Jesuiten 2021-1

sikkurses bevorzuge, führen die Ebenen 2 und 4 eher auf die richtige Spur. Charakterliche Schwächen wie Ungeduld, Neigung zu Wutausbrüchen oder mangelnde Empathie spielen im schulischen Alltag unbedingt eine Rolle, sind aber schwer zu qualifizieren. Es mag Lehrerinnen und Leh- rer geben, die – was ihre berufliche Profession angeht – keine dieser charakterlichen Schwächen haben. Und die vierte Ebene der fachlichen Profession kann sicherlich im Alltag gelegentlich vorkommen, ist je- doch durch ein jahrelanges Studium und eine sich anschließende Referendariatszeit minimiert. Diese Hinweise über die Begriffserklärung führen meines Erachtens zwar zu nachvollziehbaren Einsichten, bleiben aber doch im Allgemeinen oder fast Nichtssagendem hängen. Stattdessen schlage ich vor, einen anderen Begriff zu verwenden, der besser geeignet ist, die Tiefendimension der Fragestellung aufzudecken: Unfertigkeit. Als ich den Artikel „Unfertig professionell – professionell unfertig“ von Henning Pätzold entdeckte, hielt ich den Begriff „Unfertigkeit“ sofort für weit passender als „Schwäche“. Warum? Ich stehe auf dem Standpunkt, dass das Verhältnis bzw. die professionelle Beziehung von Kind/Jugendlichem zum Pädagogen vom Wesen her asymmetrisch ist. Die Lehrerin oder der Lehrer sind bezüglich fachlicher Kenntnisse, Lebenserfahrung und vor allem Verantwortung und Pflichtbewusstsein nicht in einer „partnerschaftlichen Beziehung“ zum Schüler. Das wäre fatal. Ein altes pädagogisches Urbild spricht vom „erziehungsbedürftigen“, „unfertigen“ Kind und dem „fertigen“ Lehrer. Und diese grundsätzliche Asymmetrie ist nicht zu verwässern. Schaut man aber genauer auf die Komplexität des unterrichtlichen Geschehens, das sich aus einer Dynamik zusammensetzt, die eine inhaltliche Ebene (Aufbereitung von Lerngegenständen, die sich Schüler vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen und Kenntnisse anzueignen versuchen) bedient, in einem spezifischen, sozialen Kontext stattfindet und diverse gruppendynamische Prozesse auslöst, dann ist ersichtlich, dass diese nicht einfach auflösbar ist – weder in die eine noch in die andere Richtung. Der Prozess und das Ergebnis jeder einzelnen Unterrichtsstunde, aber auch jedes pädagogisch-erzieherischen Gesprächs ist nicht sicher vorhersehbar und planbar. In diesem Sinne ist jede Lehrerin oder jeder Lehrer „unfertig“. Oder noch allgemeiner: Jeder Mensch ist in dem (teilweise) unverfügbaren Prozess und der nicht planbaren Dynamik des Lernens ein „Unfertiger“. Erst auf Basis dieser Einsicht macht ein Konzept des „Lebenslangen Lernens“ Sinn. Ich sehe zwei Konsequenzen: a) Die Lehrerin oder der Lehrer ist herausgefordert, die eigene Unfertigkeit anzunehmen, zu reflektieren und ggf. professionell zu bearbeiten (Fortbildungen, Supervision). b) Die Einsicht in eine teilweise nicht beherrschbare oder planbare Komplexität z.B. des Unterrichtsgeschehens sollte integraler Bestandteil einer professionellen Grundhaltung des Lehrers oder der Lehrerin sein. „Unfertigkeit“ ist folglich nicht als Manko oder Defizit zu verstehen. Vielmehr eröffnet sie den Raum zum Nachdenken und für kollegiale Gespräche, zum einen selbstbewusst und realistisch, zum andern selbstkritisch und unzufrieden auf das eigene Tun und Wirken zu schauen. „Unfertigkeit“ eröffnet den Raum für individuelle und systemische Veränderungsprozesse. Mathias Molzberger 7 JESUITEN n MÄRZ 2021 n SCHWACH STARK © caracterdesign iStock.com

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