Jesuiten 2020-3

individuell zu gestalten. Vermutlich lässt uns eben jene Situation die selbstkritische Frage, auf welche Hoffnung wir unser Leben tatsächlich bauen, immer weiter hinausschieben an die Ränder und ans Ende des Lebens. Bis dahin stellen wir sie im Alltag stumm mit vorläufigem Glück, mit Konsum und der Suche nach Bestätigung durch Erfolg. All diesen Ersatzstrategien ist gemeinsam, dass sie keine Grenzen kennen. Und so sprengt unser Lebenshunger gerade vielfältig die Knappheit einer Lebensspanne und unserer Ressourcen. Wir sehen die Apokalypse wohl kommen. Aber wir können nicht aussteigen. Unser Lebensstil ist zu sehr damit verwoben, der Frage nach den Grenzen unseres Lebens zu entgehen. Welche Hoffnung prägt mein Leben tatsächlich, jenseits frommer Floskeln, mit denen wir versuchen, unsere Sprachlosigkeit zuzumüllen? Nicht mehr ausweichen konnte ich persönlich dieser Frage bei einer Begegnung in einem riesigen USStaatsgefängnis für ca. 3.500 Häftlinge. Als Mitglied eines Seelsorgeteams gab ich geistliche Übungen in einer Abteilung für Häftlinge mit lebenslangen Haftstrafen. Ich erinnere mich insbesondere an ein Beichtgespräch mit einem Mann, der am Tag zuvor erfahren hatte, dass sein Gnadengesuch abgelehnt worden war. Damit war klar, er musste weitere 20 Jahre bis über die Grenze des Rentenalters absitzen. Längst waren die Kontakte zu Familie und Freunden abgebrochen. „Pater, ich habe 25 Jahre lang nur auf diesen Tag hingelebt. Die Aussicht auf den Neuanfang hat mich aufgerichtet und mir geholfen, mich zu verändern. Ich wollte ein besserer Mensch werden und noch einmal neu anfangen. 25 Jahre waren lang. Aber für diesen Neuanfang zu leben, lohnte sich. Aber jetzt? Ich halte das nicht noch einmal 20 Jahre aus.“ So furchtbar die Tat gewesen sein mag. War es gerecht, dass sich sein ganzes Leben auf die Folgen einer Tat reduzierte, die er irgendwann am Anfang seines Lebens begangen hatte? Und welche Worte des Trostes können dem Gewicht eines Horizontes von 20 weiteren Jahren eines mit Gewalt, Einsamkeit und Leere angefüllten Gefängnisalltags standhalten? Wir haben damals zusammen geschwiegen und getrauert. Und ich habe um jedes Wort gerungen. Mir wurde bewusst, welches ungeheure Geschenk es ist, darauf vertrauen zu dürfen, dass Gott liebt, auch da wo jede andere Liebe an ihre Grenzen kommt. Wieso reden wir in der Kirche so viel von Moral und so selten über dieses Geschenk? Ich habe aber auch begonnen mich zu fragen, wie konkret ich wirklich aus dieser Hoffnung lebe. Ich muss mir eingestehen, es gelingt mir jeden Tag unterschiedlich gut. Und deswegen verläuft die Grenze zwischen Trost und Vertröstung an jedem Tag meines Lebens anders. Und so ringe ich immer neu um Worte, wenn ich Menschen beistehen soll, die von Verzweiflung überwältigt sind. Mensch, worauf hoffst Du? Diese Frage ehrlich zu beantworten, ist eine Lebensaufgabe weit jenseits von Lebensstilfragen. Denn es reicht nicht, selbst davongekommen zu sein, wenn wir den Verzweifelten in die Augen sehen wollen. Tobias Zimmermann SJ 21 © Conceptual Images photocase.com

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