Jesuiten 2023-3 (Deutschland-Ausgabe)

Jesuiten Essen 2023-3

Jesuiten 2023-3 Dieses Druckerzeugnis wurde klimaneutral hergestellt, d. h. die mit der Produktion quantifizierten CO2-Emissionen werden durch Klimaschutzzertifikate kompensiert. »Ort für Perfektionismus« – ein Schild mit diesem Hinweis könnte getrost in vielen unserer Supermärkte hängen. Wo genau? Über der Obst- und Gemüseabteilung. Denn beim Blick auf genormte Rundungen von Äpfeln und Birnen, exakt sortierte Tomaten und Salatgurken, die an Geradlinigkeit kaum zu überbieten sind, gewinnt man leicht den Eindruck: Hier kommt es auf Präzision an … und dann erst auf den Geschmack. Hanna Hoffmann hat in ihrem Kommunikationsdesign-Studium ganz anderes Gemüse ins Rampenlicht gerückt. Die Fotos in dieser Ausgabe sind für eine Semesterarbeit entstanden und zeigen eine Gurke, die den Bogen raus hat, Karotten im Tangofieber oder eine Paprika mit Knautschzone. Gemüse ganz ohne Norm, dafür mit Sympathie und der besten Voraussetzung, auf dem Teller eine gute Figur zu machen. Stefan Weigand 1 Editorial Schwerpunkt 2 Brezenduft in der Arktis 4 „Das Schwein … soll euch als unrein gelten“ (Dtn 14,8) 5 Meine Art zu essen, ist meine Art zu leben: nahrhaft werden 7 Nachhaltigkeit braucht Geduld 8 Balanceakt auf dem Tellerrand 11 Für eine wohlschmeckendere Welt 12 „Hier macht das Kochen viel Freude“ 13 Tischkulturen 14 Vom Schweinsbraten zum Pizza-Bringdienst? 15 Warum esse ich keine Tiere? 16 Das andere Ende der Nahrungskette 18 „Ich merke, was mir fehlt“ 19 Augenschmaus 20 Das rechte Maß! Geistlicher Impuls 22 Weniger ist mehr Was macht eigentlich …? 24 P. Dominik Terstriep SJ Nachrichten 26 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 30 Jubilare und Verstorbene Medien/Buch 31 Die Letzte Generation – das sind wir alle Adventskalender: „Licht in allen Dingen finden“ Vorgestellt 32 Was macht das Zentrum für Ignatianische Pädagogik (ZIP?) 34 Die besondere Bitte Standorte der Jesuiten in Zentraleuropa Impressum

nicht nur einmal ist im Evangelium vom Essen die Rede. Im Gegensatz zum asketischen Johannes dem Täufer wird Jesus als „Fresser und Säufer“ bezeichnet – schmeicheln wollte man ihm damit aber nicht. Jesus selbst weist diese Zuschreibung nicht zurück, sondern wandelt Wasser zu Wein, isst mit Zöllnern und Sünderinnen und gibt sich als Auferstandener im Brechen des Brotes zu erkennen. Mehr als 2000 Jahre später: Kochshows im Fernsehen, Rezeptkolumnen in der Wochenzeitung und inszenierte Bilder vom Essen auf dem Teller in den sozialen Medien stehen hoch im Kurs. Essen macht Freude und unterhält; nicht nur medial, sondern auch im alltäglichen Zusammenleben: beim gemeinsamen Kochen, beim Restaurantbesuch oder bei der bestellten Pizza am Abend. Essen stiftet Gemeinschaft und kann Brücken bauen – auch heute. Was jemand isst oder nicht isst, zieht aber auch Grenzen und zeigt Unterschiede auf. Katholik*innen essen freitags traditionell kein Fleisch. Die Idee, den Donnerstag zum vegetarischen Tag in den Kantinen zu erklären, brachte den Grünen vor zehn Jahren in Deutschland einmal mehr den fragwürdigen Ruf einer Verbotspartei ein. Essen eignet sich als Identitätsmarker – auch davon erzählt schon die Bibel. Bertolt Brechts Dreigroschenoper hingegen scheint nicht mehr zu stimmen: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Diese markante Aussage ist in manchen Debatten umgekehrt worden zu „Erst kommt die Moral, dann das Essen.“ Essen ist politisch. Für Ignatius von Loyola geht es im (geistlichen) Leben nicht zuerst ums Bewerten oder Verurteilen, sondern darum, die Dinge zu „verkosten“. Also sich nicht im Vielerlei zu verlieren, sondern die Wirklichkeit gelassen in den Blick zu nehmen und dort zu verweilen, wo man Geschmack findet. Aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zeigen die Autor*innen in dieser Ausgabe, dass Essen mehr ist als Essen. Ihre Texte heben verschiedene Aspekte hervor, die zum Essen gehören – mal regional, mal exotisch – und machen Appetit auf Vertiefung und eigene Reflexion. Dafür danken wir ihnen herzlich! Eine anregende Lektüre wünschen Ihnen Liebe Leserin, lieber Leser, P. Dag Heinrichowski SJ Manfred Grimm SJ EDITORIAL 1

Brezenduft in der Arktis Wir essen jeden Tag – mal gedankenlos zwischendrin, dann wieder genüsslich mehrgängig an einem wunderschön gedeckten Tisch. Essen ist Neben- und Hauptsache gleichzeitig. Es ist allgemein natürlich und kann doch so vielgestaltig und überraschend fremdartig sein. 2 SCHWERPUNKT

Es kann krank machen und zur Genesung beitragen. Essen wird politisch, wenn sich etwa vegetarisch und vegan Ernährende für Tierschutz, artgerechte Haltung oder den Verzicht auf Fleischkonsum einsetzen, oder wenn bestimmte Lebensmittel boykottiert werden, weil deren massenhafte Produktion die Natur nachhaltig schädigt. Unterdrückerische Anbau- und Verarbeitungsmethoden führen zu Aufrufen, gewisse Marken zu meiden und auf Siegel wie „Fair Trade“ zu achten. Politisch wirksam wollen Essen beziehungsweise der Verzicht darauf besonders beim Hungerstreik sein, mit dem heute in der Tradition Gandhis Asylsuchende, inhaftierte Personen und Aktivist*innen der „Letzten Generation“ Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen wollen. Bioprodukte und Gemüsekisten stehen für einen Teil der Gesellschaft, der nicht so sehr auf das Geld achten muss, wie die Tafeln oder Suppenküchen für Menschen, die es sich nicht leisten können zu wählen. Regionale Esstraditionen und lokal spezifische Gerichte besitzen enorme Symbolkraft, immer auch verbunden mit dem, was die Natur in bestimmten Gegenden hervorbringt – man denke hier nur an die bunte Vielfalt von Knödeln, Spätzle oder Fischsemmel in Deutschland. Im Essen verbinden sich Natur und Kultur auf besonders tiefgreifende Weise. Wie sehr es identitätsstiftend (auch stereotypbildend) sein kann und zugleich durch die Begegnung unterschiedlicher Kulturen neue Formen annimmt, zeigt das sogenannte Fusion Food – kreatives Resultat eines Fundus von Zutaten, Gewürzen und Zubereitungsformen. Diese „Hypercuisine“ (Byung-Chul Han) wirft die Vielfalt der Esskulturen jedoch nicht einfach blind in einen Topf, sondern lebt von den Unterschieden. Wie elementar-urwüchsig, zugleich geistigemotional und kulturell feinsinnig Essen sein kann, ist mir während meiner Zeit unter Inuits in der Arktis Kanadas deutlich geworden. Ich war mit Jugendlichen und zwei Ältesten im Frühwinter mit Schneemobil und Schlitten aufgebrochen, um den Fischvorrat für die kleine Gemeinde Ulukhaktok zu fangen. Neben der Subsistenzwirtschaft ging es dabei vor allem um die Weitergabe der Tradition. Der Fisch steht auch für die geistig-spirituelle Nahrung für die geschundenen Seelen der Jugendlichen, die durch den kulturellen Genozid und das damit zusammenhängende Trauma geschädigt wurden. Das Essen und alle damit verbundenen Wörter und Rituale sind Ausdruck einer vom Aussterben bedrohten Lebensform. Auch nicht vergessen werde ich das gemeinsame „Brezenbacken“ mit den Frauen im Ort. Ich erinnere mich sehr gut an den „ProustEffekt“, als ich durch den Duft von frischen Brezen – ebenso wie Marcel Proust im Buch Auf der Suche nach der verlorenen Zeit durch den von Madeleines – unwillkürlich zurückversetzt wurde in meine Heimat und mich darüber freute, etwas davon teilen zu können. Essen ist wichtig für Körper, Geist und Seele, für die Beziehung zur Natur und zu den Menschen. Indigene Menschen danken dem Geist der Tiere und der Pflanzen, die sie nähren – wenn sie etwas nehmen, lassen sie ein Geschenk zurück. Essen zeigt uns wie kaum sonst etwas, wie sehr wir verflochten sind mit dem Kreislauf der Natur. Mit dem, was wir zu uns nehmen, sollten wir ebenso sie wie auch unseren Körper achten und ehren. Barbara Schellhammer ist Professorin für Intercultural Social Transformation an der Hochschule für Philosophie München und leitet dort das Zentrum für Globale Fragen. Neben Brezen liebt sie Grünzeug in allen Variationen. Neuer Studiengang „Ethics of Intercultural Dialogue“ Wie geht Ethik in einer globalisierten Welt voller Unterschiede, Brüche und Ungerechtigkeiten? Mit ihrem innovativen Online-Zertifikatsstudium bietet die Hochschule für Philosophie Orientierung. Tiefgründige philosophische Reflexion trifft auf konkrete Anwendungsfelder in Wirtschaft, Medizin und Medien. Mehr Informationen gibt es auf der Website der Hochschule unter https://hfph.de/en/study-programmes/ ethics-of-intercultural-dialogue und bei Prof. Dr. Barbara Schellhammer. Foto: © Hanna Hoffmann 3 SCHWERPUNKT

P. Dieter Böhler SJ ist Professor für Altes Testament an der Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt und Konsultor des römischen Dikasteriums für den Gottesdienst. Lieblingsessen: Lamm oder Lachs „Das Schwein … soll euch als unrein gelten“ (Dtn 14,8) Im Judentum und Islam ist der Verzehr von Schweinefleisch verboten. Der Alttestamentler Dieter Böhler SJ wagt sich an eine kurze Kulturgeschichte des Schweins. Die heutigen Hausschweine stammen vom Wildschwein ab und bilden mit diesem bis heute eine ohne weiteres kreuzbare Art. Die Domestikation scheint vor etwa 9000 Jahren an mehreren Stellen Eurasiens begonnen zu haben. Die Wildschweine suchten aktiv die Nähe der menschlichen Siedlungen, weil sie dort Abfälle fanden. Aus dem halbzahmen Schwein wurde allmählich das Hausschwein. Noch im 19. Jahrhundert wurden die Hausschweine zur Mast durch Eichenwälder getrieben, wo die eine oder andere zahme Sau sich mit einem Keiler einließ, so dass die nahe Verwandtschaft immer erhalten blieb. Im alten Ägypten und in Mesopotamien wurden neben Rindern, Schafen und Ziegen auch Schweine gehalten. Als Abgaben für den Staat und die Tempel wurden aber nur erstere eingefordert, weil nur Herdentiere längere Wegstrecken zurücklegen konnten. Schweine sind empfindlich, brauchen Schatten und Wassertümpel. Daher waren sie dafür ungeeignet. Sie dienten der einfachen Bevölkerung vor Ort zur Ernährung. Ab 2000 vor Christus wurde wegen der zunehmenden Ausbreitung der Wüste die Schweinehaltung im Nahen Osten immer schwieriger und ging massiv zurück. Bei (Halb-)Nomaden war sie ganz unmöglich (Abraham, Isaak, Jakob!). Das Schwein galt dort nun immer öfter als unrein, wurde immer weniger gegessen und war vor allem in den Tempeln nicht als Opfertier zugelassen. In der Religion der Griechen und Römer dagegen war das Schwein das bevorzugte Opfertier (Suovetaurilia) und wurde auch viel gegessen. Die Bibel gestattet den Israeliten (bei Warmblütern) generell nur den Verzehr von Wiederkäuern und pflanzenfressenden Vögeln. Fleisch (und damit Blut) fressende Raubtiere und Vögel sind nach Lev 11 und Dtn 14 in Israel tabu. Das Schwein ist als Allesfresser ein Grenzgänger und wird namentlich von der jüdischen Speisekarte ausgeschlossen (Lev 11,7; Dtn 14,8). Dieses Verbot hält auch der Islam fest, da sich Muhammad in der Kontinuität zur Religion der Juden sah. Die jüdischen Speisegesetze dienten immer zur Abgrenzung von heidnischen Lebensweisen (Kaschrut = koschere Ernährung). Wenn man Juden zwangshellenisieren wollte, zwang man sie zum Essen und Opfern von Schweinefleisch (1 Makk 1,47; 2 Makk 6,18, 7,1). In der aus Juden und Heiden entstehenden Kirche galt das Schweinefleischverbot für Heiden noch nie, und für christliche Juden wurde die Kaschrut relativiert, damit sie mit den Christen aus dem Heidentum Tischgemeinschaft haben konnten (Apg 15,28–29; Gal 2,11–14). Wenn man Juden zwangshellenisieren wollte, zwang man sie zum Essen und Opfern von Schweinefleisch. 4 SCHWERPUNKT

P. Stephan Ch. Kessler SJ leitet die Kunst-Station Sankt Peter Köln, ein Zentrum für zeitgenössische Kunst und Neue Musik in Verbindung mit einer innovativen Pastoral. Lieblingsgericht: hausgemachte bzw. handgeschabte Spätzle (pro „Maul“ ein Ei) mit Soße oder als Kässpätzle Meine Art zu essen, ist meine Art zu leben: nahrhaft werden Esse ich schnell oder langsam, zu viel oder zu wenig? Bin ich wählerisch oder putze ich jeden Teller leer? Kann ich genießen oder schlinge ich nur runter? Meine Art und Weise zu essen, offenbart viel über meine Persönlichkeit. Stephan Ch. Kessler SJ über (christliche) Tischkultur. Wie ich mich ernähre, ist ein Ausdruck des Lebens-Gefühls und zeigt, wie ich zum Leben stehe. Essen ist ein Gradmesser meiner Weltbejahung. Weil es daran vielleicht hapert, gibt es in einer Gesellschaft, in der niemand hungern müsste, so komplexe Essstörungen und gleichzeitig unzählige Kochsendungen, während eine verbindliche Esskultur zwischen Fastfood und Buffets zerfällt. Bei aller Individualität ist unsere Art zu essen stark von der Gemeinschaft und der Kultur geprägt. Kaum ein anderer Grundvollzug des Menschseins ist stärker kultiviert als Mahlzeiten, vom Butterbrot bis zum Staatsbankett. Grundlegend für das, was schmeckt, ist oft die Herkunft – wie „bei Muttern“ ist geschmacksbildend. Dass Essen aber auch etwas Heiliges ist, darum wissen die Religionen. Sich ernähren bedeutet, dass ich mir Leben einverleibe. Ich nehme anderes Leben als Energieträger in mich auf. Weil etwas vergehen muss, damit ich lebe, darum gibt es beim Essen einen Moment des Innehaltens. In dieser Ergriffenheit liegt der Grund für Gaben- oder Tischgebete; denn es ist nicht selbstverständlich, dass Essen Leib und Seele zusammenhält. Dass Genuss des Gegessenen mehr bedeutet als die zugeführten Kalorien, hat Marcel Proust mit dem ovalen Sandtörtchen einer „Madeleine“ zur Weltliteratur erhoben: „Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.“ Die Bibel und die jüdisch-christliche Tradition sind voll von transzendenten Mahlgeschichten. Jesus Sirach gibt nicht nur Hinweise zum Benehmen beim Essen, sondern entfaltet eine ausdrückliche Tischkultur inklusive sozialer Verantwortung: „Reiß an der Tafel den Rachen nicht auf … sorge für deinen Nächsten“ (Sir 31). Das Zusammenführen von unterschiedlichen Menschen um einen Tisch wird zum Erkennungszeichen der messianischen Sendung Jesu (Lk 22,15). Mahl- und Tischgemeinschaft sind eine entscheidende Kernkompetenz christlicher Lebenskultur, keineswegs nur am Altar. Brotbrechen und Tischgemeinschaft bilden unbestritten das Zentrum des Christlichen – im Alltag wie in der Liturgie. Damit Glaubende für andere nahrhaft werden, bedürfen sie einer unterscheidenden Tischkultur. Die kann man nach Ignatius lernen, indem man sich beim Essen Christus leibhaft vorstellt, wie und mit wem er gegessen hat, und ihn nachahmen (Geistliche Übungen 314). Denn wer wie Er isst, kann jenseits von Kalorien andere nähren. 5 SCHWERPUNKT

6 SCHWERPUNKT

Nachhaltigkeit braucht Geduld Die Katholische Studierende Jugend (KSJ) in Hamburg setzt sich seit drei Jahren intensiv damit auseinander, wie sie als Jugendverband nachhaltiger werden kann. Ava Carstensen und Anna Leffers geben einen Einblick in das Experiment. Existenzkampf. Wenn wir und nachfolgende Generationen die nächsten Jahrzehnte auf dieser Erde verbringen wollen, dann ist Nachhaltigkeit genau das. Neben der Politik sollte jeder Mensch versuchen, den Alltag nachhaltiger zu gestalten. Darum haben wir uns als KSJ 2020 entschieden, einen Arbeitskreis (AK) zum Thema Nachhaltigkeit zu grunden. Wir wollten herausfinden, was wir als Jugendverband verandern konnen, um unseren Beitrag zu leisten. Dabei haben wir uns auch viel mit dem Thema Essen und Essenskultur beschaftigt. Ein Antrag wurde erarbeitet und demokratisch im Verband verabschiedet. Die konkreten Regelungen betreffen vor allem unsere Sommerlager, Konferenzen und Wochenenden, denn dort essen wir gemeinsam. Zur Vereinfachung der Umsetzung hat der AK Listen mit Rezeptvorschlagen, Mengenangaben zum Kochen und Aufzahlungen von Bio-Siegeln sowie regional-saisonalem Obst und Gemuse erarbeitet. Verändert hat sich vor allem unser Fleischkonsum und das Bewusstsein darüber. Um den Antrag in der KSJ zu verbreiten, Feedback einzuholen und Rückenwind zu bekommen, folgten weitere Maßnahmen wie Erklärvideos und eine Themenwoche auf Social Media sowie eine Umfrage. Diese zeigte: Die erste Resonanz ist sehr stark gemischt, es gab negative wie positive Kritik. Das ist nicht verwunderlich: Bei uns treffen taglich viele verschiedene Menschen aufeinander, die im Grunde genommen nur der Glaube eint. Jede*r hat unterschiedliche soziale und kulturelle Hintergrunde und somit abweichende Gewohnheiten, Vorlieben und Meinungen, insbesondere beim Essen. Es ist wichtig, jede Stimme in einem solchen Prozess ernst zu nehmen. Nachhaltige Veränderung braucht viel Geduld. Unser Verband besteht nicht nur aus Dokumenten und Regeln, sondern aus vielen verschiedenen Menschen. Um die KSJ klimafreundlich umzugestalten, müssen diese die Wichtigkeit des Themas erkennen. Das passiert nicht von heute auf morgen. Unsere Erfahrung zeigt aber: Die Akzeptanz wächst und Nachhaltigkeit wird immer alltäglicher. Ein Mehr an Nachhaltigkeit und ein bewussteres Essverhalten sind existentiell und daher im Sinne aller. Solch ein Bewusstsein muss sich nach und nach weiterentwickeln, zur Normalität werden und darf doch nicht die Brisanz verlieren – weder in der Gesellschaft noch in der KSJ. Anna Leffers ist seit 2018 Gruppenleiterin und war zusätzlich drei Jahre lang Mitglied eines Arbeitskreises rund um Nachhaltigkeit in der KSJ Hamburg. Zum Wintersemester 2023/24 beginnt sie ihr Studium der Tiermedizin. Lieblingsessen: Sommerrollen mit selbstgemachtem Erdnuss-Dip Ava Carstensen arbeitet in der Diözesanleitung der KSJ Hamburg und war zusätzlich drei Jahre lang Mitglied eines Arbeitskreises rund um Nachhaltigkeit in dem Jugendverband. Seit dem Wintersemester 2022/23 studiert sie Politik. Lieblingsessen: Chili sin Carne Foto: © Hanna Hoffmann 7 SCHWERPUNKT

Balanceakt auf dem Tellerrand Philipp Räubig sieht Essen als Austragungsort von (Selbst-)Kritik und entdeckt ein dreifaches „Du“ jenseits des Tellerrands. Auf meinem Teller spiegeln sich Konflikte zwischen meinen ethischen Überzeugungen, meinen Gewohnheiten, Vorlieben und sozialen Beziehungen. Ein Beispiel: Ich bin mir ethisch sehr sicher, dass die Produktionsbedingungen von Käse nicht in Ordnung sind, weil Kühe, obwohl sie sehr soziale Wesen sind, in zu engen Ställen in ihrem eigenen Mist leben und dort stetig geschwängert, von ihren Kindern getrennt und möglichst effizient abgemolken werden. Aber dennoch kann ich oft nicht widerstehen, wenn meine Partnerin Wildblumenkäse in den Kühlschrank legt. Wenn ich dann beherzt in mein Käsebrot beiße, habe ich schon vergessen, unter welchen Produktionsbedingungen diese Leckerei entsteht. Wie kritisch ich auch eingestellt bin, wie viele Dokumentationen, Artikel und Vorträge ich auch gesehen habe: Ich scheitere an meinen Gewohnheiten und an meiner Verdrängung. Es gibt gleich zwei Konflikte, wenn man zu einem Grillabend kommt, ohne anzukündigen, dass man keine tierischen Produkte essen möchte. Erstens: Trockenbrot und Gurkensalat allein machen nicht glücklich. Mein Wunsch ist offensichtlich noch nicht normal. Und hinzukommt, dass allein mein anormales Verhalten als solches ein kritisches Moment hat. Verzichte ich auf Fleisch oder andere tierische Produkte, fühlen sich andere oft genötigt, ihr eigenes Verhalten zu rechtfertigen. Es geht ihnen wie mir: Man weiß oder ahnt, dass vieles an unserer Essensproduktion nicht stimmt, aber man vergisst so schnell, und die eigenen Gewohnheiten und sozialen Normen machen Veränderung schwerer als man denkt. So wird das Essen immer wieder Ort der (Selbst-)Kritik und damit auch Ort von offenen oder unterschwelligen Konflikten. Vielleicht kennen Sie auch die angespannte Situation bei einer Familienfeier, wo sich entweder jemand nicht traut, Essen abzulehnen, oder für den Verzicht auf Wurst und Käse spöttisch beäugt wird. Dabei ist das gemeinsame Essen eigentlich ein Ort gelassener Gespräche, wo man Gemeinschaft leben kann, ohne zu streiten. Denken Sie an das Essen nach schwierigen Besprechungen oder das Gemeindefest, wo sich alle beim Buffet treffen und locker in Kontakt kommen. Denken Sie an Abende mit guten Freund*innen, an eine sichere Atmosphäre, in der man sich traut, über Sorgen, das eigene Scheitern, aber auch über naiv-utopische Vorstellungen der Welt ins Gespräch zu kommen. Für mich sind diese Erfahrungen von Gemeinschaft etwas, das man auch im Abendmahl wiederentdecken kann. Wir kommen in einer Gemeinschaft zusammen und feiern gemeinsam, unabhängig von ökonomischem Stand, politischer Gesinnung oder schwelenden Konflikten. Dabei sind wir so verschieden wie in jedem anderen Teil der Gesellschaft. Und Konflikte gibt es in und unter uns genug. Wir können also die Erfahrung machen, dass hinterm Tellerrand ein „Du“ ist. Und das in dreifacher Weise: Erstens ist dort ein „Du“, welches betroffen ist von den Produktionsbedingungen meines Essens. Menschen, die für unser Essen arbeiten und unzählige Tiere, die dafür leben, leiden und sterben. Essen ist politisch. Zweitens ist dort ein „Du“, das entweder mit mir diese Bedingungen stillschweigend akzeptiert (solange wir vieles, was wir wissen müssten, verdrängen) oder es ist Gegenüber eines Konflikts. Essen ist Austragungsort von Kritik. Drittens haben wir die Chance, einem 8 SCHWERPUNKT

„Du“ zu begegnen, mit dem wir in Gemeinschaft essen. Wir müssen uns nicht einig sein. Es gibt nur die Zusage, am selben Tisch zu sitzen und in einer Form von Offenheit gemeinsam den Balanceakt zu üben, die eigenen ethischen Ansichten in Einklang mit unserem Handeln zu bringen. Philipp Räubig ist Philosoph und Theologe und seit 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie an der TU Dresden. Er isst am liebsten klassisches Abendbrot mit guten Freund*innen – manchmal mit und manchmal ohne Käse. Foto: © Hanna Hoffmann 9 SCHWERPUNKT

10 SCHWERPUNKT

Für eine schmackhaftere Welt Der erste Beruf des spanischen Jesuiten Iñigo Merello Terry ist Koch. Was bedeutet es für ihn, für andere zu kochen? Welche Berührungspunkte gibt es zwischen dem Christentum und der Kochkunst? Meine Beziehung zum Essen ist eine Leidenschaft, die ich seit meiner Kindheit pflege und die in meiner Familie in Spanien von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Das Essen und die Tischgemeinschaft stehen auch im Mittelpunkt meiner Berufung als Mensch und Ordensmann. Nach einer Ausbildung beim „Cordon Bleu“, einer Schule der grande cuisine in Paris, habe ich einige Jahre als Koch gearbeitet, ehe ich in die Gesellschaft Jesu eingetreten bin. Ich kann also sagen, dass meine Berufung nicht auf den religiösen oder klerikalen Bereich beschränkt ist. Es geht mir mehr darum, anderen großzügig und in aller Einfachheit zu dienen, wie es in der Eucharistiefeier seinen schönsten Ausdruck findet. Essen ist nicht nur ein körperlicher Vorgang, sondern auch eine soziale Handlung. Mit wem teile ich meinen Tisch? Wen lade ich ein und warum? Welche Begegnungen bei Tisch begünstige ich? Das gemeinsame Essen ist ein privilegierter Ort der Begegnung mit den Mitmenschen und sogar mit Gott! Ich bin Jesuit und gelernter Koch. Und doch werde ich wohl nie den Auftrag erhalten, als Koch zu arbeiten. In der Kommunität, in der ich lebe, arbeite ich umso lieber mit, wenn ein Festessen vorzubereiten ist. Ein sorgsam vorbereitetes Essen hilft uns, einander anders kennenzulernen. Begegnungen bekommen eine Tiefe, wenn man miteinander kocht und isst, da das Essen unsere persönlichste Identität berührt. Jede Kultur hat bei Geschmack und Essen ihre eigenen Sitten und Gebräuche. Sie bietet einen symbolischen Raum der Kommunikation, in dem soziale Werte und kulturelle Identität geteilt und weitergegeben werden können. Essen ist ein Zugang zur Gesellschaft und ein Mittel, sie zu transformieren. Essen kann die Gesellschaft in Bewegung bringen. Wenn ich im Sommer nach Einbruch der Nacht in Paris oder Madrid spazieren gehen, freue ich mich über die vielen Menschen jeden Alters, die auf den Terrassen der Restaurants sitzen, weil mir das von einem schönen und glücklichen Zusammenleben erzählt. Ist Ihnen aufgefallen, dass das gemeinsame Essen, die Weitergabe von Erfahrungen und die Veränderung von Menschen nicht nur Ziele der Tischkultur, sondern auch der Evangelisierung sind? Denn die Evangelisierung beschränkt sich nicht auf sakramentale Handlungen, sondern versucht, die Gesellschaft zu verändern. Evangelisierung bedeutet heute die Anerkennung der Vielfalt, den Dialog mit den Kulturen und die Förderung der Solidarität. Das lerne ich als Koch und so beteilige ich mich an der Erschaffung einer gerechteren und menschlicheren, einer „schmackhafteren“ Welt. P. Iñigo Merello Terry SJ ist Socius des Novizenmeisters der spanischen Provinz in Bilbao. Kochausbildung „Grand diplôme de cuisine et de pâtisserie de l‘école Cordon Bleu de Paris”. Lieblingsnachtisch: Käsekuchen mit Himbeeren und Blaubeeren Foto: © Hanna Hoffmann 11 SCHWERPUNKT

„Hier macht das Kochen viel Freude“ Der Mittagstisch der Jesuitenpfarrei in Göttingen ist gelebte Gastfreundschaft. Ehrenamtliche und Gäste berichten von ihren Erfahrungen. Montag, kurz nach 11 Uhr. Ein würziger Duft zieht durch die Küche von St. Michael: Zwiebeln, Knoblauch, Speck und Fleischwürfel brutzeln im heißen Fett. Hildegard Stobbe löscht mit Brühe ab, gibt nach und nach allerlei Gemüse in den riesigen Topf. Dazu Dutzende gewürfelte Kartoffeln, schließlich gehackte Küchenkräuter: alles gespendete Zutaten, die von freiwilligen Helfer*innen in Geschäften in und um Göttingen abgeholt werden. „Hier zu kochen, macht wirklich Spaß“, sagt die Ehrenamtliche, die in einem zweiten, etwas kleineren Topf ein weiteres Eintopfgericht zubereitet, „ohne Fleisch. Manche Gäste möchten das gerne so.“ Ob mit Fleisch oder ohne: „Was wir hier kochen, schmeckt den Gästen“, sagt Angelika Juretzka, die ebenfalls ehrenamtlich in der Küche arbeitet. „Wir kriegen jedenfalls viel Lob.“ Das motiviere sie zusätzlich, ergänzt die frühere Verwaltungsangestellte, die seit gut zwei Jahren regelmäßig beim Mittagstisch aktiv ist. Im Team kocht sie drei bis viermal monatlich für bis zu 100 Gäste. „Dabei ist es manchmal gar nicht einfach, etwas Leckeres auf die Tische zu bringen“, sagt Juretzka. Denn bevor das Team, zu dem seit vielen Jahren auch die pensionierte Schulrätin Dorothee Guttmann gehört, mit dem Kochen loslegen kann, muss erst einmal geschaut werden, was an gespendeten Lebensmitteln gerade vorrätig ist. Schließlich gelingt es aber eigentlich immer, etwas Leckeres vorzubereiten. „Das liegt auch daran, dass wir als Team – auch unter Stress – gut und gerne zusammenarbeiten“, so Hildegard Stobbe. Von den Gästen, die zum Mittagstisch kommen, weil sie ein schmales Budget oder keine eigene Möglichkeit zum Kochen haben, ist viel Lob zu hören. Dieter (58): „Ich komme, so oft es geht, weil es schmeckt und auch weil es so preiswert ist.“ Auch Andreas findet, dass man für 50 Cent in St. Michael „wirklich viel bekommt“. Als Empfänger von Grundsicherung helfe ihm das sehr, sagt der 62-Jährige, der seit rund vier Jahren regelmäßig den Mittagstisch besucht. Paul (63) erinnert sich, dass er wohl schon seit rund 30 Jahren zum Mittagstisch kommt. Es gefalle ihm dort und das Essen möge er auch – meistens. Eine Besucherin des Mittagstisches, die anonym bleiben möchte, schätzt besonders, dass sie zusätzlich zum warmen Essen oft auch noch Brot, Käse oder Wurst sowie Obst für den Abend mit nach Hause nehmen kann. Andere Besucher*innen sagen zwar nichts, wenn sie jedoch eine zweite oder dritte Portion nehmen, dann, so Hildegard Stobbe, wisse man, „dass es ihnen geschmeckt hat“. Matthias Brunnert ist langjähriger Korrespondent der Deutschen Presseagentur (dpa) für das südliche Niedersachsen. Seit Anfang 2023 arbeitet er regelmäßig ehrenamtlich für den Mittagstisch. Gekocht wird mit Zutaten, die von Geschäften gespendet werden. 12 SCHWERPUNKT

Tischkulturen Neben dem Esstisch gibt es unzählige andere Tische: zum Beispiel den Schreibtisch, den Nachttisch oder den Stehtisch. Moritz Kuhlmann SJ erzählt von den unterschiedlichen Tischen, die seinen Alltag in verschiedenen Kulturen geprägt haben. Was ein Tisch bewirken kann, habe ich gelernt, als wir im Kosovo mit Gymnasiasten Kontakt zur Roma-Community aufbauten. Wie kann man ein Roma-Viertel betreten? Was hilft, um Beziehungen aufzunehmen? Ein einfacher Tisch wurde dabei zu einem erstaunlichen Werkzeug. Auf dem Lehmboden zwischen den Hütten stellten wir einen kleinen Klapptisch auf – schon war ein Raum da. Um ihn versammelten sich Menschen und kamen ins Gespräch; Kinder und Jugendliche, die sonst Müll sammelten, um die Familie durchzubringen, konnten sich an Stift und Papier erproben; der lahme Straßenhund fand Schatten, und uns gab er ein Gefühl von Sicherheit. Nachdem zwischen Gymnasiasten und Roma-­ Jugendlichen bald eine Gemeinschaft gewachsen war, fand sich der Klapptisch im Zentrum unseres Morgengebets wieder. Koran, Bibel und Kerze tragend bereitete er den Ort für Gesang und Lesung, Stille und Bitte: dass die Mama heute früher nach Hause kommt; dass der Papa Arbeit findet und am Abend nicht böse ist; und dass Lejla auch morgen zum Lesenlernen zu Besuch kommt. Als die Gemeinschaft stark genug war, bauten wir um den Tisch herum ein Haus. Dort steht er noch heute, als eine Mitte des Integrationsprojekts „Concordia Tranzit“. In China sitze ich nun an anderen Tischen. Da sind die oktagonalen Tischinseln verstreut im Vorlesungssaal, Power Point und Gesichtsaufnahme des Vortragenden sind auf einem die vier Wände durchziehenden Bildschirmband aus jeder Perspektive sichtbar. Studierende verwenden mindestens drei Geräte gleichzeitig, Smartphone, Laptop und Pad, an den Tischgruppen sind sie in permanentem Gespräch über die parallele Vorlesung. Da sind die kreisrunden Tische in den Universitätskantinen, die 40.000 auf dem Campus Wohnende (von Studierenden über Reinigungspersonal und Gärtnern zu Professoren mit deren Familien) versorgen. An den runden Esstischen wird nur gemeinsam gegessen, keiner bestellt ein eigenes Gericht, sondern bedient sich an den in der Mitte für alle zugänglichen Speisen, zieht sie Bissen für Bissen über einer kleinen Reisschale zu sich. Oder die Tischtabletts im 11er-Intensivstation-Zimmer eines Pekinger Krankhauses, in dem die Pflegenden nachts eine Liege ausklappen. Sie wohnen im Krankenzimmer, ihr persönlicher Bereich beschränkt sich auf eine Schublade. Da sind die Plastiktische unter Planen um das Holzhaus mitten in einer Teeplantage, an dem die 70, 80 Verwandten bewirtet werden, die für das siebentägige Totengedächtnis alles stehen und liegen lassen. Da sind die Opfertische in den Kirchen und Tempeln, die daran erinnern, dass der Mensch in all dem Alltäglichen, das er am Tisch wirkt, letztlich dem dient, was ihm heilig ist – oder gerade die Abwesenheit jeglichen Tischs in den Meditationshallen des Zen-Buddhismus, wo das Sitzen ohne Tisch das Dasein ohne Müssen zeigt. Was sind die Tische in Deinem Leben? Wie gestalten sie Deinen Alltag? P. Moritz Kuhlmann SJ baute in Prizren/Kosovo das Integrationsprojekt Loyola Tranzit (heute Concordia Tranzit) auf. Derzeit lebt und studiert er in Peking. Er isst am liebsten das, was auf den Tisch kommt. 13 SCHWERPUNKT

Wolfgang Beck ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt. Der Sprecher des „Wort zum Sonntag“ in der ARD ist Redaktionsmitglied des Feuilletons feinschwarz.net. Lieblingsessen: Milchreis mit Zimt Vom Schweinsbraten zum Pizza-Bringdienst? Im Pfarrhaus wird gegessen. Wolfgang Beck wirft einen Blick in den Kühlschrank und auf den Tisch: Essen im Pfarrhaus zwischen Verfalls- und Befreiungshermeneutik. Dass mittags das gekochte Essen auf dem Tisch steht und der Pfarrer nur noch das Segensgebet sprechen muss, erscheint heute fast als Karikatur kirchlichen und klerikalen Lebens im Pfarrhaus. Zwar gibt es die Idealvorstellung eines Pfarrhauses mit Haushälterin und einer bürgerlich-quasifamiliären Struktur noch an einzelnen Orten. Und bei manchen Personalverantwortlichen gilt das traditionelle Konzept noch als Schutz gegen mögliche Verwahrlosung der Priester (in manchen Ordinariaten lange Zeit eine große Sorge). Doch überwiegend ist diese Vorstellung von Schweinsbraten, Knödeln und Rotkraut aus der Küche der Haushälterin ein Klischee aus mittelmäßigen Fernsehserien. Sie haben eine bittere Komik, die sich unfreiwillig auch dort findet, wo Priester sie in Verbindung mit einem vormodernen Rollenverständnis verknüpfen. Vor allem aber bauen sie auf überholten Rollenklischees und meist auch auf der Ausbeutung schlecht bezahlter Frauen auf. Der Regelfall dürfte zunehmend sein, dass auch Kleriker – wie fast alle Menschen – ihren Haushalt selbst führen. Wie alle allein Lebenden müssen auch sie überlegen, wann sich das Kochen lohnt. Viele engagieren eine Reinigungskraft. Viele putzen, waschen und kochen aber auch selbst. Ist dies ein Kulturverlust, weil das Pfarrhaus (angeblich) weniger gastfreundlich ist oder hier das Vorzeigeobjekt bürgerlicher Lebenskultur mit ihrem in Priesterseminaren eingeübten Symbol der Stoffservierte abhandengekommen ist? Nein, hier ereignet sich kein schleichender Kulturverlust. Hier ereignet sich im besten Sinne eine Annäherung der klerikalen Lebensformen an gesellschaftlich übliche Lebensrealitäten. Und es ist ein Gewinn, ja eine Befreiung der Priester vom Ideal einer überzogen bürgerlichen Vorstellung und einer klerikalistischen Überhöhung. Wenn die Telefonnummer vom Pizza-Bringdienst im Smartphone des Pfarrers abgespeichert ist, muss das nicht das Ende der Lebenskultur sein. Es ist vor allem eine entspannte Normalisierung. Und es ermöglicht häufig weit mehr spontane Gastfreundlichkeit als in den übersteigert bürgerlichen Lebenswelten. Dass Gastfreundschaft einen zentralen Aspekt gemeindepastoraler Spiritualität darstellt und die Arbeitspraxis wie die persönliche Haltung prägen sollte, dürfte vielen Haupt- und Ehrenamtlichen selbstverständlich erscheinen. Doch Gastfreundschaft drückt sich durch viele kleine Details aus: Sie baut keine Hürden auf, um Distanz zu signalisieren, sondern signalisiert Großzügigkeit und Spontaneität, um sich auf die Bedürfnisse von Gästen einzulassen. 14

P. Christoph Albrecht SJ gibt Exerzitien- und Fastenkurse und Kurse zur gewaltfreien Kommunikation. Seit 2016 ist er für den Jesuiten-Flüchtlingsdienst und die katholische Fahrendenseelsorge in der Schweiz verantwortlich. Eines seiner liebsten Gerichte ist denkbar einfach, gesund und nahrhaft: Hafersuppe mit gedünsteten Nüssen und frischer Petersilie. Warum esse ich keine Tiere? Sich vegetarisch oder vegan zu ernähren, ist in den letzten Jahren viel selbstverständlicher geworden. Christoph Albrecht SJ erzählt, warum er bereits seit 35 Jahren Vegetarier ist. 1984 hatte ich mich für den Boykott von privaten motorisierten Fahrzeugen entschlossen, um nicht nur mit Worten, sondern auch mit meinem Leben meine Empörung gegen die allgemein hingenommene Luftverschmutzung zu manifestieren. Von da an begann ich, einen möglichst wenig belastenden Lebensstil zu suchen: Recycling, Vermeiden von Abfall und exotischen Produkten, kalt Duschen, im Winter Pullover statt Heizen, Reisen per Velo und öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich hörte die Kritik, Umweltschutz sei ein Luxus für die Reichen. Die Armen könnten sich die teuren, fairen und umweltschonenden Produkte gar nicht leisten. Meine Antwort: Umweltschutz ist nicht Luxus, sondern Pflicht für die Reichen. Wer, wenn nicht sie, die wählen können, kann damit einen Anfang machen?! Als Feinmechaniker und Elektroingenieur verstand ich, dass die ökologischen Probleme nicht bloß durch neue Technologien gelöst werden können, sondern dass eine grundlegende Veränderung unseres Produktions-, Handels- und Konsumsystems gefragt ist, damit kurzfristige Gewinne nicht mehr höher bewertet werden als die langfristige Erhaltung unserer Lebensgrundlagen. Dass wir über die Nachfrage einen Einfluss auf das Angebot haben, lernte ich von den Kämpfer*innen für den fairen Handel. Die Kraft, konsequent zu leben, was ich als richtig erkannt habe, vermittelte mir Franziskus von Assisi mit seiner geschwisterlichen Spiritualität allen Geschöpfen gegenüber. Klar wusste ich, dass ich mit meinem Verzicht die Welt nicht rette. Aber es hilft mir gegen die Resignation. Ich will meinen Teil beitragen und mich nicht den Hunderttausenden anschließen, die denken: „Ich allein kann ja doch nichts machen“. Die heute vor allem von bewussten jungen Leuten gelebte vegane Lebensweise ist bezüglich Klimagerechtigkeit und Frage der Massentierhaltung nichts als konsequent – und für mich ein Ansporn, generell weniger Tierprodukte zu konsumieren. Ökologisch gesehen ist nichttierischer Proteinersatz zwar nicht immer besser. Doch der Methanausstoß der riesigen Rinderherden erfordert auf jeden Fall einen Umbau der Landwirtschaft im großen Stil. Und dazu brauchen wir heute wohl die vegane Provokation. Umweltschutz ist nicht Luxus, sondern Pflicht für die Reichen. 15 SCHWERPUNKT

Das andere Ende der Nahrungskette P. Claus Recktenwald SJ leitet ein landwirtschaftliches Ausbildungszentrum in Sambia. Aus dieser Perspektive reflektiert er, was es für die Erzeuger bedeutet, wenn sich Essgewohnheiten und Anforderungen an den Landbau verändern. 16 SCHWERPUNKT

Es beginnt im Kopf Wo verschiedene Lebenswelten aufeinanderstoßen, gibt es manchmal skurrile Situationen. So etwa an einem Samstagvormittag vor zwei Jahren. Ich hatte den Lieferdienst für das Gemüse übernommen, das eine Gruppe von Kleinbauern in Kasisi/Sambia mit biologischen Methoden anbaut. Der Pickup war voll beladen, vor allem mit verschiedenen Sorten von Blattgemüse wie Kürbis-, Amaranth-, Kohl- und Bohnenblättern. Diese sind in Sambia traditionell sehr gefragt. Unsere waren obendrein biologisch, regional, 1A Qualität, voll mit Antioxidantien, Vitaminen und Ballaststoffen ... Eine junge Bäuerin begleitete mich. Nachdem wir das Gemüse verkauft hatten und auf dem Rückweg waren, bat sie mich, an einer Shopping Mall zu halten, sie wolle etwas zu Essen kaufen. Etwas ratlos stand ich da und versuchte, eins und eins zusammenzuzählen, als sie so ziemlich alles Geld, das sie eben verdient hatte, in einem Fastfood-Laden für Chickenwings und Fritten ausgab. Unsere Essgewohnheiten beginnen bei unseren Idealen. Es macht einen Unterschied, ob jemand von „unten“ kommt, die Armut hinter sich lassen und einer Welt des Wohlstandes und des Konsums angehören will, oder ob man zu einer postmateriellen Schicht gehört, die andere Ideale hat. Essgewohnheiten verändern die Welt Die Biolandwirtschaft in Deutschland wächst stetig. Mittlerweile ist ihr Umsatz auf fast 16 Milliarden Euro gewachsen und etwa 10 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche werden bereits biologisch bewirtschaftet. Angebot und Nachfrage stehen in einem dynamischen Verhältnis. Wenn die Kunden mehr „Bio“ verlangen, reagiert der Markt darauf und es wird mehr ökologisch produziert. Gleichzeitig ist aber der Biosektor durch die erhöhte Anfrage verändert worden. Die ersten Biohöfe wurden vor allem aus Protest gegen die vorherrschenden Entwicklungen der Wirtschaft und der Gesellschaft gegründet. Heute ist die Biobranche geprägt von hippen Startups, Schönheitsprodukten und professioneller Vermarktung. Es brodelt im Topf Es gibt sie nicht, die eine Landwirtschaft. Landwirtschaft ist so divers, wie die Vorstellungen der sozialen Gruppen und Kulturen, die sie beliefert. Sie ist Experimentierküche des gesellschaftlichen Wandels. Alles kommt in den Topf: wirtschaftliche Interessen, Geopolitik, die Nachfrage einer steigenden Bevölkerung, der Klimawandel, limitierte Ressourcen und gesellschaftliche Akzeptanz. Eine Vielzahl von Agrarkonzepten wird feilgeboten: Climate Smart Agriculture, Conservation Agriculture, Regenerative Agriculture, Agroecology oder Syntropic Agriculture. Oft ist auf den ersten Blick nicht genau klar, was die Unterschiede sind und welche Agenda dahintersteht. Unterscheidung der Geister Unsere Ideale wirken sich auf unsere Essgewohnheiten aus. Auch in den Formen der Landwirtschaft zeigen sich unterschiedliche Geister. Es gibt Formen der Landwirtschaft, die zerstören unsere Mutter und Schwester Erde. Andere stellen degeneriertes Land wieder her und machen es sogar zu Kohlenstoffspeichern. Es braucht die betende Unterscheidung der Geister auf allen Ebenen – persönlich wie gesellschaftlich –, um dem Geist der Wahrheit die Ehre zu geben. P. Claus Recktenwald SJ hat in Frankfurt und Paris Philosophie und Theologie sowie in Göttingen Agrarwissenschaften studiert. Seit 2021 ist er Direktor im Kasisi Agricultural Training Center/Sambia. Lieblingsgericht: „Schales“ Foto: © Hanna Hoffmann 17 SCHWERPUNKT

„Ich merke, was mir fehlt“ Nichts essen, nichts trinken – das kann ganz schön zehren. Ein interreligiöses Gespräch über Fasten, geführt von Prof. Felix Körner SJ. In der Kirche hängt das Fasten heute ziemlich stark an persönlichen Entscheidungen. Spendenaktionen wie Misereor gehören für viele dazu; aber dann verzichtet auch jemand auf Süßigkeiten oder baut Besinnungsmomente in den Alltagsbetrieb ein. Ich habe den Eindruck, in euren Gemeinschaften spielt die Verbundenheit unter den Gläubigen eine tragende Rolle. Mansur: Naja, für mich ist das Fasten schon etwas Individuelles. Ich kann meinem Schöpfer gegenüber gehorsam sein; und darüber freue ich mich. So spüre ich eine tiefe Ruhe, wenn ich faste. Fabian: Ich muss allerdings sagen, je nach Tagesform fällt mir das Fasten auch manchmal richtig schwer. Mansur: Ja, das kenne ich auch. Ich merke dann, was mir fehlt. Doch irgendwann kommt der Moment des Fastenbrechens. Zwar ist mir bewusst, dass Millionen Muslime in diesem Augenblick dasselbe tun: Alle nehmen endlich wieder etwas zu sich; aber mir kommt es vor, als wäre ich jetzt ganz allein vor Allah. Ich kann sogar vergessen, dass am Tisch Familie und Freunde sitzen! Der Schöpfer schenkt mir einen Moment seiner Zuneignung, so kommt es mir vor. Mich durchströmt plötzlich seine Liebe: unerklärlich, erfüllend. Ein jüdischer Fasttag dauert noch länger als der islamische und ist genauso streng: nichts essen, nichts trinken. Das kann ganz schön zehren, denke ich. Fabian: Ja, nur haben wir auch keinen ganzen Fastenmonat; und der Sinn des Fastens ist, dass wir aus der Entfremdung zurück in G’ttes Nähe kommen. Wenn ich am Ende eines solchen Tages vielleicht richtig geschlaucht in die Synagoge komme und die anderen Fastenden sehe, wenn ich höre, wie sie murmeln und beten und singen, und wenn ich dann spüre, wie wir den Hunger überwunden haben und in die Gebete eintauchen: Dann – es klingt vielleicht seltsam –, aber dann komme ich mir frei vor, ja geradezu engelsgleich. Ein richtiger Freudenflug. Mansur: Und dann kommt das Fastenbrechen! Fabian: Genau. Und beim ersten Segensspruch über den Speisen empfinde ich oft: Das Essen ist ein persönliches Geschenk von G’tt. Im regen Austausch: Prof. Felix Körner SJ (links), Inhaber des Nikolaus-CusanusLehrstuhls für Theologie der Religionen an der Humboldt-Universität zu Berlin, mit dem orthodoxen Rabbiner Daniel Fabian (rechts) und Muhammed Mansur Doğan, der islamische Theologie studiert hat. Prof. Körner isst lieber vegetarisch, und wenn in Rom, dann Gelato. Foto: © Ines Grabner 18 SCHWERPUNKT

Augenschmaus Mit dem Essen spielt man nicht, dient es doch in erster Linie dazu, den Hunger zu stillen. Und doch wird es vielfach „zweckentfremdet“. Was passiert, wenn wir Essen zum Anschauungsobjekt machen – sei es als #foodporn, Stillleben oder eucharistische Aussetzung? Wenn Markus Söder auf seinem Instagram-­ Account Einblick in seine kulinarischen Vorlieben gibt (#söderisst), dann zielt das nicht zuletzt auf Selbstinszenierung ab. „Ich bin einer von euch“, sagen die Posts, die beispielsweise einen Imbiss von McDonald´s oder eine ganze Platte Nürnberger Rostbratwürste zeigen. Der bayrische Ministerpräsident ist als „Foodfluencer“ keineswegs ein unpolitischer Gourmet. Das gilt wohl mehr oder weniger für jede*n, der Essensbilder im Netz veröffentlicht oder solche Bilder sucht und anschaut. Bei „#foodporn“ geht es um die Freude am Augenschmaus, aber eben nicht ausschließlich. Lebensmittel im Bild festzuhalten, ist keine Erfindung unserer Tage. Das Genre der Stilllebenmalerei ist voller Bilder von Früchten und Fleisch, Gebäck und Getränken. Die Entstehung der Gattung des Käsestilllebens in den Niederlanden im 16. Jahrhundert beispielsweise, hängt mit dem Siegeszug des bildkritischen Calvinismus zusammen. Nachdem dadurch christliche Motive suspekt geworden waren, verlegten sich die Maler und ihr Publikum auf andere Darstellungen, die dazu geeignet waren, Wohlstand und wirtschaftlichen Erfolg anzuzeigen. Die reich gedeckten Tafeln versinnbildlichen zugleich Prosperität, Genuss und Vergänglichkeit. In der katholischen Kirche pflegt man die Praxis der eucharistischen Anbetung, bei der das eucharistische Brot zur Betrachtung ausgestellt wird. Auch bei dieser Inszenierung geht der Sinngehalt über das hinaus, was man vordergründig sehen kann, indem die tatsächliche und bleibende Präsenz Christi augenfällig zelebriert wird. Christ*innen anderer Konfessionen ist diese Andachtsform unbekannt. Brot anzuschauen, das zum Essen gedacht ist, erschiene zum Beispiel den Kirchen des Ostens unsinnig. Essen auszustellen, zu fotografieren oder zu malen, um damit ein Statement zu machen, ist so üblich wie widersinnig. Wenn man es „nur“ anschaut, entgeht einem gerade das Wesentliche, nämlich die Sättigung. Vielleicht liegt darin aber gerade auch ein Genuss. Die französische Philosophin Simone Weil (1909–1943) formulierte in ihrem Buch Schwerkraft und Gnade, dass „der Abstand die Seele des Schönen“ sei. Ohne die medial definierte, unüberwindliche Distanz wäre die angeschaute Nahrung Gegenstand unserer Verfügungsgewalt. Das Bild ist mehr als das, was wir durch es hindurch zeigen wollen. Dieser Überschuss ist die Quelle der Erfahrung von Schönheit, und darin mag der Genuss liegen, der daraus erwachsen kann, Essen anzuschauen. Manfred Grimm SJ ist gelernter Drucker. Er studierte Philosophie und Kunstgeschichte in München und absolviert derzeit ein Theologiestudium in Paris. Lieblingsessen je nach Aufenthaltsort: Pfannkuchen oder Crêpes 19

Das rechte Maß! Das Buch der Geistlichen Übungen (GÜ) des Ignatius von Loyola enthält neben den zu erwartenden konkreten Angaben zum Ablauf von Exerzitien auch einige zunächst überraschende Regel-Listen, darunter eine mit Ratschlägen zum Essen. Sr. Stefanie Strobel erläutert, worauf die Essensregeln abzielen und was diese für sie bedeuten. 20 SCHWERPUNKT

Sr. Stefanie Strobel sa gehört zur Kongregation der Helferinnen. Sie war neun Jahre lang Novizenmeisterin und Provinzoberin. Jetzt ist sie Geistliche Direktorin der katholischen Journalistenschule, dem ifp. Als gebürtige Belgierin ist ihr Lieblingsgericht Moules-frites. Dem Heiligen Ignatius wird nachgesagt, dass er das Radikale suchte. Die Zeit vor seiner Bekehrung und die Phase danach waren von extremer Lebensführung geprägt. Er wollte etwas von Gott und sich selber erzwingen. Ignatius war weit davon entfernt, sich tatsächlich von Gott und seiner Barmherzigkeit führen zu lassen. Eine Kehrtwende kam nur ganz langsam. Dieser Weg zeigt sich in den Exerzitien. Die Person auf dem Exerzitienweg prüft ihr Leben und möchte es neu ganz auf Gott hin ausrichten. Jede Gebetszeit beginnt mit dem Vorbereitungsgebet: Herr, schenke mir die Gnade, dass all meine Absichten, Handlungen und Beschäftigungen auf deinen Dienst und Herrlichkeit hin ausgerichtet seien (vgl. GÜ Nr. 46). Aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrung wusste Ignatius, dass Leib und Seele einander bedingen. So gibt es im Exerzitienbuch die „Regeln um sich künftig im Essen zu ordnen“ (GÜ 210–217). Diese Regeln stehen zwischen der dritten und vierten Woche des Exerzitienweges. Ignatius hat sie nicht als Bußregeln gedacht, sonst stünden sie bei der ersten Woche. Sie verstehen sich in der Dynamik der Exerzitien. Sie wollen dem Exerzitanten, der Exerzitantin helfen, das ganze Leben auf Gott hin auszurichten. Die Nahrung ist etwas Grundlegendes, sie berührt den Leib. Auch der Leib soll auf Gott hin „ausgerichtet“ werden, soll „evangelisiert“ werden. Die Frohe Botschaft gilt auch dem Leib. In den Regeln spricht Ignatius das alltägliche Essen an. Er empfiehlt, darauf zu achten, wo jemanden die Essenslust packt und was er, sie dann isst und trinkt. Zudem kann es von Nutzen sein, sich im Vorfeld zu überlegen, wie viel man essen möchte (vgl. GÜ 217). Im Blick auf die Nahrungsmittel empfiehlt Ignatius, mehr von den „einfacheren“ Speisen zu nehmen und von den „besonderen“ eher weniger (vgl. GÜ 212). In unserer westeuropäischen Gesellschaft dreht sich seit einiger Zeit sehr viel um die Nahrungsmittel. Fast schon ein Hype, der sich verselbständigt. Unterscheidung ist also angesagt! Was hilft dem Menschen und dem Ziel ökologischer Umstellung? Wie viel Fleischkonsum ist von Nutzen, welches Maß an veganer Ernährung ist gesund, und wann wird etwas, was gut gemeint war, auf einmal weniger hilfreich? Ignatius sagt, dass das, was von Nutzen ist, genommen werden soll, und was schadet, gelassen werden soll. Es geht um die Suche nach dem gesunden Maß. Ignatius gibt auch Vorschläge, dieses Maß zu finden. Er rät, man solle „entfernen“, so viel es braucht, um die Mitte zu finden, nicht um darin zu verharren, sondern um zu finden, was richtig ist. Diese Ratschläge sind nicht das Ziel an sich, sondern sind da, um sich zu „ordnen … fortan … für den Lobpreis und den Dienst unseres Herrn“. Die Regeln sprechen von der Nahrung, haben aber auch eine symbolische Bedeutung. Es gibt Redewendungen, die das Symbolhafte dieser Regeln aufzeigen und erweitern: „Ich verschlinge ein Buch.“, „Das habe ich satt.“ oder „Ich fresse meinen Kummer in mich hinein.“ Vieles im Leben kann in Unordnung geraten und von einem erfüllten Leben wegführen. Die Suche nach dem richtigen Maß betrifft viele Lebensbereiche: die Beziehung zur Arbeit, zu Freunden, im Blick auf die Nutzung des Internets und der sozialen Medien. Auch politisches Engagement braucht das richtige Maß, um nicht gefährlich ideologisch zu werden. Ebenso kann es durch ein „zu wenig“ zu Unordnung oder Ungleichgewicht kommen: Wenn ein Mensch sich nichts mehr gönnt und dadurch immer ungenießbarer wird. Das rechte Maß muss gefunden werden, damit wir in einem gesunden Gleichgewicht leben. Foto: © Hanna Hoffmann 21 SCHWERPUNKT

Weniger ist mehr Essen im Sinn von Nahrung ist für den Menschen überlebenswichtig. Ohne Nahrung kann der Mensch zwar leben und überleben – und zwar deutlich länger als ohne Wasser –, aber er verliert natürlich an materieller Körpersubstanz. Ignatius von Loyola machte im Jahr 1522 seine ihn prägenden speziellen Erfahrungen. Nach langen Jahren des höfischen Luxus erlebte er als Offizier seine Bekehrung durch eine Kanonenkugel. Denn bei der Verteidigung der Festung Pamplona wurde sein Knie durchschossen. Auf dem Krankenlager im Schloss Loyola, mit schweren Verletzungen ans Bett gefesselt, durch lebensbedrohende Krisen hindurch, unter vielfachen Schmerzen, spürte er eine tiefe, trostvolle Hinwendung zu Jesus als seinem neuen Herrn. Um diese Bekehrung innerlich und äußerlich mit Leben zu füllen, begab er sich auf eine Reise ins Heilige Land. Er reiste durch Nordspanien bis einige Kilometer vor Barcelona. Dort blieb er fast ein ganzes Jahr im Dorf Manresa. In dieser Zeit fastete er übermäßig, kasteite sich körperlich, lebte mit vielen seelischen Skrupeln, praktizierte strenge Bußregeln und lebte seinen Selbsthass aus. Er fastete so stark und massiv, dass er sich eine Magenkrankheit zuzog, die ihn für den Rest seines Lebens begleitete. Diese extreme Form des Fastens wurde ihm zur Lehre. Ein gesundes Maß grenzt sich ab vom opulenten Lebensstil der Zeit vor seiner Bekehrung, den Ignatius unbedingt vermeiden wollte. Später verlangte er von seinen Mitbrüdern, dass sie maßvoll fasten sollten, mit Gelassenheit, ohne Übertreibung. So gilt auch heute: Wer für sich ein Zeichen setzen will, sollte beim Essen wie beim Fasten Maß halten. Es unterstützt die Gesundheit und fördert einen mittleren Weg, der lebbar und fruchtbar ist. Zwar hat das Fasten eine lange biblische und kirchliche Tradition, es ist aber in der Gegenwart stark in den Hintergrund getreten. Es ist quasi ausgewandert – in Fastenkliniken, in Fastenkurse und Klosterprogramme. Gesamtkirchlich ist es noch in der Fastenzeit zu finden. Auch auf der geistlichen Ebene hat Ignatius seine Einsicht festgehalten. In den Geistlichen Übungen (GÜ) schreibt er: „Nicht das Vielwissen sättigt die Seele und befriedigt sie, sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von innen her“ (GÜ 2). Auch der Hunger der Seele nach Sinn, Erfüllung und Gott will gestillt werden. Das Verlangen nach Gottesnähe, Liebe und Erfahrung von Beziehung wird erfüllt durch Tiefe und Intensität, nicht durch zahlenmäßige Menge. Weniger die Zahl der Gebete, Opfer oder Werke stiftet Intimität mit Gott, sondern eine erfahrbare Nähe zu Jesus Christus. Diese geistliche Nahrung wird für viele Menschen erfahrbar in der Stille, der Meditation, im kontemplativen Gebet. Die persönliche Suche nach Gott findet Erfüllung in der Stille der Begegnung mit Christus, die zur Nachfolge führt. Schon im Alten Testament stellt besonders der Prophet Jesaja den Zusammenhang zwischen gerechtem Verhalten und Fasten dar: Das Fasten, das Gott liebt, besteht in Befreiung von Unrecht, Aufnahme von Obdachlosen, Teilen von Brot (!) und dem Bekleiden von Nackten (Jes 58,5–8). Jesus selbst fastete in der Geistlicher Impuls 22 GEISTLICHER IMPULS

RkJQdWJsaXNoZXIy MjIwOTIwOQ==