Jesuiten 2010-4

Heiliger Alltag ISSN 1613-3889 2010/4 Jesuiten

Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Der erstaunliche Bruder Gárate 3 Aufmerksamkeit für die Gegenwart 6 Begegnung in den frühen Morgenstunden 7 Mitten in der Nacht 10 Von außen nach innen 11 Der Leere einen Raum geben 12 Gemeinsam essen und trinken 13 Wie die Läufer im Stadion 14 Alltag in Bethlehem 16 Segnen im Alltag: all-täglich? 18 Das Examen – drei Zeugnisse 20 Im Vertrauen ankommen Geistlicher Impuls 22 Gelassener rumsitzen Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Nachrufe 28 Unsere Toten Vorgestellt 30 Unsere Neupriester Medien 32 CD Albert Keller in St. Michael Personalien 32 Jubilare 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Freunde der Gesellschaft Jesu e.V. Spenden 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2010/4 2010/4 Stille in der Hektik des Alltags © KNA

Dezember 2010/4 Jesuiten 1 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, oft trennen wir: hier der Alltag mit seinen vielfach völlig profanen Aufgaben und seiner rationalen Weise zu funktionieren, mit seinen Zielen und mit seinen Zwängen – dort das religiöse Leben,das zweckfrei ist und schön, voller Sehnsucht und mit starken Gefühlen, bisweilen mühsam und trocken,dann wieder freudig und erfüllt. Der Titel dieses Heftes heißt nun aber „Heiliger Alltag“.Damit versucht er,das so oft Getrennte zu verbinden,ja zu verschmelzen.Wie können wir den Alltag heiligen? Wie kann das Heilige den Alltag durchdringen? Was hilft uns, mit unseren alltäglichen Freuden und Leiden in eine intensive Beziehung zu Gott zu gehen? Ich lade Sie ein zur Begegnung:mit einer Kleinen Schwester in Berlin,mit einem JesuitenBruder,der ganz früh aufsteht,mit einem heiligen Bruder,der vor 100 Jahren lebte,mit Ignatius und seinen Essensregeln,mit einer Ordensschwester in Bethlehem oder mit dem Missionsprokurator auf Reisen.Die verantwortlichen Redakteure René Pachmann SJ und Ansgar Wucherpfennig SJ haben Autorinnen und Autoren gewonnen,die Zeugnisse aus ihrem Glauben geben und anregen wollen,das Paradox des heiligen Alltags tiefer zu leben. Unsere Ordensprovinz wurde im vergangenen Jahr von den Missbrauchsskandalen erschüttert.Tief beschämt mussten wir eingestehen, dass Böses mitten unter uns waltet,meist verborgen und verdeckt,aber doch mit grausiger Wirkung.Einige unserer eigenen Mitbrüder sind schwer schuldig geworden.Ein schmerzhafter Prozess der Aufarbeitung,der Umkehr und der Versöhnung hat nun begonnen. Aufklärung,Hilfe für die Opfer,Genugtuung und Prävention sind entscheidende Elemente in diesem Prozess.Wir verbinden damit die Hoffnung, dass die Schatten der Vergangenheit weichen und dass dieses Böse in Zukunft, soweit irgend möglich,aus unserer Mitte verbannt bleibt. Von Ihnen,unseren Freunden,haben manche zu Recht mit Irritation reagiert.Andere haben uns immer wieder ihr Vertrauen ausgedrückt und uns auf dem oft schweren Weg der Aufklärung bestärkt.Für alle Solidarität und Unterstützung danken wir Ihnen von Herzen. Ich hoffe sehr, dass die Wahrheit und die Versöhnung uns allen helfen, neu zueinander zu finden und im Glauben an jenen Gott zu wachsen,der alles Böse überwindet und uns in seinen Frieden führen will. Von Herzen wünsche ich Ihnen eine besinnliche Adventszeit,ein frohes und friedvolles Weihnachtsfest und reichen Segen für das Jahr 2011! Stefan Kiechle SJ Provinzial

2 Jesuiten Schwerpunkt: Heiliger Alltag Schwerpunkt Der erstaunliche Bruder Gárate Manche Menschen,die zu Einzelexerzitien in unser Haus kommen,erzählen mir von der Mühsal ihres Alltags.Sie fühlen sich eingezwängt in ein unentwirrbar scheinendes Geflecht von Anforderungen. Der Versuch eines geistlichen Lebens inmitten solcher Situationen erweist sich dann oft als hilfloses Unterfangen.Es kann das Gefühl entstehen,in einer Tretmühle eingeschlossen zu sein, die Sinnlosigkeiten produziert. Ich habe da eine Art Geheimwaffe.Das ist ein Ausspruch des Jesuitenbruders Franz Gárate. Er war über vierzig Jahre Pförtner im Universitätskolleg in Bilbao.1929 ist er gestorben. Papst Johannes Paul II.hat ihn 1985 selig gesprochen. In einem Bericht lesen wir,dass der gute Bruder mitten im größten Getümmel nie die Ruhe verlor.Und weiter schreibt einer,der darüber staunte:„Ich fragte ihn:Wie kommt es,Bruder,dass Sie sich in dieser vielfältigen Beanspruchung dennoch einen ruhigen, frohen Geist und eine unerschütterliche Geduld bewahren können? Darauf sagte er: Pater,ich tue,was ich mit meinen Kräften bequem leisten kann;was darüber ist,übergebe ich dem Herrn,der alles vermag:mit seiner Hilfe wird alles leicht,ja angenehm.Wir dienen ja dem besten aller Herren!“ Wenn ich dies vorlese, geht bei dem Wort „bequem“ so etwas wie ein befreites Erstaunen und Aufatmen über die Gesichter.„Bequem“ kommt im Wörterbuch der Askese nicht vor. Wir verbinden so einWort fast automatisch mit Faulenzerei,mit Leuten,die sich,wie man so sagt,kein Bein ausreißen und die schon gar nicht bereit sind,ihr Kreuz zu tragen. Aber es kann auch entlasten von Verkrampfungen,von eingeschliffenen Schiefheiten eines Leistungsdrucks, der keineswegs Gottes Wille sein muss. Freilich ist auch der nächste Gedanke des guten Bruders Gárate wichtig:Wir dürfen das,womit wir uns sinnlos abquälen müssten, unserem Herrn überlassen,der der beste aller Herren ist. Das könnte der Anfang dafür sein,die Dinge in einem anderen Lichte zu sehen,sie entsprechend anders anzupacken und dadurch mehr Lebensqualität zu gewinnen,auch wenn sich äußerlich gar nicht viel ändern mag.So kann aus einer belastenden Routine,in der man sich dahin schleppt,eine Haltung werden, die den Alltag als eine geistliche Chance begreift. ■ Vitus Seibel SJ Bruder Franz Gárate SJ © Provinzarchiv SJ

Dezember 2010/4 Jesuiten 3 Schwerpunkt Aufmerksamkeit für die Gegenwart Unter den vielen Namen und Charakterisierungen Gottes im Alten und Neuen Testament finden sich an prominenten Stellen solche,die von der Gegenwart Gottes sprechen.Man denke nur an Gottes Offenbarung an Mose im Dornenbusch.Als Mose nach dem Namen dessen fragt,der ihn aus dem Dornenbusch anspricht,bekommt er zur Antwort „Ich bin der Ich-bin-da“ (Ex 3,14).Ein anderes Beispiel ist das Ende des Matthäusevangeliums – Jesus gibt seinen Jüngern dieVerheißung „Siehe, ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 18,20).Der Römerbrief bestimmt diese Gegenwart als Gegenwart Gottes in uns:Der Heilige Geist,Gott in uns,betet kontinuierlich zumVater (vgl. Röm 8).Für manche Menschen ist diese Gegenwart Gottes eher ein Problem als eine froh machende Botschaft:Wir wollen zwar glauben,dass Gott da ist,aber wir spüren ihn in unserem Alltag nur sehr selten,wenn überhaupt.Wir glauben,dass Gott gegenwärtig ist,aber dieser Glaube ändert unser Leben nicht wirklich.Viele Menschen haben den Eindruck, dass ihr Alltag und ihr Glaube nur schwer miteinander zu vermitteln sind.Wie bekommt man den Glauben in den Alltag hinein? Wie kann man – bildlich gesprochen – den Himmel auf die Erde herunterziehen? In der buddhistischen Zen-Tradition gibt es eine Geschichte,in der ein junger Mönch einen Meister sucht, der ihm den Weg der Meditation lehren kann.Endlich hat er es geschafft und darf einen der bedeutendsten Zen-Lehrer besuchen.„Wer kann mich den Weg der Meditation lehren?“ fragt er den Meister.Dieser weist mit dem Finger auf die Tür,durch die der Schüler hineingekommen ist. Der junge Mönch versteht die Antwort nicht,stellt dieselbe Frage noch einmal und bekommt wieder dieselbe Antwort:Es ist die Tür, die ihm den Weg der Meditation lehren kann. Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich etwas abwegig zu sein, ausgerechnet eine Tür als ein Mittel anzusehen, das einen denWeg der Meditation, oder, anders gesprochen, den Weg zur Gegenwart Gottes lehren kann.Aber könnte es nicht sein,dass wir die Gegenwart Gottes so schwer spüren und kaum kraftvoll aus ihr leben können,weil wir selbst nicht in der Gegenwart leben? Natürlich leben wir in einer Hinsicht immer in der Gegenwart,denn immer ist Gegenwart,während wir leben. Keiner kann sich mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit oder die Zukunft „beamen“ – so etwas gibt es nur im Film,möchte man meinen.Tatsächlich aber sieht unser Leben oft ganz anders aus.Während wir zwar in der Gegenwart leben,sind wir mit der Aufmerksamkeit nicht in der Gegenwart,sondern in der Vergangenheit oder der Zukunft.Was uns eigentlich beschäftigt,ist nicht das,was in der Gegenwart gegeben ist,sondern das,was wir in der Vergangenheit erlebt haben und was wir vielleicht in der Zukunft erleben werden. Ärger über Dinge,die uns misslungen sind, Zorn über Menschen,die uns verletzt haben, drückende Schuldgefühle oder aber auch freudige Erinnerungen an Vergangenes beschäftigen uns in der Gegenwart ebenso wie Sorgen über die Zukunft,Freude oder Ängste über Ereignisse,die kommen werden.Mit unseren Gedanken,und mehr noch:auch mit unseren Gefühlen leben wir häufig nicht im Hier und Jetzt,also in der Gegenwart,sondern sind mit Vergangenem und Zukünftigem beschäftigt. Wer mit seinen Gefühlen und Gedanken nicht in der Gegenwart ist,wer nicht bei dem ist,was

gerade Gegenwart ist,muss sich eigentlich nicht besonders darüber wundern,dass er große Schwierigkeiten dabei hat,Gott,der gegenwärtig ist,wahrzunehmen und zu spüren. Genau deswegen verweist der Zen-Meister den Schüler auf die Tür.An der Art und Weise, wie der junge Mann mit der Tür umgeht, zeigt sich etwas davon,ob er in der Gegenwart lebt oder nicht. Die Art und Weise, wie er mit der Tür umgeht,kann ihn lehren,in der Gegenwart zu leben.Ich kenne das von mir nur zu gut:Wenn ich das Haus verlasse und in Gedanken daran versunken bin,was denn wohl derTag an Arbeit und Überraschungen mit sich bringen wird,dann kann es schon einmal passieren,dass ich die Haustüre offen lasse,dass ich den Hausschlüssel vergesse und dass ich im Haus mit den Türen knalle. Dieses Beispiel wäre missverstanden,wenn man es moralisch oder gar im Sinne eines Plädoyers für Langsamkeit oder Betulichkeit interpretieren würde.Der Punkt ist nicht,dass man Türen nicht zuknallen soll, weil es die Mitbewohner nervt.Der Punkt ist,das sich am Umgang mit der Tür etwas über einen selbst zeigt (was freilich nicht selten die anderen eher wahrnehmen können als man selbst!):Wo ist man selbst? Ist man mit seinen Gedanken und Gefühlen an dem Ort und mit den Menschen zusammen,an dem man physisch mit seinem Körper ist,oder ist man im Grunde ganz woanders? „Anwesend sind sie abwesend“ hatte schon vor über 2500 Jahren der griechische Philosoph Heraklit über den Durchschnittsmenschen seiner Zeit gesagt – wie sehr gilt das auch noch heute! In der Gegenwart zu leben um dort,in der Gegenwart,Gott zu erfahren,heißt nicht,dass es nicht Zeiten im Leben eines Menschen gibt, in denen man sich intensiv mit der Vergangenheit und der Zukunft beschäftigen muss.Im Leben von vielen Menschen gibt es Erlebnisse,die angeschaut und aufgearbeitet werden müssen,wenn der Mensch sich zu einer freien und liebesfähigen Person entwickeln möchte.Und natürlich muss man sich immer wieder intensiv mit Zukunftsfragen beschäftigen.Aber es ist eine Sache,sich in der Gegenwart so gut und klar wie möglich der eigenenVergangenheit und Zukunft zu stellen – also im Jetzt über die Vergangenheit und Zukunft nachzudenken –,und eine ganz andere Sache,um sich zu kreisen,zu grübeln und mit seinen Gefühlen,Sorgen,Gedankenfetzen,Tagträumen und Phantasien an der Vergangenheit und Zukunft zu kleben.In der Gegenwart leben bedeutet,mit der ganzen Aufmerksamkeit bei den Menschen,Projekten und den Aufgaben zu sein,die gerade anstehen. Es ist die Aufmerksamkeit für die Realität und Gegenwart meines Alltags,in der die Erfahrung der Gegenwart Gottes wächst.Eine alte Übung,die in die Erfahrung der Gegenwart hineinführen soll,besteht darin,die Aufmerksamkeit auf den eigenen Atem zu richten und nichts weiter zu tun als zu schauen,wie man selbst kontinuierlich ein- und ausatmet.Wenn Sie selbst einmal versuchen wollen,auf Ihren eigenen Atem zu achten, dann werden Sie schnell feststellen,dass es am Anfang nur sehr kurz gelingt,wirklich bei der Beobachtung des Atems zu bleiben.Viele Störungen stellen sich schnell ein:Man möchte beginnen,bewusst zu atmen,um den Atmen besser zu spüren und kommt dabei ganz außer Atem – anstatt einfach nur wahrzunehmen,wie der Atem ganz ohne unser Zutun ein- und ausströmt.Oder man spürt,dass es vielleicht in der ersten Minute sehr erholsam ist, nur dem Atem zuzuschauen,dann aber schnell durch Gedanken an etwas in der Vergangenheit oder Zukunft abgelenkt wird und es nur schwer gelingt, bei der Wahrnehmung des Atmens zu bleiben.Aber die Erfahrung zeigt:Wer regelmäßig diese Übung macht,der wird langsam aber sicher in den faszinierenden Sog der liebenden und tröstenden Gegenwart Gottes in unserem Alltag geführt. Meine Empfehlung: Einfach mal probieren! ■ Michael Bordt SJ 4 Jesuiten Schwerpunkt: Heiliger Alltag

Dezember 2010/4 Jesuiten 5 Die offene Kirchentür lädt ein zur Gegenwart Gottes © KNA-Bild

6 Jesuiten Schwerpunkt: Heiliger Alltag Schwerpunkt Begegnung in den frühen Morgenstunden Es soll sie noch geben,diese Spezies von Frühaufstehern.Wo wir uns vielleicht fragen mögen: „Was machen die da so früh?“ Diese Huldigung an den frühen Morgen,von Dichtern und Poeten besungen,hat schon etwas Besonderes.Der Mensch ist noch in verschiedenartigsten Träumen verwickelt, die Natur atmet noch einmal tief durch.Da sind Mönche,die schlaftrunken der frühen Gebetszeit der Matutin entgegeneilen,oder arbeitende Menschen,die schon früh beginnen müssen. Die Nachtaktiven sind auf dem Rückzug. Doch da ist eine verbleibende Stille und friedvolle Ruhe in einer sonst total verlärmten Welt,die eine kostbare Einladung enthält. Schon seit Jahrzehnten habe ich mich dieser jungen, frischen Tageszeit anvertraut und stehe täglich morgens 3:30 Uhr pünktlich auf der Matte.Also eine Zeit der Ruhe und Stille, die in idealer Weise zum Gebet und der Begegnung mit Gott einlädt.Nicht,dass ich mich gleich in das Gebet stürze.Leib und Seele brauchen einen Ansporn, durch eine Tasse Cappuccino und einigen Bewegungsabläufen. Einige Ordnungs- und Ergänzungsaufgaben sind zu erledigen,der Frühstückstisch wird bereitet,auch schon ein paar Hemden gebügelt,wobei ich mit dem Rosenkranz beginne.Dann folgt eine Gebetszeit,in der ich früher das Brevier betete,heute aber gezielt für eine Menschheit im Argen und der Not bete,die ganz schön herumgewirbelt wird. Diese Frühe ist nicht unbedingt eine jesuitische Tagzeit, so mache ich mich häufig auf den Weg zu den Thüner Franziskanerinnen des Franziskus-Krankenhauses in Berlin,die eine Frühmesse um 6:15 Uhr anbieten.Eine halbe Stunde vor Beginn kann ich noch meditieren oder den Rosenkranz zu Ende beten. Das Fundament für den Tag ist gelegt. Der frühe Morgen trägt eine Verheißung in sich: Die Morgenröte eines absolut neuen Tages zu erleben, der dieser Weltzeit nicht mehr angehört.Der aus Leid undTod heraus gehoben ist,und einen Frieden birgt zwischen den Menschen und Völkern, zwischen Menschen undTieren und zwischen den neuen Himmeln, der den ehemals paradiesischen Zustand weit übertrifft,denn wir erleben ihn mit dem wiedergekommenen Herrn Jesus Christus,seiner Heiligen Mutter und in Verbindung mit allen Heiligen.Der Frühaufsteher harrt auf die Parusie des Herrn,die prophetisch schon lange angekündigt ist. ■ Dieter Metzler SJ © KNA-Bild

Dezember 2010/4 Jesuiten 7 Schwerpunkt Mitten in der Nacht DerWecker klingelt.Mitten in der Nacht stehe ich auf und gehe in die Kapelle.Es ist eine kostbare Zeit für mich,das Gebet in der Nacht.Ich gehöre zu den Kleinen Schwestern und in unseren Regeln steht (art.144):„Jede Kleine Schwester sollte eine Stunde stiller Anbetung vor dem ausgesetzten heiligsten Sakrament opfern, zumindest an jedem Tag und, wenn möglich, auch jede Woche eine Stunde in der Nacht unabhängig davon,wie viel Müdigkeit und Trockenheit sie dabei erfahren kann.“ Unsere Zeit des Gebets in der Nacht erinnert an das Leiden Jesu: Die Nacht,die alle Nächte und Dunkelheiten der Welt in sich aufnimmt, die Nacht,in der Jesus,das Lamm ohne Makel, alles Böse auf sich nimmt,das uns übermannt, die Nacht,in der Er,der Unschuldige,wie ein Sünder behandelt wird, die Nacht,die jedem Schmerz begegnet und ihn sich aneignet, die Nacht,dunkel und hell, die Nacht des maßlosen Abgrunds,die wollte, dass Gott erzittert und Angst bekommt. „Dies ist die Nacht“ – die Nacht der restlosen Liebe ohne Reue, desVertrauens ohne Rückkehr,des vorbehaltlosen Ja des Sohnes zum Vater,die Nacht des Leidens. In dieser Nacht mit Jesus,der,bis zum Ende derWelt imTodeskampf, uns bittet, mit ihm zu bleiben.Und wirklich:Er ist es,der vorangeht, Er ist es,der betet und sich dem Kampf gegen das Böse überlässt.Wir werden gefragt,und Er ist es,der fragt,mit Ihm zu wachen,mit Ihm zu bleiben,und Ihn nicht allein zu lassen (Mt 26,38).Warum? Braucht Gott uns? Zu mir schreit man „Wächter,wie lange noch dauert die Nacht“ (Jes 21,11) Betäubt vom Schlaf,gibt es nicht viele Gedanken,die mir durch den Kopf gehen, nicht viele Ablenkungen,außer dem Schlaf, der mich von allen Seiten belauert.Ich muss nichts hingeben,außer meine einfache Anwesenheit.Ich bin da,und das ist schon fast alles. Fast – denn in der Nacht ist ein Herz,das wacht. Fast – denn in der Nacht ist der Glaube am Werk. Und tatsächlich,etwas passiert:An Seiner Seite, der allein jedem nahe ist,bevölkert sich mein Gebet mit Gesichtern.Und Schritt für Schritt, tritt eine Versammlung der ganzen Welt in mein Gebet ein.Es sind die Leute,die ich kenne und liebe,aber auch Fremde,die kommen,um mir zu begegnen. Schau,die Kranken,die mit Gefangenen ankommen,und Flüchtlinge zusammen mit Verfolgten,Wohnungslose und die,die einsam bleiben,Verlassene und Herumirrende,verwundete Kinder und die,die in ihrem Leben Schiffbruch erlitten haben,Sterbende und Neugeborene,und auch,Dank Dir Gott, Liebende und glückliche Leute. Das Gebet,das man in der Nacht hält,ist tatsächlich oft ein Bittgebet,ein Raum,der sich im Herzen öffnet,damit der Schrei der Menschheit einen Platz findet,an dem er aufgenommen wird:Es ist der Geist,der in uns betet (Röm 8,26-27). „Auf deine Mauern,Jerusalem,habe ich Wächter gestellt.Weder bei Tag noch bei Nacht dürfen sie schweigen.Ihr,die ihr den Herrn erinnern sollt,gönnt euch keine Ruhe. Lasst auch ihm keine Ruhe,bis er Jerusalem wieder aufbaut.“ (Jes 62,6-7)

8 Jesuiten Schwerpunkt: Heiliger Alltag Ein Gebet,gerichtet an Gott,aber auch ein Gebet gegen Gott:„Wie lange noch,Herr,wie lange noch? Wie lange noch wird der Gerechte misshandelt,wird der Unschuldige zerdrückt …? Wie lange noch siegt das Böse auf der Erde …? Herr,wach Du auf!“ (Ps 6,4; 44,24;94,3 usw.) Ein Gebet aber auf alle Fälle mit Jesus,dem großen Fürbitter.Er,der Gott-Mensch,der sich nicht schämt,uns Brüder und Schwestern zu nennen,er,der sich uns allen gleich gemacht hat und dadurch für uns der Hohepriester geworden ist,barmherzig und treu,weil er versucht worden ist und gelitten hat,deswegen kann er uns zu Hilfe kommen (vgl.Hebr 2,11-18). Aber die Nacht ist auch eine Zeit,in der die Liebenden sich begegnen,in der sie sich umarmen und wieder von neuem verlieren, die Zeit des Wartens und derVerzweiflung, der Leere und der Fülle, die Zeit derTreue und des Verrats,die Zeit,wo endlich die Liebe kein Wort braucht,um etwas zu sagen. Aber auch dies geschieht in der Nacht … Wie vor offenen Tabernakeln Die Gemeinschaft mit den Leuten von der Straße,mit denen wir zusammen leben möchten – wir vier Kleine Schwestern in Berlin – hat uns im letzten Jahr dazu geführt, noch auf eine andere Weise wach zu bleiben: Es ist mir passiert,und es ist uns passiert,dass wir tatsächlich eine Zeit der Nacht draußen und im Winter mit unseren Freunden in Notübernachtungen verbracht haben. Diese Gesellschaft,die in die Nacht hineinreicht oder die Nacht überdauert,hat für mich einen sakramentalen Wert bekommen. Ich bin da, wir sind da, wie vor offenen Tabernakeln: Verwundete Herzen liefern sich uns aus,sie brauchen es überall,mit Respekt und Liebe betrachtet zu werden und aufgenommen zu werden mit Zärtlichkeit und ohne Verurteilung, sie haben Hunger und Durst nach Vertrauen und Hoffnung. Ich erzittere plötzlich vor dieser Nähe,wie bei einem Kurzschluss,bei dem man Gott nahe kommt.Worte erhellen diese Nacht:„Er hatte keine schöne und edle Gestalt,so dass wir ihn anschauen mochten.Er sah nicht so aus,dass wir Gefallen fanden an ihm.Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden,ein Mann voller Schmerzen,mit Krankheit vertraut.Wie einer,vor dem man das Gesicht verhüllt,war er verachtet,wir schätzten ihn nicht.“ (Jes 52,2–3) „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,5) Und das ist schon Karfreitag.Das Geheimnis der Erlösung erreicht uns alle in diesem armen Zusammensein.Ja,wir sind da,mit dem Wunsch,die Liebe zu bedeuten und anzunehmen,die niemanden verlässt und die viel stärker ist als alle Finsternis und als jeder Tod. Den einen oder anderen dieser Freunde zu verlassen,sie wieder in der Nacht zu lassen,die da ist und die durch ihr Leben läuft,wieder zu sich zurück zu kommen,das ist hart:Wie kann ich sie in ihrer Einsamkeit lassen? Ein kleines Gebet kommt mir zu Hilfe, manchesWort kann ich mit der Stimme sagen, wenn es möglich ist,oder ich lasse es im Geheimnis meines Herzens in dem Moment, in dem ich sie wieder verlasse:„Mag Gott deine Nacht segnen!“ So vertraue ich sie Gott an.Und noch einmal,zurück in der Kapelle, bevor ich mich hinlege,wie ein letztes Rufen oder Zurückrufen des Tages. Ein Gebet, in dem sich Vertrauen mit Sorge mischt, ein Gebet des Überlassens und der Frage … „Er gehört dir,Herr,sie gehören dir,Herr,vergiss sie nicht!“ Und dann weiter:„Gib ihm,gib ihnen … bitte ich dich … einen guten Schlaf, und,wenn möglich,eine Nacht ohne Regen, Amen.“■ Kleine Schwester Patrizia

Dezember 2010/4 Jesuiten 9 Meditation in der Stille der Nacht © KNA-Bild

10 Jesuiten Schwerpunkt: Heiliger Alltag Schwerpunkt Von außen nach innen In der systemischen Familientherapie werden oft Rituale angewendet.Mir sind sie in meiner Ausbildung zum Therapeuten begegnet. Skulptur- oder Aufstellungsarbeit wird in der systemischen Therapie als Methode eingesetzt. Bei der Familienaufstellung kann es sein,dass ich für einen Klienten eine Person seiner Familie stelle.Das heißt:mich in diese Person hineindenken und -fühlen,um dem Klienten mehr Einsicht und Klarheit über sein Familiengefüge zu verschaffen. Wenn diese intensive Arbeit vorbei ist,muss man wieder aus der eingenommenen Rolle heraus kommen.Dies machen wir immer mit dem gleichen Ritual:wir klopfen und streifen die Rolle regelrecht von uns,indem wir Beine und Arme mit einer Bewegung der Hände abstreifen,als würden wir den Staub,der sich dort festgesetzt hat,wegwischen.Ich selbst habe beobachtet,als dies vergessen wurde,dass diejenige Person nicht aus ihrer Rolle herauskam.Hokuspokus? Nein! Sondern der Körper und seine Wahrnehmung werden ernst genommen.Und es wird einem inneren Prozess,der angestoßen wurde,ein körperliches Signal des Endes gegeben. Äußerlich angewendet,wirkt diese kleine Körperübung innerlich weiter.Denn unser Körper ist hoch sensibel. Es muss nicht immer eine Therapiesitzung sein,die in mir weiter wirkt und arbeitet,auch wenn die Situation längst vorbei ist.Auch Stress und Ärger auf der Arbeit oder Auseinandersetzungen über bestimmte Themen werden gern mit nach Hause genommen. Aber wie werde ich diese Gedanken,die meinen ganzen Körper besetzen,jetzt an meinem Feierabend los? Jeder hat da so seine eigenen Rituale,von Duschen,Umziehen,Dehnen bis hin zum Abstreifen wie oben beschrieben.Da gibt es noch viel mehr.Ich stelle dabei immer wieder fest:Mein Körper hört auf mich. ■ Holger Adler SJ Den Körper und seine Wahrnehmungen ernst nehmen © KNA-Bild

Dezember 2010/4 Jesuiten 11 Schwerpunkt Der Leere einen Raum geben Haben Sie ein gutes „Zeitmanagement“? Mein Alltag am Kolleg St.Blasien ist eingeteilt in feste Dienstzeiten wie Unterricht und Besprechungen sowie viele kleine Gesprächstermine.In den „Zeitfenstern“ dazwischen arbeite ich meine sich ständig erneuernde „To-do“-Liste ab. Plötzlich ist dann der Tag vorbei und ich falle hundemüde ins Bett.Zum Glück gibt es in der Schule alle paar Wochen Ferien.Von einer Stunde auf die andere ist dann das Kolleg wie ausgestorben.Schüler, Lehrer und Erzieher strömen aus dem Haus und es tritt plötzlich eine sonderbare Leere ein. Diese erste Zeit nach der Abreise der Schüler ist eine gute Gelegenheit,für einen Moment selbst still zu werden.Ich spaziere dann gerne durch die Gänge und lasse den Eindruck der leeren Klassenzimmer auf mich wirken.Für einen Moment bin ich abgeschaltet vom Strom der Betriebsamkeit.So etwas wie Dankbarkeit steigt auf für die geschenkte Zeit.Natürlich ist auch hier die Möglichkeit,diese Leere gleich wieder mit Nützlichem zu füllen.Ich kann mein Büro aufräumen,ich kann das viele Liegengebliebene abarbeiten und ich kann selbstverständlich auch die anstehenden Ferientage gleich wieder verplanen.Es ist ein Leichtes, auch die Ferienzeit so zuzupflastern,dass keine Leere mehr zu spüren ist.Ich kann dieser Leere in mir aber auch bewusst Raum geben,und das sehr wohl auch im Alltag.Allerdings ist das schwieriger,denn oft drängen sich dann Dinge ins Bewusstsein,die noch zu erledigen sind.Es ist deshalb sehr hilfreich,eine solche Leerzeit bewusst mit einem Gebet zu eröffnen.Ich bitte z.B.um Kraft,zehn Minuten Leere auszuhalten.Dann kann in mir auch mitten im Alltag diese wohltuende Ruhe eintreten,in der die Zeit still steht und ich ganz „da“ bin. Für ein paar Augenblicke bin ich frei von jedem „Müssen“ und lausche darauf,wie Gott in meiner Leere anwesend ist. ■ Ludger Joos SJ Kolleg St.Blasien Foto: Joos

12 Jesuiten Schwerpunkt: Heiliger Alltag Schwerpunkt Gemeinsam essen und trinken Ein aus frischen Zutaten liebevoll zubereitetes Gericht langsam zu essen – das heißt für mich genießen und mit den Sinnen erleben,wie Gott mich stärkt.Es ist schon ein erstaunlicher physiologischer Vorgang, wie aus der wohlschmeckenden Nahrung etwas Eigenes wird, das mir Energie und Lebenskraft gibt. Im Alltag essen wir oft zu viel und zu schnell. Manche sind magersüchtig und essen zu wenig. Das kleine Wörtchen „zu“ lässt aufhorchen.Es deutet darauf hin,dass es um eine maßlose Weise der Befriedigung von Bedürfnissen geht,die einem letztlich nicht gut tut. „Ungeordnete Anhänglichkeiten“ unter dem Schein des Guten würde Ignatius von Loyola es nennen.Weil er selbst erfahren hat,wie bedeutsam der richtige Umgang mit dem Leib für das geistliche Leben ist,gibt er im Exerzitienbuch einige Hinweise,in denen es um das rechte Maß des Essens und Trinkens geht. Weniger ist oft mehr,wenn der Alltag auf die geistliche Dimension hin durchsichtig werden soll. „Die Einheit von Seele und Leib, wenn sie den Geist Gottes aufnimmt,macht den geistlichen Menschen aus.“ (Irenäus von Lyon) Eine dieser „Regeln,um sich für künftig beim Essen zu ordnen“ macht mir besondere Freude und richtet mich innerlich auf.Ignatius schlägt vor,dass man sich während des Essens vorstellt,wie Christus mit den Aposteln isst und trinkt, wie er schaut und wie er spricht, und dass man ihn nachahmt.Ich überlege manchmal, wer an meinem Tisch sitzt und wohl Petrus ähnlich wäre,wer Johannes oder Andreas.Was wir heute zu bereden hätten? Oder was Christus mir durch den,der mit mir am Tisch sitzt, jetzt sagen möchte? Denn nicht nur die Kalorien,Vitamine,Proteine und Ballaststoffe oder der Genuss und Geschmack gehören zu einem guten Essen, sondern auch eine wesentliche weitere Dimension: die Tischgemeinschaft. Das alltägliche Essen in der Kommunität,in der Familie oder mit Freunden ist ein Zeichen der Einheit,wenn man miteinander teilt und sich gegenseitig mitteilt.Eine solche Mahlzeit erinnert an das Mahl der Einheit in der Eucharistie.„Wo immer wir essen,sollte darum etwas Festtägliches auch noch über dem Mahl des Alltags liegen.Es ist das Fest des Alltags.Denn es kündet von der Einheit,in die hinein sich alles und alle bergen wollen,in der alle bewahrt und aus ihrer Einsamkeit befreit werden,es spricht im Alltag leise, aber doch vernehmbar,vom Gastmahl des ewigen Lebens.“ (Karl Rahner) ■ Christian Modemann SJ Sich in der Tischgemeinschaft einander mitteilen © Monkey Business

Dezember 2010/4 Jesuiten 13 Schwerpunkt Wie die Läufer im Stadion „Der Herr hat kein Gefallen am schnellen Lauf des Mannes.“ Den Psalmvers zitierten mir einige,als ich letztes Jahr beim Frankfurter Stadt-Marathon teilnahm.Und auch Paulus führten sie an,wenn der Apostel die Christen mit Läufern im Stadion vergleicht.Das Psalmwort,das sich auf den Krieger bezieht,der durch körperliche Stärke unbesiegbar werden will,trifft zu,wo der Sport zum Körperkult wird.Aber Sport kann auch helfen,spirituell weiter zu kommen.Zwar gebraucht Paulus das Bild vom Laufen im Stadion nur alsVergleich, doch er kennt auch die leiblichen Strapazen, die ihm der Lauf für das Evangelium bereitet. Darum aber geht es,dass Körperliches und Spirituelles zusammenkommen.Neben vielen positiven Effekten (Aufenthalt in der Natur, Stressabbau, Fitness) ist beim Training die Erfahrung bedeutend, dass durch Treue zur Sache Ausdauer und Kraft wachsen und durch die Konzentration auf das Ziel aktuelle Frustrationen und Strapazen zweitrangig werden. Entscheidend ist die Erfahrung am eigenen Leib.Sie ist davon bestimmt,dass ich es nicht selbst in der Hand habe,was geht und was nicht.Der Körper gibt den Rhythmus vor und zeigt meine Grenzen an – notfalls schmerzlich. Es braucht einen Dialog zwischen Körper und Willen.Ich muss wahrnehmen,wann ich den Muskeln noch einen weiteren Impuls zumuten kann,um die Kondition auszubauen oder eine Regenerationsphase angesagt ist. Umgekehrt braucht es,wenn ich keine Lust habe,Disziplin,um wenigstens die vertraute Runde zu machen.Wenn sich der Kopf gegen die Trägheit des Körpers durchsetzt, dann habe ich immer wieder erlebt,dass das Gefühl der Erschöpfung plötzlich weggeht und sich neue Kraftreserven auftun. Das spirituelle Moment liegt weniger in der Euphorie des Ziels als in der Erkenntnis,dass durch ein gutes Zusammenspiel von Körper und Geist mehr möglich ist,als ich mir ursprünglich vorstellen konnte.In diesem Mehr begegnet mir Gott.Denn in der leiblichen Wahrnehmung von Stärke und Schwäche, erkenne ich mich als Teil der Schöpfung,die auf die Leben spendende Kraft des Schöpfers angewiesen ist.Am eigenen Leib mit jedem Herzschlag zu spüren,dass ich geschaffen bin,stellt dann auch die notwendige Korrektur dar zu überzogener Leistungsorientierung.Es kommt darauf an,ob ich trotz aller eigenen Anstrengung und Disziplin letztlich immer noch meinen Schöpfer loben kann. ■ Markus Luber SJ Konzentration auf das Ziel © Mikael Damkier

14 Jesuiten Schwerpunkt: Heiliger Alltag Schwerpunkt Alltag in Bethlehem Innerhalb der ersten paar Wochen meines Tertiats in Palästina gehe ich in Bethlehem spazieren.Ein etwa achtjähriger Junge spricht mich auf Englisch an: „Hello! Where do you come from?“ Ich antworte (etwas stolz,ein paar der Worte anbringen zu können, die ich gelernt habe) auf Arabisch: „Ana almanie“ („Ich bin Deutsche“).Der Junge lächelt – ein Lächeln,das ich nicht so schnell vergessen werde.Ich denke mir,dass ich vermutlich eine lustige Aussprache habe. Ganz sicher sogar. Aber gleichzeitig habe ich nicht den Eindruck,dass der Junge mich auslacht.Denn er lacht nicht,sondern er lächelt wirklich.Wir unterhalten uns noch ganz kurz und einfach, und jedes Mal,wenn ich auf eine englische Frage mit meinem unbeholfenen Arabisch antworte,lächelt der kleine Kerl wieder über beide Ohren.Schließlich gehen wir beide unseres Weges. Ich denke ein wenig nach,was da geschehen ist,und beginne zu ahnen,dass dieses Lächeln etwas damit zu tun hat,dass ich,eine Europäerin,eine Fremde,versucht habe,mit ihm Arabisch zu sprechen.Mir wird bewusst, dass Sprache etwas mit Würde zu tun hat. Die Palästinenser lernen nämlich früh fremde Sprachen,besonders Englisch,um mit den Touristen in Kontakt zu kommen.Normalerweise sind sie es,die die Sprachen der anderen lernen.Kaum jemand lernt ihre.Ich glaube, deshalb hat dieser Junge sich so gefreut.Und ich habe mich natürlich auch gefreut,weil ich mich wahnsinnig fremd gefühlt habe und das fast die ersten Worte Arabisch waren, die ich zu sagen wagte.Mit der für mich beeindruckenden Wirkung, dass dieses Kind mich mit seinem Lächeln willkommen geheißen hat.„Ich war fremd,und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,35).Werke der Barmherzigkeit sind gegenseitig.Sie geschehen in Beziehung.Wir alle brauchen Barmherzigkeit. Mein Dienst im Sommer dieses Jahres bestand darin,im Caritas Baby Hospital in Bethlehem im Büro für Öffentlichkeitsarbeit mitzuarbeiten.Konkret bedeutet das:ich habe viele deutschsprachige Pilgergruppen durchs Hospital geführt und viele Spenden entgegengenommen.Das Krankenhaus existiert zu 93% auf Spendenbasis und ist auf etwa 6 Mio.Euro im Jahr angewiesen,um die Babys und Kinder aus Bethlehem,Hebron und Umgebung gut versorgen zu können. Zweifellos ist diese Einrichtung ein Ort der Barmherzigkeit,denn für viele Eltern bietet sie die einzige Möglichkeit,medizinische Hilfe für ihr Kind zu finden.Was könnte es für Eltern Schlimmeres geben,als ihr Kind leiden und sterben zu sehen,weil sie sich den Arzt nicht leisten können? Dies aber stellt bei einer Arbeitslosenquote von 50-70% eher die Regel denn die Ausnahme dar.So kommt es,dass das Hospital mehr denn je ausgelastet ist,obwohl das Einzugsgebiet aus politischen Gründen immer kleiner geworden ist.Das Baby Hospital ist eine Art Caritas-Zentrale,und wer immer dafür arbeitet, hat Anteil an diesem großen Werk der Barmherzigkeit. Es ist eine Gnade, an so einem Werk – wenngleich nur für kurze Zeit – mitwirken zu dürfen. Dennoch denke ich nicht zuerst an das Werk der Barmherzigkeit,Kranke zu besuchen und zu pflegen,wenn es um Palästina geht. Vielmehr denke ich an jenes Wort Jesu: „Ich war im Gefängnis,und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt 25,36).Denn in Palästina ist ein ganzes Volk im Gefängnis: eingeschlossen im eigenen Land vom israelischen Gegner

Dezember 2010/4 Jesuiten 15 durch eine meterhohe Mauer.Mit meinem palästinensischen Kollegen Bashir habe ich einmal sarkastisch herumgefrozzelt und gesagt:„Eigentlich fehlt (dem Gefängnis) nur noch das Dach!“ Als ich nach Palästina ging, hatte ich keine Ahnung, dass ich mit dem palästinensischenVolk in einem riesigen Käfig leben würde.Aber so war es,auch wenn ich den „richtigen“ Pass hatte,um ab und zu durch den Checkpoint nach draußen zu entschwinden.Ich habe mit den mir lieb gewordenen Menschen an der eingeschränkten Bewegungsfreiheit und der depressiven Stimmung gelitten.Soweit es ging,bin ich häufig mit dem Fahrrad über den Checkpoint gefahren.Das war für mich ein Stück Freiheit. Die israelischen Soldaten haben mich meistens gut behandelt.Einmal bot mir eine junge Soldatin von ihrer Cola an.Einmal,als es sehr heiß war,sagte mir ein junger Soldat,ich solle unbedingt genügend trinken (während mich sein Kompagnon ausfragte,was ich in Israel wolle). Da denke ich an Jesu Worte: „Ich war durstig,und ihr habt mir zu trinken gegeben“ (Mt 25,35). Kleine Werke der Barmherzigkeit und auch manche größere gibt es in Israel und in Palästina viele.Sie lindern die Not im Heiligen Land,können aber nicht das eine große Werk der Barmherzigkeit ersetzen, das vor allem nötig wäre:das der Befreiung der Palästinenser und eines gerechten Friedens mit Israel. ■ Igna Kramp CJ Arzt mit kleinen Patienten im Caritas Baby Hospital in Bethlehem © KNA-Bild

16 Jesuiten Schwerpunkt: Heiliger Alltag Schwerpunkt Segnen im Alltag: all-täglich? Für mich ist Segnen Alltagserfahrung. Mir passiert es öfters,wenn ich unterwegs bin und einem offensichtlich kranken,behinderten oder armen Menschen über den Weg laufe, dass ich dann unwillkürlich leise in Sprachen für ihn bete – eine Form von Fürbitte und stillem Segen.Das tue ich auch,wenn mir ein Mensch eine Not anvertraut hat,und ich mit seiner Erlaubnis für ihn bete und ihn segne. Das Sprachengebet – eine seit Pfingsten in der Kirche weit verbreitete Gabe des Geistes – ist eine schlichteWeise, den Heiligen Geist in uns beten zu lassen.Manchmal schenkt Gott dadurch ein Wort oder eine Empfindung, etwas,das den anderen aufbaut.Ich selbst lasse mich oft von anderen Laien segnen – zum Beispiel in der Gebetsgruppe.Bei meinem Abschied aus Frankfurt segnete mich ein evangelischer Christ für meine neue Aufgabe in München. Ich bin ein katholischer Laie, kein Theologe und möchte entsprechend holzschnittartig darlegen,was mir als biblischer Hintergrund und für die eigene Seelsorge wichtig ist. Im Alten Testament segnet Gott Menschen (z.B.Abraham und Isaak).Menschen segnen Menschen (z.B.Isaak den Jakob),wobei manchmal auch der Geist Gottes wirkt.Beispiel Saul:Kurz nachdem der Prophet Samuel ihn zum König gesalbt hat,bekommt er von Gott ein verwandeltes Herz und gerät in prophetischeVerzückung. Der neue Bund in Jesus Christus steigert das noch:Jeder Christ trägt den Heiligen Geist in sich,er ist durch die Taufe König,Priester und Prophet und vermittelt beim Segnen etwas von der Kraft Gottes,vom Heiligen Geist.Das ist etwas anderes als die spezifische Gabe des Geistes bei der Firmung. Der Name,bei dem ein Mensch gerufen wird, kann Berufung und Lebensprogramm sein.Er kann Segen sein oder die Abwesenheit von Segen bis hin zu Fluch ausdrücken.Beispiel Jakob:Der jüngere Zwilling hält bei der Geburt den älteren an der Ferse fest.Er bekommt den unrühmlichen Namen „Jakob“, das bedeutet Fersenhalter,Betrüger.Später ertrickst er sich das Erstgeburtsrecht und den väterlichen Erstgeborenensegen.An einer Furt des Jabbok wird er von Gott selbst nachts initiiert:Ein Mann ringt bis zum Morgenrot mit ihm.Dann gibt er ihm einen neuen Namen:„Nicht mehr Jakob soll dein Name heißen,sondern Israel (d.h.Kämpfer Gottes), denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast überwältigt“ (Gen 32,29). Anschließend segnet er ihn.Alte Identität: Betrüger.Neue Identität:Kämpfer Gottes! Ähnliches wiederholt sich bei Jakobs Sohn Benjamin:Die Mutter Rahel gibt ihm – sterbend nach schwerer Geburt – den Namen Ben-Oni (Sohn meiner Totenklage), derVater wandelt den Namen in Ben-Jamin (Sohn des Glücks). Der Segen der Väter ist für Kinder wichtig. Väter haben die Aufgabe, ihre Kinder ins Leben zu begleiten,ihnen den Rücken zu stärken,sie zu bestätigen.Für Jungen ist diese Stärkung besonders wichtig,sie brauchen die Vermittlung und Bestätigung von Männlichkeit durch den Vater. Hört ein Heranwachsender aus dem Mund seines Vaters hin-

Dezember 2010/4 Jesuiten 17 gegen Sätze wie „Aus dir wird nichts!“,„Was bist du für ein Muttersöhnchen!“, so geht das in Richtung Fluch, schlägt eine Wunde in der Seele und kann zur Festlegung werden.Festlegung bedeutet,dass ein Mensch unter einen Zwang kommt,unter ein negatives Lebensprogramm. Negative Worte,die Menschen über andere oder sich selbst aussprechen,haben Macht. Als Getaufte und Kinder Gottes dürfen wir im Namen Jesu solche negativen Aussagen,Flüche und Festlegungen brechen und für unwirksam erklären.An ihre Stelle setzen wir Leben spendende Zusagen Gottes, zum Beispiel „Du bist mein geliebter Sohn / meine geliebte Tochter, an dir habe ich Gefallen“,„Du bist ein Mann / eine Frau nach meinem Herzen“.Oder Lobpreis und Dank:„Ich preise dich darüber,dass ich auf eine erstaunliche, ausgezeichnete Weise gemacht bin“. Das mache ich selbst immer wieder so,wenn ich anfange,negative Gedanken über mich zu haben oder wenn mir negative Aussagen anderer über mich wieder einfallen. Ja,wir Getauften dürfen anderen und uns selbst das Wort Gottes zusprechen und andere segnen.Still oder – mit deren Erlaubnis – laut und mit dem Segenszeichen der Handauflegung und dem Zeichnen eines Kreuzes auf die Stirn.Eltern können ihre Kinder damit morgens auf den Schulweg oder abends in den Schlaf entlassen.Eheleute,Freunde und Teilnehmer von Gebetsgruppen können füreinander beten und einander segnen.Entdecken wir unser Laienpriestertum neu und werden wir anderen zum Segen! ■ Tobias Waitzmann Sich mit dem Kreuzzeichen auf der Stirn segnen © KNA-Bild

18 Jesuiten Schwerpunkt: Heiliger Alltag Schwerpunkt Das Examen – drei Zeugnisse Tagesrückblick Es gibt verschiedene Worte, die man für dieses Grundgebet ignatianischer Spiritualität verwenden kann.„Examen spirituale“,also geistliche (Selbst-)Prüfung ist die älteste.„Gewissenserforschung“ die klassische.„Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ die neue positive Sicht.Heute sagt man meist einfach „Tagesrückblick“.Damit sind auch schon allerlei inhaltliche Aspekte dieses Gebetes benannt. Wie sieht der Tagesrückblick bei mir aus? Nun,ich schaue zusammen mit Jesus kurz vor dem Schlafen auf den Tag. Erst einmal versuche ich mich zu besinnen,was denn heute überhaupt alles los war.Bei den Punkten,die besonders herausragen,verweile ich.Bei dem Gespräch,das schwer und wichtig war.Es ist – Gott sei Dank – gut gegangen! Bei der Angst, die ich vor der Predigt hatte,und die doch einigermaßen angekommen ist.Bei dem kurzen Augenblick,als der Straßenbahnfahrer mich rennen sah und noch gewartet hat, so dass ich zu meinem Besuch pünktlich kommen konnte.Dabei,dass ich dann wieder in den alten Fehler fiel und ein Stück Kuchen zu viel gegessen habe. All das, was jede/r aus dem Alltag kennt, schaue ich an und frage:Wo habe ich bewusst dabei schon Gottes Gegenwart und Fügung bemerkt? Und wo merke ich sie erst jetzt am Abend? Das Examen hilft mir Gottes Gegenwart wahrzunehmen mitten in unserem oft so gottfernen Alltag.Es ist darum ein Gebet für die Moderne,die Gott oft nicht mehr wahrnimmt.Dieses Gebet hilft mir,Glauben und Alltag zu verbinden.Es macht mich aufmerksamer und dankbar.Denn Gott kommt wirklich in meinem Leben vor.Gott sei Dank! Und so hilft es mir auch oft,schon am Morgen mein Gebet mit meinem Terminkalender zu beginnen.Das ist gewissermaßen ein vorgezogenes Examen.Was kommt heute auf mich zu? Was ist am wichtigsten? Wo erbitte ich besonders Gottes Nähe und Beistand? ■ Thomas Gertler SJ Dem Göttlichen auf der Spur Ein gut gemachtes Examen ist der beste Weg zu Gott und zu einem selbst! Ein schlecht gemachtes Examen hilft wenigstens die Höhepunkte des Tages nachzuerleben. Die Herausforderung eines guten Examens liegt darin,dass ich in einer freien Form mich ehrlich und schonungslos vor Gott hinstelle,mich Ihm anbiete und mich vor Ihm prüfe:Wo habe ich Gott heute und in meiner Lebenswelt durchscheinen lassen? Wo habe ich den Willen Gottes in der Welt verwirklicht und nicht mich und meinen Willen zum Maßstab gemacht? Habe ich mir Mühe gegeben,das jeweils Bessere, Gottgefälligere den Tag hindurch zu leben? In meinem Examen rede ich mit Gott von Du zu Du;ganz intim.Als Hilfe bedarf es eines bewusst gesetzten Rahmens:am Anfang ein Kreuzzeichen und ein Stillwerden;am Ende ein kleines Gebet,oftmals das „Seele Christi“, welches mich stets Christus ganz nahe kommen lässt,oder ein „Vater Unser“. Im Examen schaue ich gemeinsam mit Gott den Tag an: Begegnungen und prägende Situationen,mein Handeln und meine Gefühle,Ruhezeiten und Herausforderun-

Dezember 2010/4 Jesuiten 19 gen.Welchen Menschen bin ich begegnet und welche Beziehungen habe ich gelebt? Inwieweit war mein Handeln auf die größere Ehre Gottes ausgerichtet,wo habe ich Ihn aufleben lassen? Ich bin dankbar für alles:Für das Schöne und Gute,die Freundschaften und seine Nähe.Ich bin aber auch dankbar für die schwierigen Momente,in denen mein Handeln nicht zum Besseren führte und in denen ich überfordert war.Augenblicke,in denen seine Gnade zwar ebenso anwesend war,ich sie jedoch übersehen oder nicht wahrgenommen habe. Am Ende lasse ich los.Ich übergebe meinen Tag und alle Erfahrungen Ihm,von dem ich alles empfangen habe und bitte Ihn,mich auch am nächsten Tag wieder reich mit seiner Gegenwart zu beschenken. ■ Felix Schaich SJ Wie mit einem Freund Die Situation ist mir vertraut:Ich habe mir mit einem Freund gerade einen Film im Kino angesehen. Der zweite Teil des Abends, der mindestens genauso wichtig ist wie der erste, besteht nun darin,sich auf dem Heimweg oder bei einem Bier über das eben Gesehene auszutauschen. Dabei braucht nicht der ganze Film erklärt und nacherzählt zu werden, denn mein Gesprächspartner war ja dabei,hat den gleichen Film gesehen wie ich.Trotzdem sind uns verschiedene Dinge aufgefallen und jeder erwähnt,was ihn besonders angesprochen oder berührt hat. Auch beim Examensgebet am Ende des Tages gehe ich den ganzen Tag vor meinem inneren Auge durch,jedoch bringe ich nur die Dinge ausdrücklich vor Gott,die mich beim Rückblick berühren,die einen inneren Geschmack zurückgelassen haben.Diese Momente bedeuten mir jetzt etwas und ich möchte sie mit Gott teilen und ihrer Bedeutung für mich nachgehen.Gott ist ohnehin heute bei mir gewesen,ich bin immer in seiner Gegenwart, ihm ist nichts verborgen.Dieses Bewusstsein begleitet mich,ausdrücklich oder unbewusst den ganzen Tag und schon sein Beginn ist davon geprägt:Herr,ich danke Dir für das Dasein in deiner Gegenwart. Im Gespräch wie mit einem Freund gehe ich denn Tag noch einmal durch und bitte Gott dabei,mir zu zeigen,was gut und gelungen war und auch wo ich mich von ihm abgewendet habe oder jemanden nicht gerecht geworden bin.Im Sinne des Heiligen Paulus schaue ich so auf meinen Tag zurück: „Gott erleuchte die Augen eures Herzens,damit ihr versteht,zu welcher Hoffnung ihr berufen seid“ (Eph 1,18). ■ Gunnar Bauer SJ © KNA-Bild

20 Jesuiten Schwerpunkt: Heiliger Alltag Schwerpunkt Im Vertrauen ankommen Ich stehe am Flughafenausgang in Kathmandu und weit und breit kein Bus,kein Auto,kein Taxi,kein Fahrrad.Und vor allem kein Pater Lawrence,Superior der Jesuiten in Nepal,der mich eigentlich abholen sollte.„Die Maos haben alles lahm gelegt.Geht wohl noch die ganzeWoche“,erklärt man mir.Ich war gerade dabei Plan B auszuarbeiten,als plötzlich ein Pick-Up mit bewaffneten Polizisten vor mir hält.Der Hauptmann fragt:„Fr.Klaus?“ Auf mein schüchternes Nicken hin werde ich ins Auto bugsiert und durch Straßen Kathmandus voller Demonstranten und Straßensperren zur Kommunität der Jesuiten gefahren. Jedes Jahr bin ich zehn bis zwölfWochen in den Entwicklungsländern unterwegs,die wir von der Jesuitenmission aus unterstützen.Nicht immer werde ich auf solch aufregende Weise vom Flughafen abgeholt,aber mit Überraschungen ist immer und überall zu rechnen. Unterwegs bin ich von vielen Menschen abhängig und kontrolliere viel weniger als zu Hause.Ohne Begleitung kann ich in Phnom Penh keinen Busfahrplan lesen,und im Restaurant in Kigali bin ich beim Bestellen auf fachmännische Beratung angewiesen.Allein möchte ich in Agua Blanca (dem größten Slum im kolumbianischen Cali) nicht unterwegs sein, und die Erklärungen über die von allen Fahrern anerkannten Regeln beim Überholen auf indischen Landstrassen beruhigen meine Nerven. Besonders auf Reisen wird mir deutlich,dass ich auf andere Menschen angewiesen bin:Jesuiten, Flugkapitäne,Taxifahrer, Passanten. Ohne Vertrauen wären solche Reisen eine Tortur voller Ängste,und ohne Gelassenheit ein nervöses Auf undAb.Vertrauen und Gelassenheit,das bedeutet für mich „unterwegs mit Gott zu sein“. ■ Klaus Väthröder SJ Pick-up mit Polizisten am Flughafen von Kathmandu Foto: Väthröder

Dezember 2010/4 Jesuiten 21 Schwerpunkt Gott in den Ohren liegen Es gibt immer wieder Situationen,die wir als besonders belastend oder befreiend empfinden – sei es in unserem eigenen Alltag oder in dem uns nahe stehender Menschen.Angst, Schmerz,Ärger wie auch Freude und Dankbarkeit suchen dann spontan Ausdruck in Worten.Bei religiös gestimmten Menschen geschieht dies häufig in Form von Stoßgebeten.In der Bibel finden sich viele Beispiele dafür:die Schreie der Israeliten in Knechtschaft oder Hungersnot,ihr Jubel nach dem Sieg über die Feinde,das Hadern der Propheten mit ihrem Amt,die Klage- oder Dankrufe des Psalmisten.Jesu Gebetsweise steht ganz in dieser Tradition.Wir kennen ihn Gott freudig lobend, aber auch in Todesangst inständig bittend und schließlich am Kreuz in Gottverlassenheit aufschreiend. Auch Ignatius von Loyola hat sich in Stoßgebeten an Gott gewandt.Als ihn Selbstmordgedanken plagten,rief er immer wieder: „Herr,ich werde nichts tun,was dich beleidigt!“ Ein anderes überliefertes Stoßgebet lautet:„Mein Gott,wenn dich die Menschen kennen würden!“ Und in seiner Sterbestunde hörte man ihn seufzen „Ay Dios,Ay Jesus“ „O Gott,O Jesus“. Stoßgebete sind Ausdruck von starken Gefühlen.Indem wir sie äußern,erfahren wir Trost und Hilfe in unserem Alltag.Bei meiner Arbeit als Seelsorger in der Abschiebehaft begegne ich häufig Menschen,die sich in großer Unruhe befinden.Sie fragen:„Warum bin ich eigentlich eingesperrt? Ich habe doch nichts verbrochen.“ Tatsächlich ist Abschiebehaft lediglich eine Verwaltungsmaßnahme zur Sicherung der Ausreise.Sie dauert mitunter nur wenigeWochen, kann sich aber auch über viele Monate hinziehen.Dementsprechend groß ist die Unsicherheit der Betroffenen: nicht allein über die Haftdauer,sondern auch über den Ausgang des Verfahrens – ob es tatsächlich zur Abschiebung kommt oder aber zur Freilassung.Meine Stoßgebete begleiten diese Unsicherheit und werden je nachdem zu Fürbitten und Dankrufen. Wie kann man nun konkret beten? EineWeise ist der Seufzer oder Jubelruf,wie er gerade über die Lippen kommt.Eine andere die immer gleiche Verwendung einer Gebetsformel wie etwa „Herr,erbarme dich!“. Wieder eine andere der einfache Anruf des Namens Jesu,in manchen Gegenden traditionell erweitert auf „Jesus Maria (und Josef)!“.Dem eigenenTemperament sind keine Grenzen gesetzt.Letztlich geht es darum,dass wir Gott nicht in Ruhe lassen mit dem,was uns bewegt. ■ Dieter Müller SJ Ignatius von Loyola:Gemälde von S.Conga (um 1750). Jesuiten-Universität Salamanca ©SJ-Bild

22 Jesuiten Geistlicher Impuls Geistlicher Impuls Gelassener rumsitzen Eine bemerkenswerte Bibelstelle ist der erste Satz, den Jesus im Neuen Testament sagt. Er steht innerhalb der Erzählung von der Taufe Jesu bei Matthäus. Johannes der Täufer hat sich geweigert,Jesus zu taufen und dabei ähnlich argumentiert wie später Petrus bei der Fußwaschung:Das verkehrt doch unsere Rollen,andersherum wäre es richtig.Daraufhin entgegnet Jesus dem Johannes:„Lass es nur zu.“ (Mt 3,15) Aus der Situation der Taufe am Jordan herausgehoben, kann dieses Wort eine grundsätzlichere Deutung bekommen und einen Perspektivwechsel ermöglichen. Plötzlich in der Luft hängen An manchen Tagen verpuffen unser Elan und unsere Schaffenskraft ganz einfach dadurch, dass die Dinge völlig anders laufen als wir sie uns ausgemalt hatten.Nur schnell noch einkaufen fahren – und dann ewig im Stau stehen.Kurz den Zahnarzttermin wahrnehmen – und wegen eines Notfalls doch eine Stunde später drankommen.Statt das eine Stockwerk zu laufen – zehn Minuten auf den Aufzug warten.Wenn wir in unseren alltäglichen Geschäften aufgehalten werden ohne darauf eingerichtet zu sein,hängen wir auf einmal im Leeren.Schnell kommt das Gefühl auf,hier doch nur Zeit zu verlieren. Wo so viele wichtigere Dinge warten. Zeitverlust ist Zeitgewinn Doch:Kann man tatsächlich Zeit verlieren? Natürlich kann man das, wenn derTag nur aus Zeitkontingenten und Zeitfenstern besteht,in denen möglichst viele Dinge zu passieren haben.Wenn der Tages-, der Wochen-, ja der Monatsplan aus dem Takt gerät, weil eine einzige Sache nicht passiert oder auf sich warten lässt.Besteht meine Lebenszeit in erster Linie aus dem schönen Plan,den ich daraus mache, so kann ich eine Menge Zeit verlieren mit Dingen,die diesem Plan nicht dienen. Doch Gott entplant das Leben:Lass es nur zu, dass es anders wird.Wenn der Bus Verspätung hat; wenn derTyp mit dem Schlüssel als letzter zum Treffpunkt kommt; wenn die Bahnschranke gerade jetzt runtergeht.Wir müssen nicht mit dem Gefühl leben,dass uns dann Zeit geraubt wird oder dass wir Zeit verlieren. Vielmehr ist es genau andersherum:Die ungeplanten Verzögerungen oder Stolpersteine schenken uns Zeit.Durch sie gewinnen wir Zeit,die wir gar nicht im Blick hatten. Die Unterbrechung gelassen annehmen Aber wie nimmt man ein solches ungebetenes Geschenk an? Wie geht man mit Zeit um, die man an anderer Stelle viel besser gebrauchen könnte? Sicher nicht so,dass die gewonnene Zeit sofort wieder vernutzt und in meine Pläne eingebaut wird.„Dann kann ich ja noch schnell nebenbei...“ dies oder das tun. Manchmal bietet sich das natürlich tatsächlich an.Dann wird der Plan einfach nur in einer alternativen Variante weiterverfolgt. Stattdessen kann genau hier jedoch ein Freiraum entstehen.Eine Unterbrechung für etwas,das mehr ist als unser Plan.Ein Eingang Gottes.Wenn wir es nur zulassen. Zunächst ist die Unterbrechung einfach eine Entzerrung. Ich bin an manchen Tagen dankbar,dass die Geschwindigkeit meines Alltags durch solche Situationen wenigstens ein bisschen ausgebremst wurde.Die Hektik hatte für

RkJQdWJsaXNoZXIy MjIwOTIwOQ==