Jesuiten 2019-4

14 JESUITEN n DEZEMBER 2019 n THEO:POESIE SCHWERPUNKT Mystische Poesie Ein Schlüssel zum Raum der Gottesbegegnung? In dem großen, alten Haus, in dem ich aufgewachsen bin, gab es viele Räume und damit auch ein großes Schlüsselbrett im Eingangsbereich. Dort hing ein großer, schon etwas verrosteter Schlüssel. Ich erinnere mich, dass ich als kleines Kind oft davorstand und mich gewundert habe, wie der Raum wohl aussieht, den so ein Schlüssel aufschließt. Nie habe ich mich aber getraut, ihn einfach zu nehmen und auszuprobieren. Die Frage, was mich dahinter erwarten würde, war einfach zu groß! Die poetischen Texte von Mystikern und Mystikerinnen machen manchmal einen ähnlichen Eindruck. Ihre Sprache unterscheidet sich grundlegend von unserer Alltagssprache, die versucht, klar und verständlich zu sein. Dadurch wirkt solche Poesie durch die besondere Ausdrucksweise und die vielen Metaphern oft verwirrend oder gar abweisend. Wenn man die Texte auch nicht sofort versteht, kann man intuitiv doch erspüren, dass dort etwas dahinterliegt; oder wie Michel de Certeau SJ es ausdrückt: „Alle meine Wörter gehen auf das zu, was sie nicht sagen.“ Diese poetischen Wörter der Mystiker sind wie ein schon etwas verrosteter Schlüssel. Wenn man sich auf sie einlässt, können sie zu etwas Anderem führen – sie öffnen bisher unbekannte Räume. Warum könnten die Mystiker nicht einfacher beschreiben, wie Gott so ist? Was sie schreiben, ist selbst Ausdruck ihrer eigenen Gotteserfahrung, die von einer Grundspannung geprägt ist: Einerseits ist da eine alles verändernde Erfahrung der Präsenz Gottes, andererseits wird diese Gegenwartserfahrung durch ein Moment der Abwesenheit Gottes konterkariert. Er ist ja der, der sich nie vollständig fassen lässt, weil er der immer Größere ist. Poesie eignet sich wunderbar, um den Spagat zwischen diesen beiden Spannungspolen zu schaffen. Mystiker griffen daher immer wieder auf eine solche poetische Sprache zurück, die voll von Bildern, Gleichnissen und Erzählungen ist. Die Texte gehen damit auf den Gott der mystischen Begegnung zu, ohne ihn direkt beschreiben und damit begrenzen zu müssen. Was können uns diese Texte heute noch sagen? Es kann nicht darum gehen, dieselbe Gotteserfahrung wie eine Theresa von Ávila nachahmen zu wollen. Gerade die Bedeutungsoffenheit der poetischen Sprache ermöglicht uns, die Texte als Schlüssel zu unseren eigenen Räumen der Gottesbegegnung zu nutzen. Die vielen verschiedenen Metaphern der Texte sind für uns heute anders konnotiert und wir müssen sie in unseren Erfahrungshorizont einordnen. Gleichzeitig stammen sie © VioletaStoimenova iStock.com

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