Jesuiten 2019-4

Poetische Theologie in Äthiopien Äthiopien als die Wiege der Menschheit und des frühen Christentums kennt eine jahrtausendalte Tradition der Dichtkunst, die zunehmend in Vergessenheit zu geraten droht: Quinea. Diese Form ‚poetischer Theologie’ ist Beweis dafür, dass das Christentum in Äthiopien nicht archaisch und statisch, sondern vielmehr dynamisch und innovativ ist. Quinea speist sich aus schriftlichen, bildlich-symbolhaften sowie mündlichen Quellen. Die Gedichte weisen eine stark biblische Bildsprache auf, die Psalmen nehmen eine gehobene Stellung ein. Zu den Inhalten zählen Themen wie Leben und Tod, Streit, Versöhnung, Liebe, Einsamkeit und Gerechtigkeit. Auch biblisch-historische Ereignisse sowie die Glaubenszeugnisse der Heiligen und Märtyrer_innen dienen als Inspiration. Daneben ist auch die Naturbeobachtung von großer Bedeutung: Die natürlichen Elemente wie Wasser, Feuer und Erde gelten als zentrale Symbole und Schlüssel zur poetischen Reflexion. Darüber hinaus bedient sich diese Kunst der alten äthiopischen Sprichwörterkultur und weiß diese zugleich mit kritischen Analysen der Moderne sowie aktueller politischer Trends abzugleichen. Vor allem bei traditionellen äthiopischorthodoxen Festen, wie dem Tauffest, hat Quinea ihren „Sitz im Leben“. Die Poeten teilen theologische Gedanken – in diesem Fall zur lebensspendenden Bedeutung des Wassers – der Gemeinde mit und versuchen die Gläubigen mittels ihrer Worte (bspw.: „After our identity jar is broken, the wise maker Christ remade it through the new baptismal water.“ – „Nachdem der Krug unserer Identität zerbrach, der weise Schöpfer Christus, erneuerte sie durch das neue Wasser der Taufe.“) in die Meditation und Anbetung zu führen: Das Geschenk der Natur wird in die kulturellreligiöse Praxis integriert. Flüsse und Gewässer werden so zu Orten religiöser Glaubenspraxis. Poetry Schools in Äthiopien Quinea ist bislang nicht Teil des universitären Curriculums. Wer diese Fähigkeit der Dichtkunst erlernen und professionalisieren möchte, muss dazu eine „traditional school of poetry“ aufsuchen. Die berühmtesten befinden sich im Norden Äthiopiens. Die Ausbildung beträgt drei Jahre, die jüngsten Schüler_innen sind zehn Jahre alt. Da die Schulen sehr abgeschieden inmitten der Natur liegen, verlassen die Lernenden ihr bisheriges Zuhause. Nur während der Ferien reisen sie zurück zu ihren Familien. Die Dichtschulen werden von einem sogenannten Master Poet (Lehrmeister_in) geleitet, der als besonders versiert in dieser Kunst gilt. Es gibt vier Stufen, die 16 SCHWERPUNKT JESUITEN n DEZEMBER 2019 n THEO:POESIE

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