Jesuiten 2014-1

Jesuiten Zachäus 2014/1 ISSN 1613-3889

Illustrationen: Birgit Botz, Berlin 2014 Ausgabe März/2014 Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Der Schauplatz 5 Profiteure oder Gefangene des Systems? 6 Sich klein fühlen 8 Gottsucher auf Distanz 9 Bildung braucht „an-sehen“ 10 Herunterkommen 12 Ich muss heute bei dir zu Gast sein 13 Das Fest der Sünder 14 Zachäus im Mediendorf 16 Wiedergutmachung 17 Der Tag danach 19 Lass uns reden, Jesus Geistlicher Impuls 22 Vom Anfangen und Aufhören Jubiläum 2014 24 Vom Vatikanum I zum Vatikanum II Nachrichten 25 Neues aus dem Jesuitenorden Medien 28 Peter Faber Personalien 29 Jubilare / Verstorbene Vorgestellt 30 Studentengemeinde in der Messestadt Leipzig 33 Autoren dieser Ausgabe Die besondere Bitte 34 Dem Leben Orientierung geben 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Virtualität – Anwesenheit des Abwesenden 6 Virtualität aus der Schulperspektive 8 Mailgewitter & Twitterstürme 10 In die Computerzeit hineinleben 11 Erreichbarkeit 2.0: Facebook ohne Ende 14 Online-Exerzitien 16 Pastorale Projekte 17 Warum ich (noch) nicht bei Facebook bin 18 Warum ich bei Facebook bin 20 blog.radiovatikan.de 21 Jesuiten in Facebook Geistlicher Impuls 22 Von der Versuchung, virtuell zu leben Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Vorgestellt 29 Gebetsapostolat Nachrufe 2012 30 Unsere Verstorbenen Medien 32 DVD: Die Schrittweisen. Zu Fuß nach Jerusalem 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Die besondere Bitte 34 Ein Abonnement „Stimmen der Zeit“ 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2012/4 2012/4 Titelbild: @ Fotolia „Virtualität ist die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen.“ Diese Definition aus „Wikipedia“ auf vielfältige Weise umzusetzen, nahm sich Simon Lochbrunner SJ mit seinen Bildern im Schwerpunktteil dieser Ausgabe vor.

Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser, Gottes „Wort“, das sind weder Buchstaben eines Buches, noch gesprochenes Wort. Gottes Wort scheint auf in der Geschichte der Menschheit, im Besonderen in der Geschichte des jüdischen Volkes, von der uns die Bibel erzählt, und in der christlichen Gemeinschaft. Gottes Wort ist vor allem aber Fleisch geworden in Jesus, der sein Leben ganz aus dem Hören und dem Vertrauen auf Gott gestaltet. Jesu Vertrautheit mit dem Abba, seinem geliebten Vater, ist so innig, dass sie zur Vollmacht wird, mit der Jesus die Kranken heilt und die Sünder dazu bringt, ihre Sichtweise und ihr Leben zu ändern. Er ist so erfüllt vom Vertrauen auf die Liebe Gottes, der uns – ein Lieblingsbild Jesu für Gott – liebt wie Vater und Mutter, dass es buchstäblich ansteckend ist. Viele Menschen folgen dem Beispiel Jesu, beeindruckt von seiner inneren Freiheit und seiner gelebten Wertschätzung aller Menschen als gleiche Geschwister. Das stellt die Machtverhältnisse nachhaltig in Frage, so dass die Mächtigen sich nur noch durch einen Justizmord zu helfen wissen. Das Vaterunser, das Jesus uns lehrt, ist eine Einladung, einzutreten in diese Vertrautheit Jesu mit Gott. Aber können wir dieses „Wort Gottes“, das durch die Lebensgeschichten der Menschen aus der Zeit Jesu zu uns spricht, auf unser Leben und unsere Zeit hin lesen? Der heilige Ignatius lädt uns zu Übungen ein, in denen dies geschehen kann: Zunächst sollen wir die biblischen Geschich- ten verkosten und vor unserem inneren Auge lebendig werden lassen in ihrer Zeit. Wie von alleine beginnt sich dann der Blick zu wenden, und wir beginnen mit den Perspektiven der Bibel und der wohltuenden Distanz der inneren Freiheit Jesu auf unsere Zeit und unser Leben zu schauen. Da erkennen wir in den biblischen Geschichten eigene Verhaltensweisen und Lebensgefühle wieder. Und plötzlich kann geschehen, dass Jesus, der eben noch mit Zachäus sprach, mich, uns, unsere Kultur meint. Wir wollen Sie in diesem Heft einladen zu einer gemeinsamen Betrachtung der Geschichte von der Begegnung Jesu mit dem Kollaborateur Zachäus. Sie beleuchtet schlaglichtartig Facetten unserer Zeit, unserer Kultur und unseres Lebens. Jedes Kind kennt die Zachäusgeschichte. Deshalb wenden wir uns in diesem Heft mit den Illustrationen von Birgit Botz auch besonders an Euch, liebe Kinder aus dem Kreis unserer Freunde. Und wie das so ist: Wenn den Kindern eine Geschichte erzählt wird, hören wir Erwachsene manchmal besonders gerne zu. Manchmal gehen uns dann die Augen und die Herzen auf. Und dann kann unser Herz anfangen, mit seinem Schöpfer zu sprechen oder mit Jesus am Kreuz, der gestorben ist, damit wir frei sind und leben. Claus Pfuff SJ Tobias Zimmermann SJ 1 Jesuiten n März 2014 n Zachäus

Der Schauplatz Schon mit 17 verließ Mary ihr Elternhaus in Westafrika, weil die neue Frau ihres Vaters sie misshandelte und ihr Vater zu seiner Frau stand. Sie war verzweifelt und geriet in die Hände von Menschenhändlern, die sie aber erst als solche erkannte, als es schon zu spät war. Zusammen mit anderen Mädchen wurde sie in ein Nachbarland verkauft und musste mit Männern schlafen. Sie war eingesperrt auf sehr engem Raum, hatte kaum zu essen. Ihr einziger Trost war das Singen christlicher Lieder, wenn gerade keine Kunden da waren. Später wurde sie nach Osteuropa verkauft und zur Prostitution gezwungen. Man erwischte sie bei ihrer illegalen Arbeit und schob sie zurück nach Afrika, wo sie erneut in die Fänge der Menschenhändler geriet, die sie kurze Zeit später in ein westeuropäisches Land verkauften. Und wieder Prostitution, Erniedrigung, Ausbeutung. Sie durch- „Dann kam er nach Jericho und ging durch die Stadt.“ (Lukas 19,1) Zur Zeit Jesu war das Gebiet Palästinas von römischen Machthabern besetzt. Viele Juden standen im Widerstand gegen die fremden Besatzer, die mit den Annehmlichkeiten einer neuen Stadtkultur und eines anderen Lebensstils auch fremde Philosophien und Götter mitbrachten. Fromme jüdische Gruppen grenzten sich mit Beharrlichkeit durch immer striktere religiöse Regeln von einer übermächtigen Zivilisation ab und versuchten so, ihre religiösen Wurzeln und ihre kulturelle Heimat zu bewahren. Verschiedenste politische und religiöse Gruppierungen bildeten sich in dieser Zeit heraus. Neben politischen Spannungen zeigten sich auch religiöse Hoffnungen. Viele religiöse Menschen erwarteten einen Messias, der wieder die alten Ordnungen und den vergangenen Glanz herstellen sollte. In diese Erwartungen und Auseinandersetzungen kommt Jesus nach Jericho, die Stadt, die in der Geschichte des Volkes eng mit dem Einzug ins Gelobte Land verbunden ist. Voll Spannung werden Jesus und seine Botschaft erwartet auf dem Weg nach Jerusalem. Was wird passieren? Was sind seine Worte angesichts dieser Situation? Bezieht er Stellung? Fragen über Fragen angesichts einer für viele ungerechten und doch hoffnungsschwangeren Lage. Ihr einziger Trost war das Singen christlicher Lieder. 2 Schwerpunkt Jesuiten n März 2014 n Zachäus

lief noch zwei weitere ähnliche Stationen in Europa, bevor sie hochschwanger in Deutschland ankam und kurze Zeit später ihr Kind zur Welt brachte. Geschenk Gottes nennt sie es. Sie stellt einen Asylantrag, aber da sie große Angst hat, von ihrer Odyssee in der Prostitution zu erzählen, wird dieser als unbegründet abgelehnt. Und wieder droht ihr die Abschiebung. Abschiebung in ein Land, das für sie mit Angst und Schrecken verbunden ist. Sie beantragt einen Aufenthalt aus humanitären Gründen, weil ihr Kind krank ist, und erhält eine Duldung. Diese wird immer wieder verlängert. Seit fast fünf Jahren. Obwohl auch sie krank ist, gibt sie nicht auf. Sie weiß, dass es sich lohnt zu kämpfen. Wir haben sie dabei unterstützt, Deutsch zu lernen, und jetzt macht sie einen Nähkurs und freut sich über jedes Stück Stoff, das in ihren Händen zu einem Kleidungsstück für ihr Kind wird. Sie hat große Träume. Sie möchte in ihrem Land ein Waisenhaus errichten oder eine Stelle wie SOLWODI, die für sie zur Familie geworden ist, zum Ort der Zuflucht, um armen Frauen und ihren Kindern zu helfen. Eines Tages wird sie das verwirklichen. Davon möchte sie erzählen. Aber die Behörden interessiert das nicht. Die fragen immer wieder nach der Vergangenheit. Doch Mary spürt, dass das Leben vor ihr liegt. Sie möchte ihrem Sohn eine Zukunft bieten, ihren Beitrag leisten für eine gerechte und friedvolle Welt. Darin liegt ihre Würde, ihre Freude, ihre Hoffnung, ihr Gottvertrauen, ihre Identität. Sie lässt sich nicht unterkriegen von den vielen Schwierigkeiten und Hürden, die ihr in den Weg gelegt werden. Und wenn sie zu uns in die Beratungsstelle kommt, dann scheint die Sonne, denn sie versteht es, uns daran zu erinnern, was es heißt, von Gott geliebt zu sein. Aber ihre Situation ist nach wie vor unsicher, da man von öffentlicher Seite nicht erkennt, was für ein Schatz mit Mary in unser Land gekommen ist. Man duldet diesen Schatz nur und vielleicht schiebt man ihn auch ab, es sei denn, er ist ein Härtefall … Margit Forster CMS Uns daran erinnern, was es heißt, von Gott geliebt zu werden 3 Jesuiten n März 2014 n Zachäus

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„Dort wohnte ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war sehr reich.“ (Lukas 19,2) Die Zöllner zur Zeit Jesu waren die Geldeintreiber der Römer. Sie entdeckten ihre Chance, an Geld und Macht zu kommen, und nahmen häufig mehr als gefordert, um sich selbst zu bereichern. Als Handlager der Besatzungsmacht und Betrüger am eigenen Volk waren sie doppelt verhasst. Profiteure oder Gefangene des Systems? Es ist wohl naheliegend, einen Banker um einen Beitrag zum Zachäus-Evangelium zu bitten. Damit ist klar: Die Banker von heute sind die Zöllner von damals. Ist das aber wirklich so? Auf den ersten Blick spricht einiges dafür, denn das Image der Banker von heute ist ähnlich schlecht wie das der Zöllner von damals. Neben Parallelen fallen auch einige Unterschiede auf. Im Gegensatz zu den Zöllnern, die Getriebene in einem System waren, das sie selbst nicht gestalten konnten, hat sich die Finanzwelt ein eigenes globalisiertes System mit internationalen Verbindungen und Abhängigkeiten geschaffen, das zwar im legalen Raum operiert, aber von den meisten Außenstehenden nicht mehr durchschaut wird. Ein wichtiger Antrieb dieses Systems ist die Gier Einzelner, die sicherlich auch bei vielen Zöllnern vorherrschte, aber heute durch das Setzen von Fehlanreizen, wie z. B. überhöhten Bonuszahlungen, noch verstärkt wird. Damit hat sich die Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft gelöst und bewegt ein Volumen, das ein Vielfaches der durch die Realwirtschaft abgebildeten Werte ausmacht. Diese Entwicklung muss gestoppt werden. Wenn Nahrungsmittel zum Spekulationsobjekt werden und dies zum Mangel bei den Bedürftigen führt, richtet sich die Wirtschaft gegen die Gesellschaft. Die Finanzwirtschaft muss deshalb wieder der Realwirtschaft dienen, und die Wirtschaft insgesamt der Gesellschaft! Bei aller Kritik an den Banken und ihren Managern gilt aber auch: Das Klischee vom Banker als Betrüger gilt in den meisten Fällen nicht. Insbesondere das deutsche Bankensystem mit seiner mehrstufigen und dezentral gegliederten Struktur hat sich in der Krise als solide und seine Akteure als zuverlässig erwiesen. Als Mitarbeiter der Pax-Bank sei mir der Hinweis erlaubt, dass ganz besonders in den kirchlichen Banken die Balance zwischen wirtschaftlichen Erfordernissen und dem eigenen christlichen Anspruch gelebt wird. Und doch können wir alle von Zachäus etwas lernen: Zachäus stieg auf einen Baum, nahm die Vogelperspektive ein und verschaffte sich einen Überblick. Nur so konnte er Jesu Worte vernehmen: Ich muss heute in Deinem Haus zu Gast sein. Das internationale Finanzsystem bedarf dringend einer Reform. Heute, nicht morgen. Christian Hartmann Schwerpunkt 5 Jesuiten n März 2014 n Zachäus

„Er wollte gern sehen, wer dieser Jesus sei, doch die Menschenmenge versperrte ihm die Sicht; denn er war klein. “ (Lukas 19,3) Gerne hätte Zachäus auch einen Platz in der ersten Reihe gehabt, aber seine Körpergröße gestattet es ihm nicht. Vielleicht fühlt er sich auch innerlich zu gering, denn wenn er sich so umschaute, dann passte er nicht wirklich zu all den „frommen“ Menschen, die sich da heute versammelt hatten. Und außerdem: Was würden die denn sagen, wenn er sich plötzlich nach vorne drängte, um ganz in der ersten Reihe mit dabei zu sein? Sich klein fühlen Woran Minderwertigkeit hängt In Zachäus wird viel hineingelesen. Denn Minderwertigkeitsgefühle hängen nicht wirklich an der Körpergröße. Auch hat sein berufliches Machtgehabe vermutlich eher soziale Gründe als die Kompensation des physischen Kleinseins. Solche Deutungen sind unbedachtes Psychologisieren. Als geistlicher Begleiter und Therapeut habe ich Minderwertigkeitsprobleme bei unsportlichen Menschen stärker festgestellt als bei kleinen. Auch späte Entwicklung 6 Schwerpunkt Jesuiten n März 2014 n Zachäus

oder Unsicherheiten in der persönlichen und geschlechtlichen Identität spielen eine größere Rolle als der meist nebensächliche Faktor der physischen Körpergröße. Und es untergräbt ständig das Selbstwertgefühl, wenn Menschen, ob klein oder groß gewachsen, ihren Wert von der Anerkennung anderer und der Gesellschaft abhängig machen. Sie sind außenorientiert und vergleichen sich häufig mit anderen. Im Blick ist das Optimale. Im Vergleich sehen sie sich meist als Verlierer. Zachäus war physisch klein. Entscheidend wäre, ob er sich auch psychisch klein fühlte. Von scheinbaren Auswegen und Sackgassen Nehmen wir einmal an, Zachäus würde sich auch klein fühlen. Vielleicht kommt er sich vor wie eine Maus, getrieben von römischen Machthabern. Dann wieder wie ein Wurm im Staub, verachtet von Menschen und Gott, moralisch im Abseits. Tief unten ist er traurig und hat Angst. Darum sucht er den Rückzug von der Menge, in der Baumkrone will er sich verstecken. Da regt sich auch Wut: „Ich werd’s euch zeigen!“ denkt er bei sich. „Beim Zoll bin ich der Herr, und ihr bettelt um Nachsicht.“ Zachäus fühlt sich minderwertig vor Gott und den Menschen, und vielleicht verachtet er sich selbst. Negative Gefühle kommen auf: Trauer, Angst, Wut. Aus der drückenden Minderwertigkeit wählt er den Ausweg der Macht. Das ist die aggressive Reaktion. Er könnte auch Leistung und menschlichen Erfolg anstreben oder gesellschaftlich geschätzten Reichtum und akzeptierten Einfluss. Das wäre die defensive Reaktion. Hier wird scheinbar Gutes zur Abwehr negativer Gefühle und zur Befriedigung von Bedürfnissen verzweckt (und macht deshalb nicht froh). Zachäus könnte sich auch an einen mächtigen, bewundernswerten Verbündeten anlehnen (großer Bruder, toller Freund). Das wäre die abhängige Reaktion. Oder, wozu starke und lang gehegte Minderwertigkeitskomplexe manchmal führen, er könnte sich traurig verkriechen, sich in Selbstmitleid hängen lassen und schließlich ganz aufgeben. Das wäre die depressive Reaktion. Vier Reaktionen auf das Erleben von Minderwertigkeit, die zu Haltungen und Lebensweisen werden können. Zachäus verirrt sich in jene der Macht (aggressiv) und des Rückzugs aus der Gemeinschaft (depressiv). Du zeigst mir den Pfad zum Leben Als Jesus zu Zachäus aufblickt und ihn anspricht, fühlt er sich beachtet und angenommen. Und als Jesus sich zu ihm einlädt, fühlt er sich neu wertgeschätzt. Er entdeckt seine innere, gute Seite, seine Liebesfähigkeit. Das befreit ihn zur Gemeinschaft und zum Teilen mit anderen. Manchmal haben Menschen ein Handicap, das Minderwertigkeitsgefühle wecken kann. Der Weg zum Leben gelingt, wenn jemand auch seine guten inneren Werte entdecken und sich von Gott bedingungslos geliebt erfahren kann. Josef Maureder SJ 7 Jesuiten n März 2014 n Zachäus

„Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste.“ (Lukas 19,4) Eigentlich möchte Zachäus Jesus ganz genau sehen. Vielleicht ist auch für ihn etwas dabei. Aber so mitten unter den anderen „frommen“ Menschen, das ist ihm zu viel. Nur ein wenig gucken. Außerdem: Was könnten die anderen von ihm denken, wenn sie ihn entdeckten? Lieber auf Distanz bleiben, um gegebenenfalls noch rechtzeitig den Absprung zu schaffen. Gottsucher auf Distanz Der reiche Zollpächter Zachäus steigt auf einen Baum, um den vorbeikommenden Jesus sehen zu können. Dieses Bild hat mehrere Ähnlichkeiten mit dem modernen, religiös suchenden Menschen. Einerseits ist Zachäus vom religiösen Boden abgeschnitten. Die religiösen Menschen und Jesus sind ja unten. Mit denen hat er keine Gemeinschaft. Er kann sie zwar aus der Ferne beobachten, weiß aber nicht, wie sich die Gemeinschaft mit Jesus in der Menschenmenge anfühlt. So ist die Situation der meisten in Schweden, eines der säkularisiertesten Länder der Welt. Der durchschnittliche Schwede kennt das Christentum nur vom Schulunterricht oder durch die Medien, eine religiöse Praxis gibt es aber kaum. Die meisten Schweden waren noch nie im Leben in einem Gottesdienst außer bei Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen. Religion ist etwas Fremdes. Man hat nicht die nötigen sprachlichen und geistigen Mittel, um ins Gespräch mit den Religiösen am Boden zu treten, sondern bleibt im Baum stecken. Andererseits ist der Baum ein Symbol der Suche nach Gott. Man klettert auf den Baum hinauf, um den Himmel zu erreichen. Dies entspricht dem in den letzten Jahren gestiegenen Interesse vieler Schweden für Zen, Mindfulness, Yoga und geistliche Literatur im Allgemeinen. Zugleich will man aber nicht mit konventioneller Religiosität verknüpft werden. Man will keine religiösen Verpflichtungen übernehmen oder Wahrheitsansprüche erheben, sondern man bleibt – in diesem Sinn ähnlich dem Zachäus – auf Distanz. Wie im biblischen Bericht spielen scheinbare Zufälle eine Rolle bei der Bekehrung der meisten Menschen. Jesus kommt am Baum vorbei und spricht Zachäus an. Er hätte ihn jedoch nicht ansprechen müssen. An die meisten Menschen in Jericho hat er sich nicht direkt gewandt. Durch ähnliche Zufälle kommen viele zum Glauben. Aus Zufall begegnet man einem Katholiken, geht in die Kirche hinein oder liest einen Artikel. Zum Teil besteht die Mission der Jesuiten in einem Land wie Schweden darin, solche Zufälle zu vermehren. Mikael Schink SJ 8 Schwerpunkt Jesuiten n März 2014 n Zachäus

„Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf.“ (Lukas 19,5) Zachäus fühlt sich durch den Blick Jesu erkannt, aber nicht entlarvt. Es ist ein wohltuender Blick. Ein Blick, der ihn nicht misst, bewertet oder abstempelt. Dieser Blick dringt durch die Panzer seiner Stellung und seines Gehabes. Zachäus fühlt sich achtsam wahrgenommen mit seinen Wunden und seinem Kampf. Sieht dieser Jesus mehr Möglichkeiten menschlichen Wachstums in ihm als er selbst? Bildung braucht „an-sehen“ Zwei Punkte. Ein Gebet: 1. Wir ahnten es alle. Wenn auch vielleicht nur unthematisch, so war es doch immer schon irgendwie klar: Das Wichtigste für den Lernerfolg einer Schülerin/eines Schülers ist der Lehrer oder die Lehrerin. Neben solidem Fachwissen und der Fähigkeit zu einer klaren Rahmengebung ist der entscheidende Faktor das Maß des entgegengebrachten, aufrichtigen Respektes! Das Wort Respekt, „respicere“, bedeutet in etwa: „berücksichtigen“, „beachten“, „noch einmal genau hinschauen“. Erlebt ein Lernender, dass ein Lehrender ihn um seiner selbst willen beachtet und ihm Wertschätzung entgegenbringt, kann dies angstbindend wirken und vollkommen neue Blickwinkel entfalten helfen. 2. Im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung eines Neugeborenen für die psychoanalytische Ausbildung wurde ich Zeuge einer Situation, die mich tief bewegte: Im Laufe einer Beobachtungsstunde wurde der Säugling immer unruhiger bis zu einem unerträglichen Schreien. Nach einer Weile stillte die Mutter ihr Kind und legte es dann wieder in seine Wiege. Kaum in der Wiege, begann es erneut herzzerreißend zu schreien. Nun geschah etwas zutiefst Anrührendes: Die Mutter beugte sich zum Kind und dachte halblaut vor sich hin, wie es ihm wohl ergehe, was wohl der Grund dafür sei, dass es so schreie. Sie nahm es, hielt Rücken und Köpfchen mit Unterarm und Hand. Das Kind, welches die Augen bis dahin geschlossen hielt, öffnete seine Augen und die Blicke der beiden berührten sich. In diesem „Augen-Blick“ stellte sich Ruhe und Frieden ein. Die Mutter legte das Kind wieder in die Wiege, und es brabbelte und spielte wie glücklich beseelt. Angesichts dieser beiden Punkte und im Blick auf die so eindrückliche Begegnung zwischen Jesus und Zachäus können dem Betenden diese Worte bleiben: „Herr, du allein weißt, wie mein Leben gelingen kann. Lehre mich das Geheimnis zu verstehen, wie in der Begegnung mit dir, wie in deinem Anblick und in deinem Wort, Menschen sich erkannt haben. Hilf mir zuzulassen, was in mir Mensch werden will.“ (Peter Köster) Marco Mohr SJ 9 Jesuiten n März 2014 n Zachäus

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„… und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter!“ (Lukas 19,5) Zachäus hat die Distanz gewählt. Viele hätten ihn dort sitzen lassen. Jesus aber sieht den Wunsch nach Berührung und Kontakt, der in der Wahl des Standortes liegt, und lädt Zachäus ein, sich berühren zu lassen. Herunterkommen Ich mochte Zachäus und die Geschichte von ihm stets sehr gern: Da ist dieser junge Mann, der mehr möchte, als ihm von seiner „Stellung“ her zustand, dem der Blick verstellt war durch die Großsubjekte in der ersten Reihe. Und mir gefiel natürlich die Pfiffigkeit und der Mut, vorauszulaufen (allein das schon ein starkes Stück!) und auf den Baum zu klettern. Da ist ein Gespür für den Weg, den Jesus gehen wird. Aber Zachäus kann (noch) nicht Teil dieses Weges sein, obwohl er es doch eigentlich so sehr möchte. Er möchte schauen und riskiert bewusst, gesehen zu werden. Da wird er gesehen – und seine Sehnsucht findet Antwort; Jesus kehrt bei ihm ein. Ich lese und betrachte diese Geschichte heute ganz anders. Das liegt nicht daran, dass die Exegeten wesentlich Neues über das Lukas-Evangelium entdeckt hätten, sondern dass ich seit dem Frühjahr 2010 einen neuen Blick auf meine Gefährtenschaft mit dem Herrn habe, eine neue Wahrnehmung von Oben und Unten, von Macht und Ohnmacht, von Nachfolge und Kirche. Ich entdecke neu und anders, wie Jesus mich anblickt „da oben“ auf dem Baum. Es klingt stark und vielleicht zu pathetisch, aber es gibt eine Art „Bekehrung“ meines Blicks auf diese Szene an der Straße in Jericho. Ich habe die Monate nach dem Bekanntwerden des vielfachen Missbrauchs in unseren Kollegien oft als „die längsten Exerzitien“ meines Lebens bezeichnet. Neben Krisenmanagement, Aufklärungsarbeit, Prävention, Kommunikation nach innen und außen ist das Fürwahrnehmen des Missbrauchs ganz wesentlich auch ein geistlicher Prozess. Der Blick auf die Betroffenen und das Wahr-Nehmen ihrer Geschichte(n) bedeutet einen wirkmächtigen Perspektivwechsel. Über Wochen und Monate und eigentlich noch immer höre ich den Ruf Jesu an mich, an uns Jesuiten und in die Kirche hinein: „Komm schnell herunter!“ ... von deinem Baum, von deinem Hohen Ross, von deiner Selbstgewissheit und Abgehobenheit. Stelle dich deiner Verstrickung und deiner Schuld, deiner Blindheit. Drei Kapitel weiter findet sich die wunderbare Szene der Verleugnung Jesu durch Petrus. Noch während der Hahn zum dritten Mal kräht, „wandte sich der Herr um und blickte Petrus an. Und Petrus erinnerte sich ... Und er ging hinaus und weinte bitterlich.“ (Lk 22,54-62) Johannes Siebner SJ Schwerpunkt 11 Jesuiten n März 2014 n Zachäus

„… denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein. “ (Lukas 19,5) Jesus lädt sich ein. Er lässt nicht locker. Nicht irgendwann, heute, jetzt möchte er mit Zachäus gehen, ihm begegnen. Jesus möchte diesen Menschen kennenlernen, der so gar nicht in die „ehrenwerte“ Gesellschaft passt. Wo er wohnt, wie er lebt und all die anderen, mit denen er verkehrt. Ein Wagnis auf beiden Seiten. Ich muss heute bei dir zu Gast sein Vor 25 Jahren, am 2. März 1989, bekam ich die Diagnose HIV positiv aus heiterem Himmel. Für mich brach eine Welt zusammen, ich hatte keine Hoffnungen und keine Ziele mehr. Das einzige, was ich damals über diese Krankheit wusste, war, dass man daran stirbt, aber nicht, wie lange das geht. Damals war in Deutschland HIV noch nicht so verbreitet. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann hatte mich diese Krankheit auch nicht sonderlich interessiert. Mich trifft es doch nicht – und jetzt hat es mich getroffen. Ich lebte nach meinem Testergebnis versteckt, die einzigen Menschen, die davon wussten, waren meine Frau, sie ist zum Glück negativ, unser Ortspfarrer und die Ärzte. Nach gut vier Jahren entschloss ich mich, an die Öffentlichkeit zu gehen. Warum sollte ich mich verstecken, Menschen mit Krebs verstecken sich auch nicht. Wir leben auf dem Land in einem kleinen Ort. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Aber mit HIV/Aids hier zu leben, war ein Wagnis. Es gelang, was vielleicht daran lag, dass ich die Initiative ergriff und nicht der Zufall das Geheimnis an den Tag brachte. Ich bereute diesen Schritt nicht ein einziges Mal. Wir leben immer noch hier, und es geschah nichts von all den anfänglichen Befürchtungen und Ängsten. Natürlich wird auch hinter meinem Rücken geredet, aber was geht mich das Geschwätz an? Ich lebe ganz offen mit HIV, merke aber auch den Unterschied zwischen HIV und Krebs. 2005 bekam ich die Diagnose Krebs. In den Jahren mit Krebs wurde ich schon öfter gefragt, wie es mir geht, als in den ganzen Jahren mit HIV. Dass es mir gut geht, hängt sehr viel damit zusammen, dass ich mich nicht mehr verstecke. Wie oft bin ich mir schon vorgekommen wie Zachäus. Er, der auf einen Baum stieg, um Jesus zu sehen, um zu sehen, wer dieser Mensch ist, über den so viel geredet wird. Und Jesus ruft ihn vom Baum herunter, weil er bei ihm Gast sein muss, bei ihm einkehren möchte. Für mich ist der Glaube an Jesus Christus durch nichts zu ersetzen. Der Glaube an Gott trägt mich und ist mindestens so gut für meine Gesundheit wie die Medikamente, die ich jeden Tag schlucken muss. Durch ihn bekam ich die Kraft, so zu leben, wie ich jetzt lebe, ohne Ängste, aber mit sehr viel Hoffnung. Manfred Weber 12 Schwerpunkt Jesuiten n März 2014 n Zachäus

„Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf.“ (Lukas 19,6) Während Zachäus heruntersteigt, fragt er sich noch: Weiß der, wen er ruft? Aber dann freut er sich einfach und bereitet ein Fest, dass die Balken sich biegen. Das Fest der Sünder Ich bin überzeugt: Es ist echt und nicht das in kirchlichen Kreisen weit verbreitete Geschwätz, eine leere Phrase, die gefallen will. Papst Franziskus meint, was er sagt, da steckt kein Kalkül dahinter. Auf die Frage meines Kollegen Antonio Spadaro SJ von der Jesuitenzeitschrift „La Civiltà Cattolica“: „Wer ist Jorge Mario Bergoglio?“ folgte zuerst ein schweigender Blick. Und dann, frank und frei: „Ich bin ein Sünder.“ Der Papst: ein ganz normaler Mensch wie ich – ein Sünder? Das liest man nicht gerade täglich. Vielleicht hören wir deswegen (noch) hin. Lernen wir daraus? Was löst das bei mir aus? „Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat“: Die Wiederholung ist Eingeständnis und Bekenntnis. Nur auf meine Abgründe festgelegt zu werden – das hielte ich gar nicht aus, engherzig und skrupulös, wie ich auch sein kann, böse, falsch, aggressiv. Aber mich trotzdem angeschaut zu wissen und anerkannt fühlen zu dürfen – das tröstet, es richtet auf, holt mich auf den Boden der Wirklichkeit herunter: Ich bin in Jesu Blickfeld, darf ihm auf Augenhöhe begegnen, obwohl ich ein immer wieder strauchelnder, sündiger Mensch bin – und bleibe. Und als solcher ruft Jesus mich. Der heutige Papst war 1974/75 in Rom als blutjunger Provinzial auf der 32. Generalkongregation der Jesuiten dabei. Im dort verabschiedeten Dekret 2 heißt es: „Was heißt Jesuit sein? Erfahren, dass man als Sünder trotzdem zum Gefährten Jesu berufen ist.“ Auf dieses „trotzdem“ kommt es an. „Wir sind Menschen unter Spannung … Wir sind klein, wir sind Sünder, wir sind Egoisten, aber trotzdem wollen wir ein Leben der großen Sehnsüchte leben“: Auch diese Worte stammen vom Papst. Der Realität des Lebens lässt sich nicht ausweichen. Verdrängen ist eine Weise, damit umzugehen, sich verstellen, unbarmherzig, hart werden – all das ist Christen nicht fremd. Wir sind „Sünder“. Die Glaubwürdigkeit der Kirche hängt auch damit zusammen, ob wir uns den Zwiespältigkeiten des Lebens stellen. Die Alternative ist Hochmut und Scheinheiligkeit. Gott vergibt dem Sünder, der einsieht und umkehrt. „Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat.“ Ohne diesen Blick hätte ich keine Chance. Und könnte kein Leben der großen Sehnsüchte führen. Andreas R. Batlogg SJ 13 Jesuiten n März 2014 n Zachäus

Zachäus im Mediendorf Die Zachäusgeschichte enthält zwei Momente, die unserer postmodernen, relativistischen Kultur besonders fremd sind: Erstens scheint sich Zachäus nach einer wahreren Dimension zu sehnen jenseits dessen, was er hat oder selbst schafft, und das trotz seines materiellen Reichtums. Zweitens wird er verändert in der Begegnung mit Christus, wo er so etwas wie eine erste Exerzitienwoche erlebt. In diesem Licht erfährt er Jesus, nicht als Moralverkünder, sondern als das menschgewordene Wort Gottes. In dieser Begegnung werden Zachäus seine eigenen Sünden klar. Von der Barmherzigkeit Jesu angesprochen kann er sie verlassen und seine Opfer entschädigen. Eine Hauptbotschaft unserer heutigen Medien liegt darin, dass materieller Reichtum und Ruhm an sich das Glück sind. Ja, „Als die Leute das sahen, empörten sie sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt. “ (Lukas 19,7) Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Kunde. Bald hat sie die ganze Stadt erreicht. Alles ist in Aufruhr. Die rechtschaffenen Leute können da nur den Kopf schütteln. Sie zerreißen sich das Maul. „Das ist doch die Höhe. Über wen der beiden man sich mehr aufregen muss, diesen Zachäus mit seiner Dreistigkeit oder Jesus mit seiner Unbedarftheit? Auf alle Fälle: das ist der Gipfel! Skandal!“ Es geht hoch her. „Da war doch diese Geschichte mit Jesus in der vergangenen Woche… Ich wusste ja immer schon und auch meine Verwandten sagten bereits damals schon: Kann denn aus Nazareth etwas Gutes kommen? Recht hatten sie…“ „Und auch dieser Zachäus! War da nicht vor kurzem erst zu lesen…“ Voll Unmut ruft einer vom Balkon: „Verbieten sollte man diese Wanderprediger. Nichts als Unruhe bringen sie… Und diese Zöllner gleich dazu. Lumpenpack, Gesindel…“ „Gut, dass wir nicht dazugehören“, meint eine fromme Seele. „Einfach enttäuschend! Also, dieser Jesus, der kann mir gestohlen bleiben. Wie gut, dass ich ein anständiger Mensch bin und nicht so wie dieses Pack. Und dann wollen sie auch noch unsere Vorbilder sein und verkehren mit solchen Leuten. Wo sind wir nur hingekommen? Aber mal ganz ehrlich: Wir wussten das doch immer schon.“ Zachäus erfährt Jesus nicht als Moralverkünder, sondern als das menschgewordene Wort Gottes. 14 Schwerpunkt Jesuiten n März 2014 n Zachäus

darin liegt die größte „Honour“ der Zeit, immer wieder dargestellt und angebetet zu werden. Darüber hinaus darf ein jeder selbst das Richtige und Falsche in seiner „eigenen Welt“ definieren. Es scheint, dass wir in Bezug auf unser Verhalten immer das Richtige tun und nichts verändern müssen, solange wir selbst zufrieden sind. Gleichzeitig wird immer mehr von unserem menschlichen Handeln in all seiner Nacktheit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, als Unterhaltung für andere und nicht selten in Form von „Shame“. RealityShows im Fernsehen sind ein konkretes Beispiel. Das Publikum wird unterhalten und die Medien verdienen Geld, wenn Menschen von Reichtum und Ruhm angezogen dazu angeregt werden, sich selbst und andere offen zu erniedrigen. Noch ein typisches Beispiel aus meiner Heimat Schweden. Vor ein paar Jahren sangen eine berühmte Sängerin und ein bekannter Sänger ein Duett in einem populären Fernsehprogramm. Die Medien hatten lange vorher darüber geklatscht, dass beide miteinander außerhalb ihrer Ehe ein Verhältnis hätten. Vor dem aktuellen Auftritt waren die Medien mit schlecht verstecktem Spott über diese alte, angebliche Geschichte gefüllt. Hätte hingegen jemand einen Artikel über das Phänomen Untreue als etwas moralisch Verwerfliches geschrieben, das der menschlichen Würde widerspricht, hätte es Ärger erregt. „Das kann man nicht so allgemein sagen! Das ist eine Privatsache! Viele moderne Paare wollen es so haben!“, hätte es aus einflussreichen Medien geheißen. Im Namen der „Shame“ in der Unterhaltung zu moralisieren und gleichzeitig der Moral Widerstand zu leisten, ist grausam und riskiert, viele in eine falsche Lebensrichtung zu führen. Es gibt aber eine Logik: Aufgrund abwesender, moralischer Wahrheiten können wir ja miteinander umgehen, wie wir wollen. Wenn für ihn die Standards des heutigen Mediendorfes gegolten hätten, wäre Zachäus dann überhaupt auf den Maulbeerfeigenbaum gestiegen? Wäre er nicht eher in seiner selbstkonstruierten Blase von Sinn und Moral geblieben – vielleicht ab und an verrissen vom Getratsche der Menschen, die Unterhaltung suchen? Hätten wir dann von seiner Bekehrung und Rettung gehört? Thomas Idergard Was wäre, wenn damals schon die Standards der modernen Medien gegolten hätten? 15 Jesuiten n März 2014 n Zachäus

„Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück.“ (Lukas 19,8) Die Begegnung mit Jesus hat für Zachäus viel verändert. Keine Abwertung, Bloßstellung, Verurteilung… Nichts davon ist geschehen. So kann auch er mit neuen Augen auf sein Leben blicken. Die Menschen, die Geschichte mit ihnen und seine Zukunft erscheinen in einem neuen Licht. Es ist, wie es ist, aber es muss nicht so bleiben, das entdeckt Zachäus für sich. Und er kann etwas ändern, er, der Kleine, Verachtete von damals. Heute hat er Achtung und Rückgrat, der Mann mit dem großen Herz… Wiedergutmachung „Lasst uns schauen: dankbar rückwärts, liebevoll seitwärts, mutig vorwärts und gläubig aufwärts“ – um versöhnt leben zu können, braucht es diese vier Blickrichtungen: Dankbar rückwärts: Stellen Sie sich vor, Sie könnten Ihre „Life-Line“ bei Facebook noch einmal neu schreiben und alles, was sich in der Realität als Luftnummer erwiesen hat, auslöschen. Oder Ihr Leben wäre auf einer Schultafel aufgeschrieben und Sie hätten die Möglichkeit zu löschen, was Ihnen nicht passt. Wenn Sie nichts löschen, weil alles zu Ihnen gehört, wie es ist – dann sind Sie mit Ihrer Biographie versöhnt. Liebevoll seitwärts: Da entdecken Sie Ihre Freunde und Feinde, die wichtigen und nahen Menschen und die, die Sie verletzt und die Ihnen geschadet haben. Versöhnt sind Sie, wenn Sie keinen Groll mehr hegen. Das bedeutet nicht, dass Sie alle lieben „müssen“. Ich soll meinen Nächsten lieben „wie mich selbst“, aber nicht „mehr als mich selbst“. Mutig vorwärts: Versöhnte Menschen schauen nicht in erster Linie und auch nicht mehr übermäßig auf ihre Fehler und Schwächen. Sie sehen ihr Leben als eine Aufgabe an, die es zu bewältigen gilt. Sie stellen sich realistischen Herausforderungen, an denen sie wachsen können. Sie versuchen auch nicht mehr ängstlich, Fehler zu vermeiden, weil sie wissen: Wenn sie durch den Schlamm gehen, können sie nicht vermeiden, ein paar Spritzer abzubekommen. Gläubig aufwärts: Versöhnte Menschen sind dankbar. Hinter der Dankbarkeit für ihr Leben erahnen sie Gott als den Urheber alles Guten. Es gelingt ihnen, ihr gesamtes und vollständiges Leben mit Gott in Berührung zu bringen. Sie haben sich davon verabschiedet zu meinen, sie könnten die unlösbaren Rätsel des Lebens irgendwann einmal lösen. Ihr Leben ist erfüllt von der Kraft für das Gute und stark in seiner Ausrichtung auf die Ewigkeit. Hermann Kügler SJ 16 Schwerpunkt Jesuiten n März 2014 n Zachäus

„Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist. Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist. “ (Lukas 19,9f) Zachäus ist das Heil geschenkt worden, der Blick Jesu hat ihn heil gemacht und ihm Versöhnung geschenkt. Aber das Evangelium berichtet uns nichts vom Tag danach. Was passiert in dem Moment, wenn das Fest vorbei ist, wenn die großen Gefühle sich legen und der Alltag zurückkehrt? Der Tag danach Variation 1 Die ganze Nacht über geisterten Fetzen des vergangenen Tages durch Zachäus’ Traum. Wie gerädert erwachte er durch Stimmen vor seinem Haus. Die ersten Händler hatten sich bereits am Zoll versammelt und schimpften lautstark. Rasch stand Zachäus auf und eilte hinaus. Irgendwie ging es nicht ganz so. Die Worte, die Begegnung… Doch das Kreischen eines alten Marktweibes holte ihn zurück. So begann er seine Arbeit. Ab und an tauchte noch ein Bild von gestern auf. Doch je weiter der Tag voranschritt, desto mehr kam er zur Überzeugung, dass irgendjemand ja diese Arbeit machen musste. Und wenn er es nicht tat, dann ein anderer. Er hatte so viel für diesen Posten investiert. Dass er bei diesem Beruf auch noch gut verdiente, das konnte nur recht sein, bei all dem Ärger, den er mit diesem „Gschwerl“ den ganzen Tag über hatte. Claus Pfuff SJ Variation 2 Als Zachäus aufwachte, war er immer noch Zöllner. Er frühstückte mit seiner Frau. Sie setzte um der Familie willen alles daran, dass ihr Mann in seiner Begeisterung für diesen Wanderprediger nicht überschnappte. Doch als Zachäus dann den schweren Schlüssel ins Schloss des gut gesicherten Zollhauses stecken wollte, schoss es ihm durch den Kopf: Die Hälfte des Besitzes den Armen! Das zuviel Verlangte vierfach zurück! – Das hatte er Jesus versprochen. Aber dann könnte er gar kein Zöllner mehr sein. Er würde das System sprengen! Und schon kamen ihm Einwände: Wer sind denn die Armen? Wie finde ich die, denen ich etwas zurückgeben soll? Zachäus setzte sich in den Schatten vor seine Tür. Auf einmal sah er seinen Nachbarn. Lange hatte er nicht mehr auf diesen einfachen Mann geachtet, der keine Zölle zahlen musste. Bernhard Knorn SJ 17 Jesuiten n März 2014 n Zachäus

Variation 3 Die Beine fühlen sich wacklig an, als Zachäus am nächsten Morgen aufsteht. Mit dem Aufwachen bekommt er schlagartig Angst vor der eigenen Courage gestern. In seinem Bauch fühlt er sie noch, diese Leichtigkeit und diesen Frieden, die in ihm eingekehrt waren in dem Moment, als er unter dem Blick Jesu zugegeben hatte: Ja, mein bisheriges Leben war Mist. Ich habe immer so getan, als wäre alles in Ordnung, als wäre es das Normalste der Welt, anderen das Geld abzunehmen, als träfen mich die Flüche und Verwünschungen der Reisenden nicht. Die Verachtung meiner Mitmenschen habe ich unter Neid verbucht und so getan, als ginge mich das nichts an. Alles Lüge! Ich war blind für mich selbst. Und jedes Jahr hat es mich mehr Kraft gekostet, diese Lüge zu leben. Und jetzt? Plötzlich spüre ich die Blicke aller auf mir, als stünde das allzu lang Verborgene wie eine Schrift auf meiner Stirn. Zurück will ich nicht mehr. Aber wie weiter machen? Vielleicht erst einmal den Schlüssel zum Zollhäuschen dem Verpächter zurückgeben. Und dann? Dann vielleicht heim in das Dorf meiner Eltern, meine Wurzeln suchen, da nochmal anfangen, wo mein Leben den falschen Abzweig genommen hat? Tobias Zimmermann SJ Und Deine Variation? 18 Schwerpunkt Jesuiten n März 2014 n Zachäus

Anschaulich sich vorstellen, wie Christus unser Herr gegenwärtig und ans Kreuz geheftet ist, und ein Zwiegespräch beginnen. Wie er als Schöpfer gekommen ist, um sich zum Menschen zu machen, vom ewigen Leben zum zeitlichen Tod und so für meine Sünden zu sterben. Ebenso dann den Blick auf mich selber richten: was ich für Christus getan habe, was ich für Christus tue, was ich für Christus tun soll; und indem ich ihn derartig schaue und so ans Kreuz geheftet, überdenke ich das, was sich gerade anbietet. Das Zwiegespräch vollzieht sich durch eigentliches Sprechen, so wie ein Freund zum andern spricht oder ein Diener zu seinem Herrn, bald um irgendeine Gnade zu erbitten, dann sich wegen eines begangenen Fehlers anzuklagen und schließlich seine Anliegen mitzuteilen und für sie Rat zu erbitten. Und ein Vaterunser beten. (Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, 53-54) Lass uns reden, Jesus Ignatius erwartete in seinen Gesprächen mit Gott vieles: Rat, Bestätigung, Verzeihung, einen Ort zu haben für seine Bitten und Alltagssorgen, Erkenntnis und die Erfahrung von Barmherzigkeit. Wie Gott ihm antwortete, können wir aus seinen Tagebüchern erahnen. Ignatius beschreibt eine Art inneren Klang, der ihn zu Tränen rührt und ihm durch ein Wachsen an Glauben, Hoffen und Lieben in seinem Tun Richtung gab. Trost nannte er das. Und wenn er das Gegenteil verspürte, sprach er von Trostlosigkeit. In diesen inneren Erfahrungen sieht er die Antwort Gottes auf unser Sprechen und Beten. Für mich war das lange eine trockene und sehr rationale Angelegenheit. Besser spät als nie: Irgendwie war mir bis zu einem Mediationsgang durch die Hitze der australischen Sonne in der Halbzeit der Großen Exerzitien eine kleine Anweisung im Exerzitienbuch entgangen. Zu Beginn einer Gebetseinheit empfiehlt Ignatius: „Lass für die Dauer eines Vaterunsers für dich zur Wirklichkeit werden, dass Gott bei dir ist, dich ansieht. Nimm wahr, wie du vor Gott stehst und was in diesem Blick liegt.“ Vielleicht galt für mich, wie für Zachäus, dass ein distanzierter Platz besser passt, solange man die versteckte Angst in sich trägt, dass man Gott aus verschiedensten Gründen nicht zu nah unter die Augen kommen sollte. Die Sonne brannte, und ich war durstig. Ich hatte mich im Weg und in der Zeit verschätzt. Keine gute Idee! Vieles trieb mich um und buchstäblich in diese Halbwüste. Bis mir im roten Staub im Schatten eines Eukalyptusbaumes plötzlich ein Licht aufging. „Es ist gut, in seinem Blick zu sein. Er ist da. Er hält mich. Es ist wirklich wahr, dass ich sein darf, wie ich bin.“ Und plötzlich war so vieles anders. Jesus begleitete mich anders. Und die Fragen des Begleiters öffneten neue Wege: „Wie hört Gott dir zu?“, „Wie ist Gott konkret dabei für dich präsent?“, „Wie fühlt Gott zu der Sache?“ oder „Was würde Jesus dir dazu sagen?“ 19 Jesuiten n März 2014 n Zachäus

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Nicht dass sich das verändert hätte, was mich umtrieb, aber da war plötzlich eine Distanz dazu und das Gefühl, dass Gott all das trägt. Ich musste an Pater Grotz denken, der das Kyrie in der Marienkirche in Würzburg immer begann mit „Ja, so sind wir. Bist selber schuld, Gott. Hast uns ja so geschaffen. Dann wirst du es schon so wollen. Erbarm dich!“ Es tat plötzlich gut, wie Zachäus ins Blickfeld des Herrn und vom Baum kommen zu dürfen. Gottes Blick ist voller Barmherzigkeit. Die Veränderung betraf dann auch den Abschluss der Meditationen – das Kolloquium. Bisher war es eher ein Monolog – meinerseits. Das Kolloquium wurde wirklich ein Gespräch – wie eigentlich die ganze Meditation. „Herr, schau, das war da und das hat mich bewegt. Ich meine, das bedeutet für mein Leben …“ Das Gespräch mit Gott oder Jesus am Ende der Meditation lebt davon, dass ich einfach erzähle. Sie wissen, erzählen ist nicht erzählen. Es geht nicht darum, vor einem gelangweilten Prüfer Inhalte abzuspulen. Das Kolloquium entfaltet sich, wenn man Gott – so wie seinem besten Freund – ganz ohne Scham sein Herz öffnet und ohne Fassade Einblick gibt – und dann zuhört. Denn Jesus antwortet. Wenn ich mich öffne und ganz in der Wahrnehmung bin, gibt es ein Echo. Als ob ich wahrnehmen könnte, wie das Erzählte ankommt, wie Gottes Blick sich verändert, während ich spreche, und dann tauchen innere Bilder oder Sätze oder Gefühle auf. Fast so, als ob Gott sagen möchte … Manchmal höre, spüre oder fühle ich ein „Also schau das doch mal aus meiner Perspektive an!“ oder ein „Das ist stimmig!“ oder ein „Bist du dir wirklich sicher?“ Die Antworten Gottes im Gespräch haben einen herausfordernden Aspekt. Mehr als einmal hat mich mein Gesprächspartner ermutigt, Dinge zu tun, denen ich abwehrend oder ängstlich gegenüber stand, oder solche zu lassen, die bis gerade noch eine so gute Idee zu sein schienen. Ist das Selbstbetrug? Oder Selbstsuggestion? Darf ich meiner Erfahrung trauen? Auf alle Fälle habe ich es bisher nicht bereut, diesen Blick Gottes zu suchen und im Erzählen mein Leben mit ihm zu wagen. Ich meine zu ahnen, warum wir dem Leben trauen dürfen, und dass Gott es wirklich mit uns wagt. Johann Spermann SJ Schwerpunkt 21 Den Blick Gottes suchen und im Erzählen das Leben mit ihm wagen.

Vom Anfangen und Aufhören Geistliche Übungen brauchen ein Anfangen, aber auch ein Aufhören. Ignatius nennt das „festgesetzte Zeiten“. Das klingt eigentlich selbstverständlich und kinderleicht, aber viele Menschen haben damit mehr und mehr Schwierigkeiten. Möchte man sich eine Zeit für sich selbst und für Gott nehmen, dann heißt es, andere Dinge auszuschalten. Man muss also bewusst einen Anfang setzen. Damit überlasse ich nicht mehr das Feld allen anderen, die sich in meine persönliche Zeit einmischen, bewusst oder unbewusst. Ich entscheide selbst, wer Herr über meine Zeit ist, und damit auch über meine Gedanken, Impulse, Tätigkeiten und Verbindungen. Es sind letztlich kleine Freiheitsübungen. Wer bereits an dieser Stelle versucht, Klarheit zu schaffen, wird entdecken, wie mühsam das ist. Jeder, der sich darauf einlässt, einen bewussten Anfang zu setzen, wird entdecken, wie viel dem innerlich und äußerlich entgegensteht. Das gilt genauso für das Aufhören. „Festgesetzte Zeit“ heißt ja, dass man selbst entscheidet, wie lange eine Besinnungszeit dauern soll. Es ist aber notwendig, den Zeitpunkt vor Beginn festzulegen. Denn wie oft ist man versucht, auf die Uhr zu schauen oder vorher aufzuhören, weil es ja doch nicht so viel bringt! Viele innere Impulse wollen einen von dem, was man entschieden hat, wegbringen. Legt man den Zeitpunkt des Aufhörens nicht fest, kann es zum Gegenteil von dem führen, was man sich vorgenommen hat. Ich habe erlebt, dass Menschen in Exerzitien am liebsten nicht mehr aufhören wollten. Sie wollten lieber in den schönen Betrachtungen und Gebeten verweilen. Aber es führt dann dazu, dass alles ineinanderfließt – die Gebetszeit, die Erholung, die Konzentration und die Früchte dieser Gebetszeit. Anfangen und Aufhören geben eine deutliche Struktur. Das gilt nicht nur für Exerzitien, sondern auch für Alltagssituationen. Ich entdecke bei mir selbst, wie es die Konzentration auf eine Sache oder einen Menschen fördert, wenn ich dem Leben eine Struktur gebe. Ich trete bewusst aus einer Tätigkeit heraus und schließe sie ab. Ignatius nennt diese Weise „sich absondern“, und das heißt „sich trennen“. Hans Urs von Balthasar übersetzt das Wort mit „sich abscheiden“, in die „Abgeschiedenheit“ gehen. Ignatius beschreibt mehrere Vorteile in seinem Exerzitienbuch: „Er (d.h. der oder die Übende) gebraucht seine natürliche Fähigkeit freier, um mit Eifer zu suchen, was er sich wünscht.“ Und: „Je mehr sich unsere Seele allein und abgesondert findet, umso geeigneter wird sie, sich ihrem Herrn und Schöpfer zu nähern und zu ihm zu kommen.“ (EB Nr. 20) Es klingt paradox, aber es ist wahr: Wenn ein Mensch aus der alltäglichen Kom- 22 Jesuiten n März 2014 n Zachäus Geistlicher Impuls

23 munikation heraustritt, wird die innere besser, lebendiger, fließender. Die Beziehung zu Gott und den Menschen wird neu möglich. Unklarheiten, Unordnung und Überlagerungen durch Nebensächlichkeiten werden geringer. Der Alltag mit seinen Aufgaben und das Denken werden konzentrierter und effektiver. Folgende Übung des Anfangens und Aufhörens möchte ich dazu vorschlagen: 1. Versuchen Sie einmal eine Zeit für sich und eine persönliche Besinnung sehr exakt festzulegen, auch wenn es nur fünf Minuten sind. Gehen Sie bewusst und entschieden in diese Zeit hinein. Ein eigener Ritus kann helfen, diesen Moment zu gestalten. 2. Versuchen Sie die Übung mehrmals in der Woche einzurichten. Entscheiden Sie sich für einen bestimmten Tag. Bekannte Formen sind eine Auszeit oder ein sogenannter „Wüstentag“. 3. Genau wie den Anfangspunkt gestalten Sie deutlich und bewusst den Endpunkt, das Herausgehen aus einer Übung oder Tätigkeit. Zum Schluss: Vergessen Sie dabei nicht ihren Humor, sonst führt es zu einer neuen Sklaverei. Ein alter Mann, der an „Exerzitien im Alltag“ teilnahm, erzählte mir, er habe alles vorbereitet gehabt für seine Übung; das Telefon war abgestellt, die Haustürklingel ebenso, er hatte sogar seinen Nachbarn informiert, aber eines hatte er vergessen: seine Katze – und die wollte nun nicht gerade eine stille Zeit haben wie ihr Herr. Christoph Kentrup SJ Foto: Weigand

200 Jahre Wiedererrichtung des Jesuitenordens (1814-2014) Vom Vatikanum I zum Vatikanum II Jesuiten als Konzilsbegleiter Konzilien sind Sternstunden der Kirche und der Theologen. Und an beiden Vatikanischen Konzilien haben deutsche Jesuiten führend mitgewirkt. Beim 1. Vatikanum (1869/1870) stand nicht gleich zu Beginn die Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes auf dem Programm. Durch eine Verkettung bewusster Strategie einer kleinen Gruppe auf dem Konzil (bei der Jesuiten führend mitspielten) mit den Mechanismen außerkonziliarer Polarisierung der öffentlichen Meinung kam es jedoch dazu. Und speziell deutsche Jesuiten haben hier sowohl als Theologen wie als Meinungsmacher in der Öffentlichkeit eine führende Rolle gespielt, und zwar samt und sonders als Verteidiger der päpstlichen Unfehlbarkeit. Aber der Kampf wurde nicht nur in der Konzilsaula ausgefochten. Während vor allem der Münchner Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger die deutsche akademische Öffentlichkeit gegen die päpstliche Unfehlbarkeit mobilisierte, kämpften die Jesuiten aus Maria Laach in einer eigenen Schriftenreihe für das Konzil, den Papst und seine Unfehlbarkeit. Die damaligen Jesuiten lebten, schon weil sie selbst immer wieder angegriffen und verfolgt wurden, aus einer Mentalität, in der das Zusammenstehen gegen eine feindliche Welt, und dies in vorbehaltloser Solidarität mit dem Heiligen Vater, alles war. Am Vorabend des 2. Vatikanums (19621965) bestand eine völlig veränderte Situation. Gerade deutsche Jesuiten waren in den vielen Bereichen zu Trägern einer grundlegenden Erneuerung geworden. Zu nennen ist hier vor allem Augustin Bea. Zusammen mit ihm waren weitere deutsche Jesuiten beim Konzil als Berater von Bischöfen, später auch als offizielle Konzilstheologen („Periti“) beteiligt. Karl Rahner, Otto Semmelroth und Alois Grillmeier haben einen wichtigen Anteil an den Konzilskonstitutionen „Lumen Gentium“ über die Kirche sowie „Dei Verbum“ über die Offenbarung. Aber Jesuiten standen im 2. Vatikanum nicht nur auf der „progressiven“, sondern auch auf der „konservativen“ Seite. Und so ist auch an der umstrittenen „Nota explicativa praevia“ der Kirchenkonstitution, die noch einmal die souveräne Vollmacht des Papstes betont, ein deutscher Jesuit mit beteiligt: Wilhelm Bertrams, Kirchenrechtler an der Gregoriana. Was Jesuiten im 2. Vatikanum wirken konnten, ist der nachfolgenden Generation nicht mehr gegeben. Aber was die Texte, an denen sie mitwirkten, geschaffen haben, bleibt als Geschenk und Grundlage für die kommenden Generationen. Klaus Schatz SJ Der Beitrag steht ungekürzt als App unter www.facebook.com/jesuiten. 24 Jesuiten n März 2014 n Zachäus

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