JESUITEN n SEPTEMBER 2017 n POLARISIERT

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