Jesuiten 2020-3

Das eigentliche Wunder von 1989 Was für eine eigentümliche Stimmung war das im Frühjahr und Sommer und Herbst 1989 in der DDR! Zwischen zäher Resignation und jäher Hoffnung, zwischen Nervosität und Trotz, Ängsten und Mut. Noch am Anfang des Jahres hatten die meisten DDR-Bürger das Gefühl, in versteinerten Verhältnissen zu leben. Noch im Januar 1989 hatte der SED-Chef Honecker verkündet, die Mauer „werde in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben…“, eine furchtbare Botschaft. Dann aber überschlugen sich die Ereignisse, nahm die Geschichte revolutionäre Fahrt auf: Nachweis der Wahlfälschungen im Mai, das Blutbad in Peking, die Öffnung der Grenzen durch Ungarn, Massenflucht über die bundesdeutschen Botschaften, öffentliche Artikulation der Oppositionsgruppen, immer mehr Demonstrationen in verschiedenen Städten, gewaltsame Reaktionen des Staates in Dresden und Berlin. Und dann das Wunder von Leipzig, der 9. Oktober: Über 70.000 demonstrierten und es fiel kein Schuss, obwohl wahrlich alles für ein Blutbad vorbereitet war. Das befürchtete, apokalyptische Szenario war nicht Wirklichkeit geworden. Die Demonstration hatte in der Nikolaikirche begonnen mit Gebeten und Gesängen, die Demonstrant*innen riefen „keine Gewalt“ und „Wir sind das Volk“, und sie trugen brennende Kerzen als Zeichen ihrer Friedlichkeit. Aus Moskau, von Gorbatschow, war kein Befehl zu gewaltsamem Eingreifen gekommen, deswegen auch nicht von der SED-Führung in Berlin und in Leipzig. Einige verantwortliche Politiker in Leipzig hatten zur Gewaltlosigkeit aufgerufen. Der 9. Oktober war der Höhepunkt der Herbstrevolution. Dass diese Revolution friedlich war (das eigentliche Wunder von 1989), das lag an der entschlossenen Friedfertigkeit, die sich nicht zuletzt den christlichen Akteuren verdankte. Für sie war die Bergpredigt die politische Schlüsselbotschaft der Zeit. Wie oft haben sich die vielen erregten Menschen in diesen aufregenden und aufgeregten Zeiten in den (vor allem evangelischen) Kirchen versammelt! Welch wichtige Rolle spielten Christ*innen, darunter nicht wenige Pastoren (von Christian Führer bis Friedrich Schorlemmer)! Wie oft haben wir am Ende erregter Versammlungen „Dona nobis pacem“ gesungen, bevor wir wieder auf die Straße traten! Auch im Rückblick, auch nach 30 Jahren, will mir das noch immer als eine besonders schöne Pointe der Geschichte erscheinen: Der Staat, in dem Religion nur noch Privatsache sein sollte und sein durfte, wurde – nicht allein, aber doch ganz entscheidend – durch Christ*innen überwunden, die ihren Glauben nicht bloß Privatsache sein lassen wollten, sondern aus ihm öffentliches, politisches Engagement ableiteten! Die ihren Mut aus Hoffnung in den Mut aus Verzweiflung mischten! Gottes Wege sind eben doch unerforschlich. Und Geschichte muss nicht apokalyptisch enden, sondern kann gut ausgehen. Wolfgang Thierse 4 SCHWERPUNKT JESUITEN n SEPTEMBER 2020 n APOKALYPSE

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