Jesuiten 2019-4

Was kann Poesie sein? Die Formvielfalt ist in allen Sprachen unendlich. Oft werden Sehnsüchte formuliert. Der eher schwermütige Paul Celan sieht in der Hand seines Gegenübers etwas Besonderes: „Aus der Vier-Finger-Furche / wühl ich mir den / versteinerten Segen.“ In einem Gedicht können Geschichten erzählt werden, Stimmungen anklingen, Welten zusammenbrechen, Hoffnungen aufflammen. Orpheus hat sogar die Steine zum Weinen gebracht. Aber was ist Poesie? Die erstaunliche Antwort meines Dichterfreundes Ludwig Steinherr lautet: „Poesie / ist Irrtum - // eine Hand die / schlaftrunken / auf dem Kopfkissen tastet / nach einer / anderen Hand - // und zwischen beiden / liegt der / Atlantik.“ Was in einem Hotelzimmer stattfindet geht uns gar nichts an, dennoch lässt uns der Dichter daran teilhaben. Die Zweisamkeit, das Zwiegespräch ist nicht nur eine Quelle der Liebe, sondern auch der Dichtkunst. Wer hat als junger Mensch keine Liebesgedichte geschrieben? Leidenschaft ist angesagt. Jung sein bedeutet nicht selten, radikal zu sein wie die Schüler bei fridays for future. Gut so! Emotionale Extreme gibt es allerdings in beide Richtungen. Für die ersten Kriegswochen des Ersten Weltkrieges wird die Zahl der in den Redaktionen der Presse eingesandten Gedichte auf täglich (!) rund 50.000 geschätzt. Ein Hassgesang gegen England von Ernst Lissauer klingt 1914 dann so: „Drosselnder Hass von siebzig Millionen, / Sie lieben vereint, sie hassen vereint, / Sie haben alle nur einen Feind: / England.“ Das klingt nicht nach Walther von der Vogelweide. Purer Hass wird heute vor allem getwittert. Ein Haiku bringen Hater nicht zustande. In der jüdisch-christlichen Tradition sind die Psalmen vertraut. Sie können als Gedichte gelesen werden, sind vor allem aber Gebete. Ordensleute halten sie lebendig, gleichzeitig sind sie Teil der ganzen Christenheit. Einen der schönsten Lobgesänge singt Maria: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.“ So beten wir das Magnifikat mit der Lutherbibel, während Kurt Marti hier fortfährt: „ich juble zu gott meinem befreier.“ Der Jesuit Pierre Teilhard de Chardin SJ hat dagegen eine Hymne an die Materie (1961) geschrieben – lange vor der ersten Mondlandung (1969). Er grüßt darin die „unerschöpfliche Fähigkeit des Seins und der TransforWas in einem Hotelzimmer stattfindet geht uns gar nichts an, dennoch lässt uns der Dichter daran teilhaben. 2 SCHWERPUNKT JESUITEN n DEZEMBER 2019 n THEO:POESIE

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