Jesuiten 2023-2 (Deutschland-Ausgabe)

Diese Monate werden zur entscheidenden Wendezeit in seinem Leben: Als die Tuareg im Dorf erfahren, wie es wirklich um ihn steht, beginnen sie, ihn mit Ziegenmilch zu versorgen. Der bedürftige Kranke repräsentiert nicht mehr die französische Kolonialmacht, der erschöpfte Beter ist nicht mehr der gebildete Missionar, der trotz aller Demut die wenig alphabetisierten Nomaden und Bauern die Überlegenheit des Christentums fühlen lässt. In der Machtlosigkeit und inneren Leere gibt Bruder Karl den Dorfbewohnern den Raum, von sich aus in eine Beziehung zu ihm zu treten. „Es brauchte dieses Zunichtewerden durch die Krankheit, damit sie ihm etwas anbieten und ihm auf Augenhöhe begegnen konnten“, schreibt sein Biograph Antoine Chatelard. Der tote Punkt lässt Charles auch innerlich frei werden. Er löst sich von seinen Vollkommenheitsidealen, von seiner strikten Regel, nichts von anderen anzunehmen, von dem strengen Willen, alles zu planen und zu bestimmen. Und er ist auch geistlich demütiger geworden: Den in seinen Augen ungläubigen Muslimen, die er durch seine Gegenwart bekehren wollte, gilt überraschend das Wort des Evangeliums: „Kommt, empfangt das Reich, denn ich war krank und ihr habt mich besucht.“ Plötzlich ist er von der quälenden Sorge befreit, wie das Heil zu seinen nichtchristlichen Nachbarn kommen kann. Die Tuareg will er nun nicht mehr bekehren, sondern verstehen – und wird so zu ihrem Herzensfreund und „Marabut“, ihrem Heiligen. Kurz, Charles hat in geistlicher Tiefe ausgemessen, was die Mechanik über den toten Punkt sagt: Die Bewegungsrichtung kehrt sich um. An diesem entscheidenden Moment im Leben von Charles de Foucauld wird wie in einem Brennglas deutlich, welche Bedeutung das Erleben des toten Punktes im geistlichen Leben haben kann: Die Erfahrung von Bedürftigkeit, die Erfahrung, auf andere angewiesen zu sein, kann, wenn ich sie nicht manipulativ einsetze und andere sie nicht missbrauchen, befreiend wirken. Die eigene Schwäche lässt den Anderen Raum, es kann tatsächlich etwas Unvorhergesehenes geschehen. Zugleich ist der tote Punkt keine harmlose Erfahrung, sondern betrifft Körper, Geist und Seele zutiefst. Er ist nicht nur eine kurzzeitige Verwirrung und Blockade, sondern das tiefe Empfinden von Isolation, Ohnmacht und Berührungslosigkeit. Vor allem aber ist der tote Punkt nicht planbar und harmonisch in das Ganze einer Lebensgeschichte integrierbar. Ein toter Punkt, an dem man weiß, dass dieser Moment nur ein Durchgangsstadium ist, ist eben kein toter Punkt. Aber tote Punkte kommen nicht nur in der Mitte des Lebens oder auch nur den Exerzitien vor und nicht jedes Leben, sei es auch noch so geistlich geführt, endet in der Erkenntnis, dass der tote Punkt seinen Sinn gehabt hat. Es gibt Leben, das am toten Punkt zusammenbricht, abbricht. Charles de Foucauld wurde am 1. Dezember 1916 bei einem Überfall getötet, obwohl ihn die Dorfbewohner in ihrer kleinen Festung aufgenommen hatten. Kein heroischer Tod, ein sinnloses Verbrechen, vielleicht sogar eine überstürzte Panikreaktion. Und dennoch nimmt in diesem abgebrochenen Leben die Aussage Gestalt an, mit dem Karl wirklich der kleine Bruder Jesu ist: „In der Ohnmacht unserer menschlichen Mittel liegt unsere Stärke.“ Der tote Punkt ist keine harmlose Erfahrung, sondern betrifft Körper, Geist und Seele zutiefst. Tobias Specker SJ ist Professor für Katholische Theologie im Angesicht des Islam an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt. 9 SCHWERPUNKT

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