Jesuiten 2021-1

5 JESUITEN n MÄRZ 2021 n SCHWACH STARK In der Schule habe ich die Tafel nicht lesen können, weshalb ich mir sämtliche Notizen vom Erzählen der Lehrer direkt aufschreiben musste. Das war einiges komplizierter als für die anderen Kinder, die einfach am Ende der Stunde in fünf Minuten die Tafel abgeschrieben haben. Aber: Dafür muss ich mir heute, wenn ich Interviews führe oder von Veranstaltungen berichte, keine Notizen machen. Was wichtig ist, bleibt im Kopf, außer den Zahlen, mit denen habe ich es nicht so. Vieles von dieser Lebenshaltung habe ich meinem Vater zu verdanken. Mein Vater ist seit Kindertagen blind. Wenn wir unterwegs waren, war ich immer der, der mehr gesehen hat. Da konnte ich gar nicht in Selbstmitleid verfallen. Wichtiger noch: Mein Vater hat mir beigebracht, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt, auch wenn der Weg dahin länger oder komplizierter ist als bei anderen Leuten. Das habe ich mir als Lebensmotto mitgenommen. Und deshalb schrecke ich auch nicht vor Herausforderungen oder neuen Erfahrungen zurück. Als ich nach der Schule von Zuhause auszog, fragte ich mich: Wie soll das nur werden? Wie komme ich klar, wenn ich weder Schilder noch Pläne lesen kann? Durch die Erfahrung lernt man aber: Man kommt nie in eine ausweglose Situation. Notfalls fragt man halt jemanden, oder verfolgt seine Schritte zurück zum Ausgangspunkt (im übertragenen, wie im wörtlichen Sinn). In Ägypten, im Kosovo, in Israel – selbst in Krisengebieten war ich schon alleine unterwegs. Ich bin gerne im Ausland. Neue Menschen, neue Eindrücke – zum Sehen, Riechen und Hören finde ich eine große Bereicherung. Natürlich ist das Leben im gewohnten Umfeld einfacher. Auf fremden Wegen muss ich oftmals auf jeden Schritt achten, um nicht über Kanten zu stolpern. Trotzdem: Würde ich diesen Mehraufwand nicht eingehen, würde ich im Leben vieles verpassen, und das ist keine Alternative für mich. Ich glaube nicht, dass mein Schicksal etwas Besonderes ist. Ich sehe schlechter, andere können dafür nicht so gut einparken. Jeder von uns hat im Leben mit Situationen zu tun, in denen wir auf unsere Weise an Grenzen stoßen. Meine Botschaft ist: Lernt, wie Ihr aus euren Schwächen das beste machen könnt! Dann wird aus der Schwäche unter Umständen eine Stärke. Renardo Schlegelmilch Mein Ausweis sagt, dass ich nach Definition „hilflos“ bin.

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