Jesuiten 2020-1

11 Der Gesetzgeber hat die Möglichkeiten eines Öffentlichkeitsausschlusses während der Vernehmung von Opferzeugen erweitert, ebenso wie die Vernehmung in Abwesenheit des Angeklagten oder über eine Video-Übertragung aus einem anderen Raum. Bei erheblichen Gewaltdelikten und Sexualdelikten wird der Rechtsanwalt über die Staatskasse vergütet, zudem besteht das Recht auf eine kostenfreie psychosoziale Prozessbegleitung. Die Angst, der Täter könnte erneut Macht ausüben, indem er mit Unwahrheiten Gehör findet oder den Betroffenen lächerlich machen könnte, ist dennoch groß. Darüber hinaus besteht auch Sorge vor möglichen Racheaktionen von Beschuldigten vor oder nach einer Verhandlung. Meist sind diese Befürchtungen objektiv unbegründet, diesen kann auch mit rechtlichen Absicherungen begegnet werden. Die Angst resultiert jedoch aus der real erlebten Ohnmacht während der Tat, die sich emotional fortsetzt. Das Aussprechen des Erlebten bei Dritten, sei es außergerichtlich bei Missbrauchsbeauftragten und Ombudsstellen oder offiziell bei Polizei oder Gericht, bricht die Macht des Täters/der Täterin, die vom Geheimnis lebt. Der*Die Täter*in kann nur so lange agieren, solange ihm die Gesellschaft hierzu Raum gibt. Dies gelingt nur, wenn Betroffene zum Schweigen gebracht werden, indem man ihnen keine Gelegenheit zum Sprechen gibt. Wie ein Verfahren konkret gestaltet wird, obliegt nach der Beratung allein der Entscheidung des Betroffenen. Damit verbunden ist auch eine Deutungshoheit über die eigene Geschichte. Manche Taten wirken derart monströs, dass man sich als Außenstehender nicht vorzustellen vermag, wie man als Betroffene*r danach weiterleben kann. Aber es obliegt dem*der Betroffenen zu definieren, ob und wie stark geschädigt er sich fühlt. Die Aberkennung des Rechts auf ein gutes Leben kommt einem erneuten Übergriff gleich. Tatsächlich hat nicht nur der Beschuldigte/Angeklagte ein Recht auf Resozialisierung, auch das „Opfer“ darf sich von ebendieser Bezeichnung abwenden und als Überlebender einer schweren Straftat das Überleben in den Mittelpunkt stellen. Er/Sie hat ein Recht auf einen Alltag, in dem die Tat nicht zu vergessen ist, aber den es dennoch zu leben lohnt. Katja Ravat JESUITEN n MÄRZ 2020 n MACHT

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