Unterscheidung der Geister

Jeder Mensch muss den richtigen Weg für sich selbst festlegen. Das ist keine Grundsatzentscheidung, die einer in seiner Jugend trifft, so dass er dann wie auf Schienen bis an sein Lebensende gleitet. Seinen Lebensweg zu gehen bedeutet, sich Tag für Tag mit den sich bietenden Alternativen auseinanderzusetzen. Der Weg entsteht erst, indem wir ihn gehen. Durch unsere Entscheidungen kreieren wir ihn.

In der christlichen Glaubenstradition gibt es verschiedene Ansätze, die dem Menschen helfen, den für ihn richtigen Weg zu erkennen. Die Ignatianische Spiritualität geht davon aus, dass Gott in uns allen spricht. Denn sein Geist ist liebevoll und will uns unterstützen. Doch in uns existieren auch noch viele andere Stimmen: die der Ungeduld, des Neides, des Misstrauens usw. So manche Entscheidung, die in gutem Glauben gefällt wurde, entpuppt sich später als Folge von Missgunst oder anderen schlechten Motivationen. Es ist also von höchster Wichtigkeit, dass wir aus der inneren Geräuschkulisse die richtige Stimme herausfiltern. Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, hat lange über dieses Problem nachgedacht. Er kam zu der Erkenntnis, dass wir Gottes Stimme gar nicht in uns direkt "hören" müssen.

Wie wir richtige Entscheidungen treffen

Die Regungen, die die verschiedenen Stimmen in uns auslösen, sind der Prüfstein, die uns zu einer guten Entscheidung führen können. Mit den Regungen der Seele meint Ignatius unsere Stimmungen und Gefühle, aber auch Träume, Erinnerungen, innere Bilder, Gedanken, Vorstellungen usw. Manchmal drücken sie sich sogar in körperlicher Form aus. Ich kann vor Sorgen Kopfweh haben, aber auch vor Glück hellwach sein. Es geht zunächst um die Wahrnehmung der gegebenen Realitäten.

Seine Methode der Selbsterforschung nannte Ignatius "die Unterscheidung der Geister". Bis heute hilft diese Methode Menschen, Verstand und Gefühl zu verbinden, den eigenen Beweggründen auf die Spur zu kommen und gute Entscheidungen zu treffen. Die folgenden sieben Schritte können im Alltag in Entscheidungssituationen helfen.

Johann Spermann SJ / Ulrike Gentner

  • 1. Schritt: Ich frage mich, ob überhaupt eine Entscheidung ansteht

    Auf den ersten Blick scheint dies eine überflüssige Frage zu sein. Doch es ist gar nicht so selten, dass ich zwar meine, vor einer Entscheidung zu stehen, in Wirklichkeit aber überhaupt kein Entscheidungsspielraum besteht. Das kann an herrschenden Ideologien, an Gruppendruck, zementierten Gewohnheiten und vielem anderen liegen. Wenn aber festgelegte Erwartungen Entscheidungsalternativen von vornherein unmöglich machen, gibt es keine freie Entscheidung. Oder anders gesagt: Wer keine anderen Wege kennt, kann immer nur denselben gehen.

    Nicht nur äußere Sachzwänge behindern eine freie Entscheidung. Das passiert auch, wenn ich selbst von vornherein einer der Optionen den Vorzug gebe. Wenn tief in mir drin die Wahl schon entschieden ist, existiert keine Ergebnisoffenheit. Deshalb benennt Ignatius von Loyola als Voraussetzung für die "Unterscheidung der Geister" die Indifferenz, also die Haltung des "Nichts zu sehr wollen". Nur mit dieser Haltung bin ich innerlich frei. Nur dann macht die "Unterscheidung der Geister" einen Sinn.

  • 2. Schritt: Ich sichte die Entscheidungsalternativen

    Schwarz oder Weiß? Ja oder Nein? München oder Berlin? Wenn ich nur zwischen zwei Alternativen wähle, schöpfe ich meist nicht alle Möglichkeiten aus, die mir offen stehen. Es gehören Fantasie und Mut dazu, auch jene Alternativen zuzulassen, die sich mir nicht auf den ersten Blick erschließen - und die ich manchmal auch gar nicht zulassen will. Wie bei einem Brainstorming gilt auch hier: Es gibt in dieser Phase keine schlechten Alternativen.

    Übungen wie das "Tetralemma" helfen mir dabei, weitere Entscheidungsalternativen zu finden: Was ist die eine Möglichkeit (Milch trinken), was die Alternative (Kaffee), was wäre eine Verbindung von beidem (Milchkaffee) und was wäre keines von beidem (Tee). Die Zahl Vier bedeutet nicht das Ende: Vielleicht hat mich mein Durst ja davon abgelenkt, dass mein Hunger eigentlich viel größer ist. Also Pizza? Oder ein Salat? Je mehr Spielraum mir zur Verfügung steht, desto größer ist auch meine Entscheidungsfreiheit.

  • 3. Schritt: Ich wäge möglichst unvoreingenommen das Pro und Contra ab

    Zu einer fundierten Entscheidung gehört die nüchterne Analyse der Situation. Ich schaue darauf, was im Rahmen meiner Kräfte liegt, was vernünftig und ethisch gut ist. Sich Rat und damit die Sichtweise anderer auf die Fragestellung zu erbitten, hilft. Und natürlich darf ich auch fragen: Was würde Jesus oder eine mir wichtige Person dazu sagen?

  • 4. Schritt: Ich verkoste meine inneren Regungen

    Ich horche in mich hinein: Welche Regungen lösen die verschiedenen Optionen in meiner Seele aus? Es braucht ein wenig Übung, sich den Körperempfindungen und Gedanken strukturiert und aufmerksam zu widmen. Hellhörig versuche ich, feinste Schwingungen wahrzunehmen, ich verkoste, schmecke und spüre sie. Ich bin nüchtern, neugierig und offen für alle inneren Regungen. Einengende Gedanken wie "Das darf ich nicht fühlen" und "Das will ich nicht fühlen" nehme ich wahr; so begegne ich meinen Ängsten und Zwängen mit Offenheit.

    Ich frage mich:

    Welche Stimmen in mir sind besonders laut?

    Was wird übertönt?

    Was wagt sich kaum zu zeigen?

    Wenn ich zum Beispiel aus Eifersucht oder Eitelkeit einer bestimmten Alternative zuneige, erspüre ich dies und stelle mich dem, indem ich dies vor mir auch ausspreche. Ich gebe den Dingen einen Namen. Wenn ich die "Unterscheidung der Geister" immer wieder übe, gelingt es mir, Fallstricken auszuweichen und eine gute Nase dafür zu entwickeln, warum mich meine Regungen immer wieder in bestimmte Richtungen ziehen wollen.

  • 5. Schritt: Ich bitte Gott um Mut und Freiheit, um unterscheiden zu können

    Alle inneren Regungen - die guten wie die "ungeordneten" (wie Ignatius sie nennt) - bringen mich zu einer guten Entscheidung: Die einen helfen mir, indem ich sie annehme und pflege; die anderen, indem ich sie abweise, überwinde oder in Geduld aushalte. Indem ich meine Beweggründe und die Gefühle dazu kritisch hinterfrage und einordne, weiß ich, ob ich sie mit einem positiven oder einem negativen Vorzeichen versehen muss. Dies ist der Kern der Unterscheidung der Geister.

    Bei dieser Unterscheidung ist Gott mein Kompass. Mit diesem Kompass in der Hand fällt es mir leichter, zu unterscheiden, ob die Entscheidungen, die ich gerade überdenke, mein Leben und das der Menschen, mit denen ich zu tun habe, besser machen - oder nicht. Indem ich Gott suche, wächst das Gelingen meines Lebens heran. Deshalb will ich Gottes Willen spüren. Er hilft mir, in eine kritische Distanz zu mir zu gehen. Diese kritische Selbstdistanz gehört wesentlich zur christlichen Spiritualität.

  • 6. Schritt: Ich überprüfe meine Regungen auf Zukunftsfähigkeit

    In meinem Kopf und meinem Herzen wirbeln viele sich widersprechende Regungen durcheinander. Ich schaue nochmals auf das ganze Bild der unterschiedlichen Alternativen und versuche herauszufinden, wo ich mittel- und langfristig mehr Freiheit, mehr Gelassenheit, mehr persönliches Wachstum und mehr Zukunft spüre. Durch Stille, Achtsamkeit, Geduld, geistliche Übungen, biblische Betrachtungen usw. sinkt nach und nach meine Wahrnehmung auf tiefere Ebenen ab. Am Ende gibt es nach der Erfahrung des Ignatius nur zwei Grundregungen der Seele: Trost - und sein Gegenteil, für das wir im Deutschen nur das Kunstwort "Untrost" schaffen können.

    "Untrost" bedeutet: innere Unruhe, Hoffnungslosigkeit, Getrenntsein von Gott, den anderen und mir selbst, Zweifel und Hass gegenüber mir selbst und anderen, innere Trockenheit, Lähmung. "Trost" dagegen bewirkt das Gegenteil: innere Harmonie, Gleichklang und innere Freude, Freiheit, Mündigkeit, Frieden und Lebensdynamik. Echten Trost erfahre ich, wenn ich mit Gott unterwegs bin.

  • 7. Schritt: Meine Entscheidung setze ich in eine Handlung um

    Entscheidungen finden nicht nur im Kopf und im Herzen statt. Sie müssen auch durch mein Handeln sichtbar werden. Die sichere Gewissheit, dass dieses Handeln die beste Möglichkeit darstellt, habe ich aber nicht. Denn das Ergebnis der sieben Schritte des Ignatius ist immer einmalig und individuell, so wie der Geist Gottes immer neu und überraschend ist. Was dem einen Menschen nützt, um sein wahres Leben zu finden, kann einen anderen für das gleiche Ziel behindern. Was heute dem Geist Gottes vermutlich eher entspricht, kann morgen das Gegenteil bewirken.

    Die "Unterscheidung der Geister" zeigt mir die Richtung auf, die hier und jetzt und für mich persönlich mit großer Wahrscheinlichkeit die richtige ist. Meine Entscheidung werde ich aber immer wieder prüfen und gegebenenfalls korrigieren müssen. Nachdem ich diese sieben Schritte durchlaufen habe, weiß ich, dass ich mein Bestes getan habe, um zu einer guten Entscheidung zu finden.

Autor: Johann Spermann SJ

Pater Johann Spermann SJ ist Theologe und Psychologe. Er ist 1990 in den Orden eingetreten und wurde 1999 zum Priester geweiht. Er hat seit 1995 in der Studentenseelsorge in Würzburg gearbeitet und war von 2009 bis 2019 Direktor des Heinrich Pesch Hauses in Ludwigshafen, wo er das Zentrum für Ignatianische Pädagogik (ZIP) aufbaute und ein Wohnbauprojekt, die Heinrich-Pesch-Siedlung initiierte. Aktuell ist er als Provinzökonom verantwortlich für die wirtschaftlichen Belange der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten.

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