Jesuiten 2023-2 (Deutschland-Ausgabe)

Vom Wunder und vom Wundern Das Schulfach Religion hat viel mit Gottesbegegnungen zu tun: Es geht darum, Kindern und Jugendlichen die Deutung der Welt als Ort der Gegenwart Gottes zu ermöglichen, indem wir sie zur intellektuellen Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben befähigen. Es geht in gleichem Maße um konzentrierte, wache Offenheit der Lehrenden für Gottes Gegenwart zwischen Kapuzenpullis, Brotboxen und Kreidestaub. Lehrende und Schüler*innen sind sich in den Voraussetzungen völlig gleich: Gott ist da – ob mit oder ohne Religionsunterricht. Religionsunterricht macht – wenn er gelingt – nur sichtbar, was schon ist. Gott ist viel mehr Lehrer als jede Religionslehrkraft. Wir sind alle gleich vor Ihm. Allwissenheit und Allmacht sind keine Attribute, die der Lehrkraft zukommen. Religionsunterricht sollte das unbedingt für Schüler*innen erfahrbar machen. Sie sollten niemals den Eindruck haben, dass sie Ungerechtigkeiten hinnehmen, sie sich einer allzu menschlichen Lehrautorität beugen oder sie Sachverhalte unhinterfragt annehmen müssen. Sie sollten sich nicht als Gegenstand der Bewertung, als „Objekt der Beschulung“ erleben, sondern als einzigartige Persönlichkeit mit Stärken und Schwächen. Erst dann wird gemeinsames Wundern und Staunen über die Schönheit der Schöpfung, über die Größe Gottes, über die Glücksmomente des Alltags, erst dann wird Theologie möglich. Religion zu unterrichten meint im säkularen Umfeld, „nicht müde zu werden und dem Wunder wie einem Vogel die Hand hinzuhalten“ (vgl. Hilde Domin). Nicht müde werden bedeutet: Jede Begegnung, jeder Kontakt, jede Nachfrage von Schüler*innen ist Gottesbegegnung. Sie ist keine Last. Sie ist ein Geschenk, ein Moment gemeinsamen Wunderns. Leise sein bedeutet: Es geht nicht ums laute Missionieren, sondern um Aufmerksamkeit (und zwar der Lehrenden) für die Gaben, die jede Schülerin und jeder Schüler mitbringt. Die Hand hinzuhalten bedeutet: Es geht darum, zum Können zu befähigen und nicht darum, das Nicht-Können, die mangelnde Leistung in den Vordergrund zu stellen. Es geht nicht ums Einpauken von dogmatischen Lehrsätzen, sondern ums Bereitlegen einer „theologischen Grundausstattung“, um Welt deuten, gut handeln und mit Verlusten und Scheitern leben zu können. Es ist nicht wichtig, ob die Schüler*innen katholisch sozialisiert sind oder nicht. Gott ist doch immer schon da. Wunder bedeutet: gemeinsam die Gegenwart Gottes erleben – mitten im säkularen Umfeld. Aus der Perspektive der Lehrenden gesprochen ereignet sich immer dann ein Wunder, wenn ich miterleben darf, wie Schüler*innen wachsen und über sich hinauswachsen. Es sind die geschenkten Momente, in denen große Theologie mitten im Alltag möglich wird, zwischen Kapuzenpullis, Brotboxen und dem Kreidestaub, in den das Klassenzimmer-Sonnenlicht manchmal sehr schöne Luftmuster malt. Ich glaube: Da malt Er. Katharina Goldinger ist Theologin, Pastoralreferentin und Religionslehrerin. Im Bistum Speyer ist sie Ansprechpartnerin für den Synodalen Weg und sehr gerne in digitalen (Kirchen-)Räumen unterwegs. 11 SCHWERPUNKT

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