Jesuiten 2021-1

Die Welt ist unfair Sie sind in einer wildfremden Stadt. Keiner spricht Ihre Sprache. Trotzdem müssen Sie von A nach B kommen. Schon schwierig. Jetzt stellen Sie sich das gleiche vor, wenn Sie eine beschlagene Brille aufsetzen und sich ein Auge zuhalten. – Das ist ein wenig konstruiert, aber so geht es mir regelmäßig. Ich bin Journalist und stark sehbehindert. Mein Ausweis sagt sogar, dass ich nach Definition „hilflos“ bin, also nicht in der Lage, meinen Alltag ohne fremde Hilfe zu meistern. Trotzdem bin ich als Auslandsreporter regelmäßig alleine unterwegs, auch in Krisengebieten, und habe gelernt mit meiner Behinderung umzugehen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich heute anders leben könnte oder wollen würde. Aber von Anfang: Mein Name ist Renardo Schlegelmilch, ich bin 1988 in Eisenach, Thüringen geboren, und von Geburt an sehbehindert. Was genau nicht mit mir stimmt, habe ich selbst nie so ganz verstanden. Als Baby hat man Fotos von mir für ein Lehrbuch gemacht. Der Name meiner Krankheit geht über zwei Zeilen. Wichtig ist nur zu wissen: Ich bin auf dem rechten Auge blind und sehe links irgendwas zwischen zehn und 20 Prozent. Wie kommt man damit klar? Ich kenne es nicht anders. Schon immer musste ich mir eine Lupe zur Hand nehmen, wenn ich etwas lesen wollte – oder eben nachfragen. Autofahren ist natürlich auch nicht drin. All das würde ich aber eher als Unannehmlichkeiten, denn als Behinderung, betrachten – ehrlich gesagt. Die größere „Behinderung“ war es für mich schon als Kind gegen die Vorurteile meines Umfeldes anzukämpfen. Von meiner Schule habe ich später erfahren, dass nie jemand gedacht hätte, ich würde ein Abitur schaffen. Wie auch? Der Junge sitzt in der ersten Reihe und kann nicht sehen, was an der Tafel steht. Im Sportunterricht hat mich mein Lehrer mal eine Stunde lang vor einen Basketballkorb gestellt, bis ich den Ball reinbekomme. Dass ich wegen fehlenden räumlichen Sehvermögen gar keine Ahnung hatte, wo der Korb wirklich ist, hat ihn dabei nicht interessiert. Ich will aber nicht jammern, sondern ein wenig inspirieren. Im Nachhinein bin ich für diese Erfahrungen dankbar. Die Welt ist unfair – für jeden. Wenn man aber lernt sich trotz widriger Umstände durchzubeißen, kann man - nach meiner Erfahrung - nicht nur mit den anderen mitziehen, sondern aus einigen Schwächen sogar Stärken machen. Natürlich bin ich nicht unrealistisch. Ich hätte nie Fotograf oder Scharfschütze werden können. Ich habe aber gelernt im Radio zu arbeiten. Mit 13 habe ich damit angefangen und gemerkt, hier geht es um das, was man hört, nicht was man sieht. Ich bin bei weitem nicht der Einzige, der zu diesem Schluss gekommen ist, überdurchschnittlich viele sehbehinderte und blinde Menschen arbeiten im Rundfunk. Ich bin mir sicher, Sie haben auch schon mal einen Blinden im Radio gehört – ohne es überhaupt zu realisieren. 4 SCHWERPUNKT JESUITEN n MÄRZ 2021 n SCHWACH STARK

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