Jesuiten 2020-4

SCHWERPUNKT Heilende Musik Gespräch mit dem Komponisten Wilfried Hiller über die heilende Kraft von Musik. Hiller ist besonders bekannt für seinen Bühnenwerke für Familien, Kinder und Jugendliche. Sie haben einmal mit Michael Ende eine Oper zum Rattenfänger von Hameln geschrieben. Wie hört sich eine Musik an, die eine Pandemie vertreibt? Hiller: Was war der Trick, mit dem der Musikant die Ratten aus der Stadt Hameln vertrieben haben könnte? Der Pfeifton der Ratten ist das dreigestrichene g, einer der höchsten Töne, die die Klarinette spielen kann. Der Klezmer Giora Feidman, Rattenfänger in der Uraufführung 1993 in Dortmund, spielte vor dem Einfangen der Tiere den Ton der Ratten in die vier Himmelsrichtungen und entwickelt dann einen wilden Tanz in einem bulgarischen Rhythmus, der nur von einer Schlagzeuggruppe begleitet wird. Bulgarien, das frühere Thrakien, war die Heimat des Sängers Orpheus, der mit Gesang und Leyer die Götter der Unterwelt verzaubern konnte. Das Trommeln hat einen rituellen Charakter wie in der traditionellen Musik Asiens und Afrikas. Am Schluss der Oper, wenn der Rattenfänger die Kinder aus der Stadt lockt, spielt er eine geheimnisvolle Melodie, die dem bulgarisch orthodoxen Gesang nachempfunden ist. Anders als bei den Brüdern Grimm verführt er die Kinder nicht, sondern rettet sie vor ihren Eltern. Wie geht es Ihnen beim Komponieren? Ist das Vertonen mehr ein Hören oder ein Erfinden? Hiller: Ich gehe lange mit einem Thema schwanger, bis ich die ersten Töne niederschreibe. Das ist dann immer der Schluss, dann kann ich „Fine“ (Ende) schreiben, obwohl noch zwei Stunden Musik fehlen. Das Gute daran ist, dass ich dann immer mein Ziel vor Augen habe. Wichtig ist beim Komponieren die totale Stille. Deshalb hat meine Frau auch auf einer einsamen griechischen Insel ein Haus gebaut, wo ich in aller Ruhe schreiben kann. Ich höre nur das Rauschen des Meeres, die Schreie der Ziegen und das permanente Zirpen der Zikaden. Können Sie an einem Beispiel beschreiben, was passiert, wenn das Hören von Musik das Herz berührt? Hiller: Es gibt zweierlei Arten des Hörens: Die erste ist rein analytisch. Man hört beispielsweise den Bolero von Ravel in der Originalfassung für 2 Klaviere. Da hat man nur die 18 Variationen der beiden Themen ohne Klangfarbenveränderung und Steigerung in der Dynamik, kann also die 350 Takte intellektuell genießen. Die Orchesterversion steht dazu wie das Gemälde zur Zeichnung, hat also viel mehr Möglichkeiten der Klanggestaltung, da kann man regelrecht berauscht werden. Ich bin danach ein anderer Mensch. Es ist die Aufgabe der Musik, den Menschen zu helfen, ihn zu heilen und zu harmonisieren. Wie haben Sie Ihr Gehör trainiert? Hiller: Ich habe das nicht trainiert, ich habe einfach hingehört. Matthias Rugel SJ 16 JESUITEN n DEZEMBER 2020 n HÖREN

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