Jesuiten 2011-3

Altwerden ISSN 1613-3889 2011/3 Jesuiten

Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Deutschland – eine Gesellschaft des langen Lebens 5 Kinder sind überall 6 Altert die Kirche? 8 Perspektivwechsel 9 Altwerden im Orden 10 Wandel des Jesusbildes 12 Hat Ignatius an altwerdende Jesuiten gedacht? 14 Freiwilliges soziales Jahr mit 60 17 Vom Tod sprechen – ein Tabuthema im Alter? 18 Denn meine Augen haben das Heil gesehen 21 Altes Antlitz – Gesicht des Lebens Geistlicher Impuls 22 Das Wort Gottes ist kein Text Personalien 24 Jubilare Verstorbene Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Medien 29 Zeugen für Christus Vorgestellt 30 Ignatianische Impulse 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Die besondere Bitte Atemholen der Seele 37 Atemholen der Seele Inhalt Ausgabe 2011/3 2011/3 Titelbild Peter Bares © Photowerkstatt Esser / Baus Küstlerphotographien von Hermann J. Baus und Clärchen Baus-Mattar. Ausstellungskatalog der Kunst-Station St. Peter / Köln 2005 HCM BAUS Portraits

September 2011/3 Jesuiten 1 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran. Mit 66 Jahren, da kommt man erst in Schuss. Mit 66 Jahren, ist noch lang noch nicht Schluss.“ Dieses Lied von Udo Jürgens aus dem Jahr 1978 wurde zu einem seiner größten Hits. Sein Erfolg über Jahrzehnte hinweg ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass die Aussagen dieses Lieds eine Sehnsucht vieler Menschen berühren: Im Alter sich eben nicht zur Ruhe setzen zu müssen, sondern noch einmal richtig aufleben zu können. Werde ich mir dann endlich meineTräume erfüllen können, wenn ich nicht mehr jeden Tag zur Arbeit gehen muss? Der Ruhestand ist in unseren Breiten mit der zunehmenden durchschnittlichen Lebenserwartung zu einer eigenen, oft durchaus langen Lebensperiode geworden, die wir gestalten können und gestalten müssen. Vielleicht berührt dieses Lied aber auch eine verdeckte Sorge:Wie werde ich mein Leben empfinden, wenn ich alt werde, nicht mehr so mobil bin, wenn ich sogar auf Hilfe angewiesen bin? Können wir dem Altwerden aber auch als Hingehen auf das Sterben ins Auge blicken? Unsere Kultur hat sich hierin gravierend gewandelt. Bis vor noch nicht allzu langer Zeit wollten viele gläubige Christen sich gut auf den Tod vorbereiten können. Denn nur so konnte man sein Leben wirklich getröstet in Gottes Hand legen. Dazu gehörte, sich in der Hoffnung auf Auferstehung von seinen Angehörigen zu verabschieden und sie um ihr Gebet zu bitten. Besonders aber wollte man nicht aus der Welt scheiden, ohne sich in der Beichte mit Gott versöhnt, ein letztes Mal die Heilige Kommunion und die Krankensalbung als Stärkung für den letzten Weg empfangen zu haben. Heute dagegen ist der größte Wunsch vieler Menschen, möglichst unbemerkt zu verscheiden, ohne eine lange Zeit des Leidens, ohne anderen Menschen zur Last zu fallen, ohne nur mehr von Maschinen am Leben gehalten zu werden. Doch haben die Fortschritte der modernen Medizin unser langes Leben überhaupt erst möglich gemacht. Altern geschieht aber überhaupt nicht nur am Lebensende! Unser gesamtes Leben ist vom Älterwerden geprägt. Junge Menschen wollen älter und damit reifer werden. So ist Altwerden auch von inneren und äußeren Absetzungsbewegungen und Auseinandersetzungen geprägt: Es ist herausfordernd – und kann doch so gelebt werden, dass man einfach im Jetzt lebt. Wie kann ein christlicher Zugang zu diesen vitalen Fragen heute aussehen? Wie können Christen ihr Altwerden gestalten?Welche geistlichen Haltungen helfen dabei? Mit diesen und vielen anderen interessanten Fragen rund um das Thema „Altwerden“ haben sich die Autoren dieser Ausgabe persönlich beschäftigt. In ihren Artikeln und kurzen pointierten Statements geben sie uns Einblick davon und hoffen, auch Ihnen damit Anregungen zum Weiterdenken zu geben – seien Sie jung oder schon in reiferen Jahren, denn betreffen wird es uns alle! Einen Einblick ins Altwerden anderer Art bieten die ausdrucksstarken Portraits alter Menschen. Wir danken Clärchen und Hermann Baus,die uns ihre Photographien für dieses Magazin überlassen haben, und freuen uns, damit ein Bildprogramm gestalten zu können, das den Blick zentriert auf das Geheimnis unseres von Gott geschaffenen Lebens. Eine gute Lektüre wünschen Ihnen Bernhard Knorn SJ Tobias Zimmermann SJ

2 Jesuiten Schwerpunkt: Altwerden Schwerpunkt Deutschland – eine Gesellschaft des langen Lebens Wir leben in einer Gesellschaft des langen Lebens. Immer mehr immer ältere Menschen stehen immer weniger jüngeren Menschen gegenüber;immer weniger Kinder werden geboren. Noch nie zuvor haben so viele Menschen eine so lange Lebenszeit gehabt wie heute.Sehen wir darin nicht ein Problem,sondern eine Chance! Wir alle werden älter: von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr. Dass wir älter werden, daran können wir nichts ändern.Aber wie wir älter werden, das haben – zum Teil – wir selbst in der Hand. Es kommt doch nicht nur darauf an,wie alt wir werden, sondern wie wir alt werden. Es gilt, nicht nur dem Leben Jahre, sondern den Jahren Leben zu geben. Freuen wir uns über die zunehmende Langlebigkeit und bemühen wir uns, dass aus den gewonnenen Jahren erfüllte Jahre werden! Wir leben in einer alternden Welt.Wir haben nicht nur eine enorme Zunahme der über 60Jährigen (um 1900 waren es gerade 5%, heute sind es rund 25% und bald werden es mehr als ein Drittel sein), sondern auch eine Zunahme des Anteils der über 70- bis 80-Jährigen. 90und Hundertjährige sind bei uns keine Seltenheit mehr. Heute leben in Deutschland mehr als eine halbe Million Menschen, die 90 Jahre und älter sind, weit über 10.000 sind sogar über hundert Jahre alt. In 15 Jahren steigt die Zahl der über 90-Jährigen auf über eine Million, die der über 100-Jährigen auf über 44.000. Und im Jahr 2050 werden wir (bei einer Reduzierung der Gesamtbevölkerung von jetzt 81,7 Millionen auf dann um die 70 Millionen) über zwei Millionen über 90-Jährige und über 114.000 „Centenarians“ haben. Im Jahr 2010 gratulierte der Bundespräsident 5688 Personen zum runden 100. Geburtstag und 443 zum 105. und höheren. Die Gruppe der „Hochaltrigen“ ist weltweit die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe. Die übliche Einteilung, von den sog. „jungen Alten“ und ab 80/85 von den „alten Alten“ zu sprechen, ist problematisch. Manch einer ist schon mit 55/60 ein „alter Alter“, andere sind noch mit 90 „junge Alte“. Das „functional age“ ist ausschlaggebend, die Funktionsfähigkeit verschiedener körperlicher und seelisch-geistiger Fähigkeiten. Und diese Funktionsfähigkeiten sind keinesfalls an ein chronologisches Alter gebunden, sondern werden von biologischen und sozialen Faktoren, die während eines ganzen Lebens auf uns einwirken, mitbestimmt. Viele Studien haben nachgewiesen:Je älter wir werden,um so weniger sagt die Anzahl der Lebensjahre etwas aus über Fähigkeiten, Fertigkeiten, Interessen, überVerhaltens- und Erlebnisweisen. Gleichaltrige zeigen oft größere Unterschiede als Menschen, deren Altersunterschied 20 oder 30 Jahre beträgt. Altern ist stets das Ergebnis eines lebenslangen Prozesses mit ureigensten Erfahrungen, mit ganz individuellen Formen der Auseinandersetzung mit Problem- und Belastungssituationen. Unsere geistige Aufgeschlossenheit, unsere Ausbildung, unser Interesse, aber auch unsere sportliche Betätigung und körperliche Aktivität beeinflussen den Alterszustand und den Alternsprozess. Der Bonner Philosoph Erich Rothacker hat schon 1938 in seinem Buch „Die Schichten der Persönlichkeit“ in einem Exkurs „Altern und Reifen“ festgestellt:Während die medizinische Altersforschung überwiegend damit beschäftigt ist, ein mit dem Alter verbundenes Nachlassen der Organe zu prüfen, zeigt die Analyse der kulturellen Dokumentationen

September 2011/3 Jesuiten 3 geistigen Schaffens,„dass die größten geistigen Leistungen oft gerade in Lebensaltern gelingen,in denen die Leistungsfähigkeit vieler einzelner Organe und Funktionen bereits wesentlich nachgelassen hat“. Die Reifungskurve geistiger Fähigkeiten geht in die Höhe, während die körperliche Alterskurve oft sinkt und körperliche Probleme zunehmen. Ähnlich hat man das Älterwerden mit einer Bergbesteigung verglichen: Je höher wir hinaufkommen, umso mehr lassen unsere körperlichen Kräfte nach, aber umso schöner und lohnender ist die Aussicht. Doch das Alter hat viele Gesichter – individuelle Unterschiede treten deutlich hervor. Hans Thomae, einer der Mitbegründer der Gerontologie, stellt ähnlich fest: „Die Reifekurve ist diejenige der zunehmenden Präzision,Verlässlichkeit und Differenziertheit von Äußerungen und Wirkungen, sie ist das Ergebnis höchstmöglicher Integration von Erfahrung undVerhalten.“ Er beschreibt den Vorgang der Reifung als „zunehmende Durchdringung aller Abläufe mit eigenen Grunderfahrungen, ihrer Integration zu bestimmten Zielen und Einstellungen hin“.Thomae sieht auch als einen MaßErich Bödeker

stab der Reife, „wie der Tod integriert oder desintegriert wird“, wie das Dasein im ganzen eingeschätzt und empfunden wird, als gerundetes oder unerfüllt und Fragment gebliebenes; wie Versagungen, Fehlschläge, Enttäuschungen, die sich auf einmal als endgültig abzeichnen,abgefangen oder ertragen werden;wie Lebenslügen, Hoffnungen, Ideale, Vorlieben, Gewohnheiten konserviert oder revidiert werden.“ Und schließlich heißt es: „Güte, Gefasstheit und Abgeklärtheit sind Endpunkte zu einer Entwicklung zur Reife hin, Verhärtung, Protest, ständig um sich greifende Abwertung solche eines anderenVerlaufs.“ Eine positive Einstellung zum eigenen Alter, ein Pro-Aging wird natürlich auch erheblich beeinflusst durch die Gesellschaft, in der wir leben: vom Ansehen, der Stellung, der Wertschätzung, die die Gesellschaft dem alten Menschen entgegenbringt. Eine durch Jugendwahn gekennzeichnete Gesellschaft, die das Alter ablehnt, in der ein negativ getöntes Altersbild vorherrscht, macht es dem Einzelnen natürlich schwer, zum Älterwerden Ja zu sagen. Doch es gibt begründete Hinweise, dass sich in den letzten Jahren das Altersbild weiter differenziert hat und die Gesellschaft zunehmend mehr auch die positiven Aspekte des Alterns wahrnimmt, wie der 6.Altenbericht der Bundesregierung von 2010 darlegt. „Altern in dem positiven Sinne des Reifens gelingt dort, wo die mannigfachen Enttäuschungen undVersagungen, welche das Leben dem Menschen in seinem Alltag bringt, weder zu einer Häufung von Ressentiments, von Aversionen oder von Resignation führen, sondern wo aus dem Innewerden der vielen Begrenzungen eigenen Vermögens die Kunst zum Auskosten der noch gegebenen Möglichkeiten erwächst.“ (Hans Thomae, 1959) Sehen wir nicht nur Grenzen, sondern sehen wir die verbliebenen Möglichkeiten – und nutzen wir diese: Carpe diem! Ursula Lehr 4 Jesuiten Schwerpunkt: Altwerden Quelle: Statistisches Jahrbuch 2005, Schätzung aufgrund der zehnten koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung http://www.berlin-institut.org/ fileadmin/user_upload/PDF/ pdf_Lehr_Alterung.pdf

September 2011/3 Jesuiten 5 Schwerpunkt Kinder sind überall! Begegnung mit einer jungen Gesellschaft Als Praktikant bin ich in Deutschland ins Flugzeug eingestiegen.Angekommen im Südsudan, begrüßten mich die Menschen mit „Abuna“ – UnserVater/Pater! Da ich weder Priester noch Vater, sondern ein Ordensstudent mit Ende 20 war, fand ich mich gleich zu Beginn meines Freiwilligeneinsatzes in einer ungewohnten Rolle.Auf einmal war ich viel älter. Während das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland bei 45 liegt, sind es im Südsudan 18 Jahre. Über die Hälfte der Menschen ist jünger als 18, hierzulande ist es weniger als ein Viertel. Wir können erwarten, 80 Jahre alt zu werden.Viele Menschen im Südsudan sterben viel früher, und zwar durchschnittlich mit 42. Was diese Zahlen andeuten, sieht man dort auf den ersten Blick: Kinder sind überall! Sie spielen vor den Häusern, man trifft sie am Weg zum Brunnen mit Wasserkanistern auf dem Kopf, sie arbeiten vor und nach der Schule am Feld, und abends laufen ganze Scharen zum Bolzplatz, wo sie einen Fußball aus zusammengeknoteten Stofffetzen auf das Tor schießen. Ich arbeitete in Dörfern, in die viele Menschen aus Flüchtlingslagern zurückkehren und nach über 20 Bürgerkriegsjahren eine Zivilgesellschaft aufzubauen versuchen. Dabei half ich den Katecheten mit dem Aufbau von Kirche. Diese ehrenamtlichen Gemeinde- und Gottesdienstleiter sind oft zwischen 17 und 25 Jahre alt.Viele von ihnen sind Lehrer, die kurz nach ihrem eigenen Schulabschluss begonnen haben, die vielen Kinder zu unterrichten. Da man mit 15 bis 20 heiratet, tragen einige auch schon eine große Verantwortung als Familienväter oder Mütter. Während ich hierzulande nicht selten zu den jüngsten Gottesdienstbesuchern zähle,war ich dort einer der älteren,denn in die Kirche gehen vor allem Kinder und Jugendliche.Wirklich alte Leute gibt es in diesen Dörfern nur wenig. Sie werden als „Älteste“ sehr geehrt und haben sogar eine besondere Anrede: Mit „Mama“ spricht man eine alte, ehrwürdige Dame an, als „Mzee“ einen solchen Herrn. Sie verkörpern Weisheit,Autorität und Tradition. Alt zu werden ist im Südsudan nicht so sehr mit Sorgen verbunden, sondern mit einer großen Sehnsucht: Werden wir es schaffen, eine Gesellschaft aufzubauen, in der nach Zeiten von Krieg und Chaos Traditionen und Routine entstehen, die das Zusammenleben leichter machen? Und werden wir endlich einmal zu Hause alt werden können, ohne wieder fliehen zu müssen? Bernhard Knorn SJ Glaubensbiographie Wenn ich aus dem Berufsleben aussteige, kann ich beginnen, mehr über mich und mein Leben nachzudenken: Manches ist unversöhnt und anderes, woran ich zu sehr hänge, müsste ich loslassen lernen. Ich versuche meine Glaubensbiographie zu erschließen:Wie hat der Glaube und das Nichtglauben mein Leben bestimmt? Welche Ziele und Pläne hatte ich, was habe ich erreicht und was nicht? Welche Höhepunkte gab es, wie prägte aber auch das einfache kirchliche Leben meinen Alltag? Welche wichtigen Worte kommen mir immer wieder in den Sinn, wo entdecke ich Schönheit? So beginne ich, mein Leben, wie es war, in Demut und ganzheitlich zu akzeptieren. Cordula Hausner-Wienold Seniorenstudentin in Sankt Georgen

6 Jesuiten Schwerpunkt: Altwerden Schwerpunkt Altert die Kirche? Das ist eine merkwürdige Frage – ich stolpere über sie. Bekommt die Kirche Falten, Osteoporose, Abnutzungserscheinungen aller Art – eben wie alternde Menschen? Setzt sie Moos an, wie die alte Burg bei dem Ort, wo ich aufgewachsen bin? Oder entwickelt sie tiefe Wurzeln und blüht immer wieder, wie der (angeblich) 1000-jährige Rosenstock in Hildesheim? Aber das sind nur Bilder, um mich ein wenig dem Thema anzunähern. Neuer Ansatz: Ist die Kirche in die Jahre gekommen – und das hat ja auch mit Altern zu tun –, wenn die meisten leitenden Personen über 60, 70 oder 80 Jahre alt sind (wie auch die meisten Gemeindeglieder)?Wenn sie übervorsichtig, ängstlich wird, nur die Ordnung im Sinn hat – gut ist, was früher war? Wenn manches an die Frau von Lot erinnert, die zurückblickt und zur Salzsäule erstarrt? Hütet sie nur noch die Asche, wie ein Freund spontan meinte? Ich rufe mich zur Ordnung: Es gibt doch gottesdienstliche Gemeinschaften, Gruppen, die leben, Menschen, die glauben, die ihren Glauben leben in der Welt. Und überhaupt: Mein Bild von der Kirche als einer göttlichen Gründung durch Gottes Sohn in der Welt – nicht von der Welt –, der Gemeinschaft der Heiligen, derer, die schon da waren, gegangen sind, derer, die jetzt da sind und derer, die kommen werden … ER hat zugesagt, bei ihnen, bei uns zu bleiben, bis zum Ende der Welt – da steckt ja der Zeitaspekt drin, und zwar als eine Zusage gewissermaßen für „alle Zeit“! In der Zeit zu stehen, ist für die Lebenden das „Normale“ – darin zu arbeiten, den Glauben zu leben. Damit ist auch das Altern des Einzelnen – er ist ein Mensch – normal. Er sitzt damit auf der „Zeitschiene“ – aber da darf die Kirche als Stiftung Gottes und zugleich als ständigesWerk der Menschen nicht ihren einzigen Sitz haben. Ihr Ort ist die Erde – aber ihr Geist kommt von Gott, und da hört die schlichte Zeit auf. Da stecken Potenzen, Gaben, Fähigkeiten, Aufgaben drin, die über einfach Humanes, Vitales, Zeitliches qualitativ hinausgehen. Die Kirche darf das nicht vergessen – sie darf diesen Geist nicht vergessen, nicht verlieren oder Aus dem Kleinen leben Die Rückschau auf das Leben kann einen ins Grübeln bringen:Welche Bedeutung hatte es eigentlich? Es lief doch alles so alltäglich und gewöhnlich ab.Was habe ich denn schon bewegt? Doch sollten wir uns nicht irre machen lassen.Auch das Kleine, Alltägliche hat im menschlichen Zusammensein Wirkungen entfaltet, die anderen von Nutzen waren; und wenn auch noch so gering. Doch vom Kleinen leben wir. Ich kann dankbar sein, was Gott in seiner Güte durch unser Dasein in der Welt möglich macht. Jesu Abschiedsreden (Joh 1417) zu meditieren schenkt Zuversicht und vor allem Vertrauen, dass letztlich alles, aber auch alles gut ausgeht, dank der Liebe Gottes zu uns. Paul Greif SJ, Frankfurt

September 2011/3 Jesuiten 7 womöglich auslöschen, sonst altert sie – wie alle Geschöpfe – und stirbt eines „natürlichen“ Todes. Wahrscheinlich passt das Bild vom 1000-jährigen Rosenstock in Hildesheim nicht so ganz, aber immerhin widersetzt er sich schon eine lange Zeitspanne dem Gesetz des Alterns und Sterbens – und er blüht! Gerburg Thunig-Nittner Prof. Dr. Edeltrud Meistermann

8 Jesuiten Schwerpunkt: Altwerden Schwerpunkt Perspektivwechsel Von der geistlichen Herausforderung, „Nachfolger“ zu sein. Seit zwei Jahren bin ich „der neue Gemmingen“.Im Oktober 2009 habe ich bei RadioVatikan die Nachfolge von Pater Eberhard von Gemmingen, bekannt durch Funk und Fernsehen, angetreten. Und seitdem werde ich immer und immer wieder so vorgestellt.Das liegt wohl daran, dass man sich nicht so richtig vorstellen kann, was das denn ist, Radio Vatikan, und da ist die Einführung über eine Person viel einfacher. Das ist natürlich auf der einen Seite schmeichelhaft: Man wird eingeladen, bekommt Zugang und ist gefragt. Ich reite auf den Leistungen meinesVorgängers. Es hat aber auch eine zweite Seite, die man besonders spürt, wenn das nach zwei Jahren immer noch die gängige Anrede ist. Nach zwei Jahren will ich nicht mehr „der neue Gemmingen“ sein. Erstens bin ich Nachfolger einer Person. Das ist schwierig genug, aber gehört zu jeder Arbeit dazu. Da sind die Erfahrungen und Erwartungen der Mitarbeiter, und generell das, was am Charisma einer Person und seiner Leistung hängt. Das geht aber jedem so, der eine Aufgabe von jemand anderem übernimmt. Und es ehrt Vorgänger wie Nachfolger, wenn es glatt und menschlich vonstatten geht. Zweitens bin ich aber auch Nachfolger einer Rolle, einer Figur. Das ist noch einmal eine eigene Art der Herausforderung. Die Figur bildet sich ja erst allmählich im Zusammenspiel mit der Öffentlichkeit heraus, sie wird erst langsam zu einer Rolle. Im Fall von Radio Vatikan sind es die Medien, die Telefoninterviews, die Talkshows, die Kurzkommentare. Der Name Gemmingen steht für jahrelange Präsenz als „Papsterklärer“, als Kommentator zum Geschehen in Rom. Damit ist die Figur auch eine öffentliche, und gerade die mediale Öffentlichkeit ist eine unbarmherzige Herrscherin: Sie will Rollen besetzt sehen. Es geht weniger um den Menschen, sondern um das, wo er sendbar und fragbar ist.An Gemmingen wusste man, was man hatte. Das hat erstens zur Folge, dass es immer noch Radio-VatikanGemmingen Interviews gibt. Das hat aber auch die noch schwierigere, weil weniger fassbare Folge, dass mir mit ähnlichen Erwartungen begegnet wird. „Der neue Gemmingen“ sein ist immer auch Code für die Frage: „Sie werden doch wohl auch so sein, oder?“ Nein, das werde ich nicht. Das erzeugt Irritation und Kopfschütteln, bei einigen Hörern auch mehr. Aber das muss man aushalten. Das ist eine gute Gelegenheit, klassische Tugenden wiederzuentdecken. Die Demut, nicht gleich selber so bekannt und gefragt zu sein, wie derVorgänger es war, und die Geduld, dass mit der Zeit die eigenen Wegmarken gesetzt werden können. Ab und zu ertappe ich mich bei derVorstellung, wie es denn wohl meinem Nachfolger, wann auch immer das sein wird, gehen wird. Genauso wie mir? Es ist ein Gedankenspiel, und vielleicht sogar eine geistliche Übung:Ich lerne,die Übernahme meiner Rolle und die immer noch sehr präsente Rolle „Gemmingen“ nicht ganz so wichtig zu nehmen. Wenn ich dann in 10 oder 20 Jahren oder wann auch immer selber weggehe und mein dann junger Nachfolger als „der neue Hagenkord“ eingeführt wird und sich bei mir beschwert, dann spätestens werde ich über all das lachen können. Bernd Hagenkord SJ

September 2011/3 Jesuiten 9 Schwerpunkt Altwerden im Orden Im Gespräch mit Friedhelm Hengsbach SJ Bedeutet „Ruhestand“ für Dich ein Versprechen oder eine Drohung? Ich lebe eigentlich aus dem, was im Augenblick gerade läuft. Ich habe kein Lebenswerk geschrieben, sondern meistens bloß auf aktuelle Herausforderungen reagiert. Das erschwert natürlich die langfristige Überlegung „Was kommt dann?“ Ich weiß nicht,ob ich das bedauern soll,oder ob das die Form ist,wie ich lebendig bleibe. Was hat sich seit Deinem Umzug von Sankt Georgen ins Heinrich Pesch Haus geändert? Seit der Emeritierung stelle ich mich ganz den Anfragen von außen.Damit habe ich einerseits viel Autonomie gewonnen, andererseits stolpere ich wegen der Zahl der Anfragen auch gleichsam vor mir her. Das ist das, was Du „Kampf um die Zeitautonomie“ nennst. Ja, dann bleiben alle guten Vorsätze liegen. Nach meiner Operation habe ich mir in Frankfurt ein Zimmer eingerichtet, wo Bücher stehen, wo ich Musik hören und persönliche Briefe schreiben kann. Ich versuchte mir dafür den Sonntag freizuhalten – frei von EMails und Dienstverpflichtungen. Das mache ich hier auch – zumindest als Anspruch. Aber der Druck von außen ist noch so groß, dass ich nur selten das tun kann, was ich tun möchte. Du lebst also alles andere als einen „Ruhe“-Stand? Wenn Du auf der Bühne stehst und die Leute das interessiert, was du sagst, bist du natürlich gut drauf.Wenn das mal nicht mehr der Fall ist, wüsste ich nicht, wie ich dann drauf bin. Jetzt träume ich vom Lesen über Astronomie, von Fahrten nach Israel, Andalusien oder der Seidenstraße.Aber ich bin mir sicher, das bleiben Wünsche, die nie realisiert werden. Pater Pfeifer hier im Haus lebt ein ganz anderes Modell von Ruhestand. Mit Abbau von Arbeit, Pflege von Privatkontakten, Freizeit. Hat das für Dich keinen Reiz? Nein, noch nicht! Könnte sein, dass ich mir in seinem Alter mehr Zeit dafür nehme.Aber ich sollte bereits jetzt auf ein weniger aufgeregtes und mehr ausgeglichenes Leben achten. Was verhindert das? Ein Schuss Workaholic-Mentalität. Jesuitenorden, Verzicht auf Partnerschaft passen dazu. Schon die Schule hat mich wenig interessiert. Ich war immer anderswo engagiert:in Jugendgruppen, in der Gemeinde. Ich wollte was tun. Also vita activa. In meiner Generation hat der Orden das relativ schrankenlos zugelassen. Gehst Du mit Dir jetzt anders um als früher? Ja, ein Einschnitt war das Terziat 1984, wo wir drei Monate intensiv Yoga geübt haben. Das war für mich eine Entdeckung.Wichtig ist mir auch die Meditation, die wir hier gemeinsam machen. Kommunitätsmesse, mittags durch die Wiesen laufen, ganz früh fünf Minuten – dies sind Sternzeiten geworden, vor denen ich mich nicht drücken mag. Ich will auch mehr strikte Ruhezeiten. Drei bis vier Wochen Ferien im Jahr in den Bergen, auf dem Radl sind für mich sehr wichtig. Dürfte man Dir sagen, dass Du jung aussiehst? Manche Ältere wollen das ja gar nicht hören. Ach, das stört mich nicht! Ich bin halt relativ gesund. Das ist eine Gabe, für die ich nicht dankbar genug sein kann. Zudem bewege ich mich in häufig wechselnden Milieus.Das kann nerven.Aber es ist auch extrem anregend. Die Fragen stellte Johann Spermann SJ.

10 Jesuiten Schwerpunkt: Altwerden Schwerpunkt Wandel des Jesusbildes „Als ich ein Kind war,redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war.“ Diese Worte des Apostels Paulus in 1 Kor 13,11 fallen mir ein, wenn ich über den Wandel meines Jesusbildes im vorgerückten Alter nachdenke. In meiner Jugendzeit war Jesus vor allem der göttliche Lehrer und Meister. Ich begegnete ihm in den Gottesdiensten und Sakramenten der Pfarrgemeinde und war fest davon überzeugt, dass die katholische Kirche der eine Heilsweg sei, den Gott für alle Menschen bestimmt habe. Ich wollte so gut wie möglich dazu beitragen, dass alle diesen Weg fänden und gehen würden. Sogar unsere Laienspiele hatten dieses Ziel: etwa die Hirten an der Krippe, die Gestalt des Pilatus, die Bekehrung des Saulus. Nachdem ich inzwischen fast 80 Jahre alt geworden bin, denke ich mehr an Jesu Abschiedsreden als an sein irdisches Leben. Mich fasziniert etwa seine Rede in Joh 16,7: „Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden.“ Manche fragen sich, was Jesus eigentlich damit sagen will. Deshalb halte ich die Erklärung des bekannten Kirchenlehrers Augustinus für berechtigt: „Es ist, als würde er sagen: ich wohne zwar als fleischgewordenesWort unter euch,aber ich will nicht,dass ihr mich noch fleischlich liebt und Kinder sein wollt, die mit dieser Milch zufrieden sind … Wenn ich euch die leichten Speisen,mit denen ich euch nährte, nicht entziehe, werdet ihr nicht nach fester Speise verlangen … Ihr könnt den Geist nicht fassen, solange ihr fortfahrt, Christus dem Fleische nach zu kennen.“ Was Augustinus hier meint, könnte man auch etwa so ausdrücken: Unser Blick muss immer wieder neu auf die befreiende Gabe Gottes selbst gerichtet werden. Alles in der Zeit Erlebte ist doch nur ein Gleichnis. Die christliche Offenbarung besteht jedenfalls nicht aus einem abgeschlossenen Komplex von Sätzen. Der Heilige Geist erinnert uns zwar an alles, was Jesus seinen Jüngern gesagt hat (Joh 14,26). Aber gerade deshalb glaube ich, dass wir dasWort vom guten Fortgehen Jesu wirklich ernst nehmen sollten.Wenn schon er von sich sagt „Es ist gut für euch, dass ich fortgehe“, dann gilt das in ähnlicher Weise auch von seinen Nachfolgern. Diese sollen gewiss nicht verantwortungslos davonlaufen, sich aber in ihrer vorläufigenVergänglichkeit auch nicht zu wichtig nehmen. Zweifellos habe ich im Alter auch andereWorte Jesu vor Augen, etwa „Ich bin die Tür“ (alMit dem Kreuz tragenden Herrn Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich, was Ignatius von Loyola damit meinte, Gefährte des kreuztragenden Herrn zu sein.Wenn ich merke, dass ich nicht mehr so arbeiten kann wie früher, möchte ich das realistisch annehmen:Aber nicht als Reduktion, sondern als Anruf in die Nähe des Herrn. Ich bemühe mich, immer deutlicher den roten Lebensfaden, den der Herr mit mir in meinem Leben gegangen ist, zu erspüren und zu erkennen: wie der Herr in allem mitgegangen ist und wie er mich geführt hat.Aus dem heraus, was er in meinem Leben wachsen ließ, kann ich immer wieder anderen Menschen beistehen und helfen. Klaus Peter SJ, Leipzig

September 2011/3 Jesuiten 11 so der einzige Zugang zu Heil und Leben) und „Ich bin der gute Hirt“ (die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber) und „Ich und derVater sind eins“ (Joh 10,7.11.30). Aber ich verstehe sie jetzt nicht mehr so totalitär und unrealistisch wie vor etwa 60 Jahren. Damals wurde die absoluteWahrheit mit überlieferten Ausdrucksformen naiv gleichgesetzt. Der Anspruch Jesu hat aber ein ganz anderes Gesicht. Gewiss ist Jesus die endgültige Offenbarung Gottes. Aber in seinen Werken geht es immer um das Heil aller Menschen. Jesus, der wahre Gottessohn, will in erster Linie die befreiende und helfende Liebe bezeugen, in der die ganze Menschheit geeint und versöhnt werden kann. Sein Absolutheitsanspruch ist zu guter Letzt nicht ausschließend, sondern einladend und einschließend. Sein „AndersSein“ hängt zutiefst mit dem Geheimnis seines Kreuzestodes zusammen – eine Tatsache, die oft nicht radikal genug bedacht wurde. Deshalb meine ich: Wir müssen noch gründlicher fragen, was der christliche Anspruch eigentlich bedeutet. Franz-Josef Steinmetz SJ Alois Schuh SJ

12 Jesuiten Schwerpunkt: Altwerden Schwerpunkt Hat Ignatius an altwerdende Jesuiten gedacht? Ignatius hat mit 65 Jahren ein für damalige Zeit nicht geringes Alter erreicht. Dennoch findet man zum Thema „altwerdende Jesuiten“ bei ihm keine speziellen Texte. Er wollte die Gesellschaft Jesu als apostolisch aktive Gemeinschaft. Alten Jesuiten, die nicht mehr apostolisch tätig sein können, scheint also nur ein Platz am Rande der Gesellschaft zugedacht zu sein. Sie würden damit das Los vieler alter Menschen heute teilen, die sich abgeschrieben vorkommen. So scheint Alt-Sein ein Thema zu sein, das der Gesellschaft Jesu eher durch die demographische Entwicklung aufgezwungen wurde. 1995 hat die 34. Generalkongregation dieses Thema aufgegriffen. In ihrem Dekret „Der Jesuit als Priester: Der priesterliche Dienst und die Identität des Jesuiten“ geht sie die verschiedenen Phasen durch,die ein Jesuit im Laufe seines Lebens erlebt. Es heißt dort: Vollig in den Händen Gottes „Wenngleich der typische Jesuit seine apostolische Arbeit als Priester auch deutlich in die Zeit des Ruhestandes hinein fortsetzt, kommt doch im allgemeinen die Zeit, in der solch äußere Tätigkeit aufhören muss. Wenn das geschieht, kann er versucht sein, zu denken, sein Leben hätte sein eigentliches Ziel verloren; er soll vom Herrn lernen, dass ihm im Gegenteil ein neuer Weg eröffnet wird, seine apostolische Sendung als Jesuit zu verwirklichen. Das Alter vermindert in keiner Weise sein Priestertum noch wahre apostolischeVitalität.Auch wenn er jetzt Heinrich Böll Carola Stern

September 2011/3 Jesuiten 13 vielleicht nur noch in der Lage ist, der Eucharistie beizuwohnen und privat darum zu beten, dass der Herr die Arbeit der Kirche und seiner Mitbrüder segnet, fährt er gerade darin fort, ein geschätzter Apostel und Arbeiter zu sein. Jetzt ist er vielleicht sogar am allermeisten aufgerufen, ein Leben des priesterlichen Gebets für andere zu leben, zusammen mit Christus, dem Hohenpriester, der uns vorangegangen ist als Urheber und Vollender des Glaubens (Hebr 12,2). In seiner Ansprache an die Gesellschaft brachte Pater Arrupe gegen Ende seines Lebens, als er schon sehr gebrechlich war, die Erfahrung vieler alter Jesuiten zum Ausdruck: ‚Mehr denn je befinde ich mich jetzt in Gottes Hand. Das habe ich mir mein ganzes Leben lang von Jugend auf gewünscht. Es gibt jetzt aber einen Unterschied: Heute liegt die Initiative ganz bei Gott. Mich so völlig in seinen Händen zu wissen und zu fühlen, ist wahrhaftig eine tiefe geistliche Erfahrung.’“ Tatsächlich entfaltet dieser Text nur das, was in den Exerzitien als Spiritualität des Jesuiten grundgelegt ist. Gerade dann, wenn die äußere Gestalt des apostolischen Dienstes hinfällig wird, kann der Kern zutage treten, der auch die Gestalt rastloser Tätigkeit getragen und davor bewahrt hat, bloßer Aktivismus zu sein. Es ist die Liebe zum Herrn, „der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20), und die aus dieser Liebe erwachsene Indifferenz, die innere Freiheit allem anderen gegenüber, was nicht Gott und GottesWille ist. Jetzt wird sie als Bereitschaft zum Loslassen eingefordert. Jetzt leuchtet dieser Kern erst richtig auf, wenn auch im Stillen, nachdem vieles andere weggefallen ist, was ihn bisher schützend verborgen hatte. Alex Lefrank SJ Kurt Meisel Fritz Rasp

14 Jesuiten Schwerpunkt: Altwerden Schwerpunkt Freiwilliges soziales Jahr mit 60 Nach über 30 Jahren als Lehrerin an der Schule wollte ich mir endlich den seit meiner Jugendzeit bestehenden Wunsch erfüllen und einmal ein Jahr im Ausland leben. Warum so spät? Meine Mutter starb vor drei Jahren, meine Kinder sind erwachsen. So fühlte ich mich frei, um mir zum 60. Geburtstag eine Auszeit zu schenken. Ich plante, nach Lateinamerika zu reisen und Spanisch zu lernen. Alleine reisen stellte ich mir langweilig und einsam vor. Und lernt man dabei die Menschen und ihre Kultur kennen? Da ich gern arbeite, mich wohl fühle, wenn ich aktiv sein kann, beschloss ich, mit einer Organisation ins Ausland zu gehen und freiwillig zu arbeiten. Das Unterfangen stellte sich als schwieriger heraus als ich dachte. Für die meisten Projekte war ich zu alt. Die Organisation „weltweit“ der Jesuiten erschien mir die beste zu sein, und hier spielte das Alter zum Glück keine Rolle. Es gab vier Wochenendseminare, in denen die „Volunteers“ auf ihre Einsätze äußerst kompetent vorbereitet wurden. Ich war mit Abstand die Älteste, womit weder ich noch die anderen Probleme hatten.Wir waren eine interessante Gruppe von 22 Menschen,Abiturientinnen, Studenten und Berufstätige, Musiker, ein Psychologe, eine Ärztin, ein Computerspezialist und andere. Selten habe ich bei einer so großen Gruppe von Menschen so viel Sympathie und Nähe empfunden. Es war eine wertvolle Erfahrung, dass ein gemeinsames Anliegen – helfen zu wollen und sich mit der Ungerechtigkeit und Armut auseinander zu setzten – verbinden kann. Im August ging es dann los. Mein Einsatzort war Buenos Aires. Ich war ziemlich aufgeregt, was mich dort erwarten würde.Vor Ort gab es keine Einrichtung, in der ich arbeiten würde, sondern einen Slum, in dem ich mir meine Aufgaben selbst suchen musste. Man hatte mich auf Grund meines Alters für diesen Einsatzort ausgewählt, weil ich bis auf einen katholischen Pfarrer als Ansprechpartner selbständig arbeiten musste. Meine Arbeit im „Campo“ gestaltete sich vielfältig. Ich half in einem Comedor (Suppenküche), besserte Kleidung aus und nähte Patchworkdecken für eine Sozialstation der Caritas. Zwei Nachmittage in der Woche malte und bastelte ich mit Kindern. Zeit- und Kommunikationsprobleme Zwei Projekte scheiterten mehr oder weniger. Den Frauen im Campo bot ich an, einen Nachmittag zusammen zu malen und Handarbeiten zu machen, mit der Idee, diese Sachen auf dem Markt zu verkaufen. Leider musste ich die Erfahrung machen, dass es den Frauen kaum möglich ist, aus dem häuslichen Rahmen auszubrechen. Zum einen war es ein Zeitproblem, zum anderen scheint man als Frau einfach nichts selbständig zu machen. Mein Lieblingsprojekt „Campo limpio“, sauberer Campo, klappte nur ansatzweise. Ich versuchte die Bewohner des Campo zu motivieren, die überall herumliegenden Plastikflaschen zu sammeln und in einer Recyclingstation zu verkaufen. Man verdient mit dieser Tätigkeit ungefähr soviel wie ein einfacher Arbeiter. Die Erwachsenen beteiligten sich nicht an dem Projekt, aber die Kinder halfen

September 2011/3 Jesuiten 15 und waren stolz auf das Geld, das sie für ihre Familien verdienten. Leider blieb es beim Transport der Flaschen in meinen selbstgenähten Säcken, da mein Ansprechpartner es mir nicht ermöglichte, eine Karre zu benutzen. Die Kommunikation mit ihm war schwierig und er vermittelte mir das Gefühl, dass eine Freiwillige aus Deutschland keinen Müll sammeln sollte. Dieses Projekt hätte ich gern ausgebaut. Mit der Zeit veränderte sich meine Einstellung dazu, was gerecht ist. Zuerst wollte ich für alle da sein und Spendengelder so einsetzen, dass viele einen Nutzen davon haben, ohne Einzelne zu bevorzugen. Es war ein Prozess, die Unmöglichkeit dieser Idee zu erkennen. Also entschloss ich mich, zwei Familien mit dem Bau einer neuen Hütte zu helfen.Warum gerade diesen Familien? Ihre Hütten waren imVergleich mit den anderen die kleinsten und baufälligsten. Eine wesentliche Rolle spielte der persönliche Kontakt. Sie waren offen, ließen mich an ihrem Leben teilhaben, baten mich z.B. auf ihre Kinder aufzupassen oder sie auf den Großmarkt zu begleiten, um Obst und Gemüse aus den Abfällen zu sammeln.Andere Familien waren zurückhaltend, und wenn sie mich um etwas baten, war es Geld. Letztendlich war ich froh, diesen beiden Familien geholfen zu haben und ihre Dankbarkeit zu spüren und annehmen zu können. Was hat mir das Jahr gebracht? Dankbarkeit, das Glück gehabt zu haben, in Deutschland geboren zu sein.Wertschätzung, in einem im Vergleich zu Argentinien geordneten Staat zu leben. (Endlich wieder Müll trennen!) Mit Deutlichkeit die Ungerechtigkeit erfahren zu haben und auch in Deutschland noch mehr auf Kleinigkeiten zu achten wie z.B. „fair trade“ einzukaufen. Mehr Gelassenheit. Neue Ideen für meine Kunst. Noch vier Jahre und dann? Im Moment fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wieder in der Schule zu arbeiten. Aber ich empfinde es als Geschenk, täglich mit jungen Menschen zu tun zu haben. Denn ich denke, es hält jung. Und ich sehe der Pensionierung mit Freude entgegen, auch wenn ich gern in der Schule arbeite. Ich habe viele Ideen für die Zeit nach der Schulzeit. Neben meiner künstlerischen Tätigkeit kann ich mir vorstellen, wieder längere Zeit ins Ausland zu gehen, wenn es meine Gesundheit erlaubt, allerdings nicht für ein ganzes Jahr. Am meisten haben mir die Nähe zu meinen Kindern und soziale Kontakte gefehlt. Ich fühle mich „zeitlos“. Ich meine damit, es gibt nur wenige Dinge, die man nur in einem bestimmten Alter tun oder lassen sollte. Ich hoffe, dass ich immer offen bleibe und mich noch verändern kann, Wünsche und Pläne habe. Ich will im Leben nicht „ankommen“. Maria Wollny Einfach beten Wenn wir ein Buch nicht mehr leicht halten können und es schwer wird, sich darauf zu konzentrieren, brauchen wir Gebete, die man einfach auswendig beten kann, die ins Meditative gehen. Mir helfen zum Beispiel der Rosenkranz, Psalm 23 (Der gute Hirte) oder bekannte Kirchenlieder. Ute Baer Gaststudentin in Sankt Georgen

16 Jesuiten Schwerpunkt: Altwerden Schwerpunkt Vom Tod sprechen – ein Tabuthema im Alter? Wenn wir vom kommenden Tod eines Mitbruders sprechen, dann wird es still bei uns allen. Erzähle ich in unserer Seniorenkommunität, was ich gerade bei einem Sterbenden erlebt habe, dann gibt es Schweigen. Es bedrückt uns, und still hoffen wir glaubend auf Gottes Nähe. Wir sprechen also in unserer Kommunität gewöhnlich nicht über den Tod. Aber wenn einer im Sterben liegt, dann gehen wir zu ihm und beten.Aus diesen Erfahrungen möchte ich einige Begebenheiten vom Sterben berichten. Ein Mitbruder pflegte in seinem Leben einige tiefe Freundschaften. Daher kamen ihm immer wieder Gedanken, wie das Leben mit diesen Menschen weiter gehen wird, nach seinem Tod. In seiner „Heiligen Schrift“ fand ich ein Blatt, auf das er selbst geschrieben hatte: „Trennung.Was ist das eigentlich?Wenn durch den Tod Trennung kommt zwischen einem Menschen und mir? Ist das dann wirklich eine ‘Trennung’. Oder sind wir im ‘göttlichen Bereich’ einander näher als je? Ist dann alles nicht wirklicher als je zuvor? Ist das nicht die Zeit des wahren Trostes? La vie immédiate?“ Also war er voller Hoffnung und Erwartung auf den Tod und die Auferstehung durch den lebendigen Gott. Dies spürten wir, als wir ihm 14 Tage vor seinem Tod die Krankensalbung spendeten. Dabei hat er sich selbst ruhig bekreuzigt. Er wartete auf seinen Tod. Vier Tage vor dem Tod eines anderen Mitbruders hatte man in der Pflegestation eine Notärztin gerufen. Denn er atmete mehrfach eine halbe Minute lang nicht mehr, und wir konnten mit ihm nicht mehr sprechen. Die Ärztin sagte, dass er sein Leben bald beenden wird. Dann berieten wir, ob er wieder in ein Krankenhaus eingeliefert werden sollte. Das fanden wir zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gut. So blieb er in seinem Zimmer des Altenheims und lag ruhig im Bett. Dann kamen einige Mitbrüder und beteten bei ihm. Danach blieb ich weiter bei ihm und betete aus einem Gebetbuch von Huub Oosterhuis „Augen, die mich suchen“, das ich schon einige Jahre lang immer nutze, wenn Kranke gesalbt werden oder Menschen im Sterben sind. Oft habe ich den Mitbruder in den Wochen zuvor im Krankenhaus besucht und ihn gefragt, ob er einen Wunsch habe. Dann sagte er mir und anderen immer wieder: „Ich wünsche mir ewige Seligkeit!“ Also wünschte er sich den Tod und das ewige Leben. In dem Gebetbuch von Oosterhuis steht: „Möge mich begleiten all das Gute, Versöhnung Ein wichtiges Thema im Alter istVersöhnung. Im Nachdenken über das eigene Leben können Erinnerungen aufkommen, dass manches schiefgelaufen ist.Auch wächst der Wunsch nach harmonischen Beziehungen mit den Kindern, den Geschwistern oder mit deren Ehepartnern:Wie schön wäre es, wenn wir uns doch verstehen könnten! Es kann doch nicht sein, dass ich mit meiner Tochter nicht richtig sprechen kann! Manchmal ist es nicht mehr möglich, ein missglücktes Verhältnis wieder zu richten: Etwa wenn der, mit dem man sich versöhnen möchte, verstorben ist. Dann ist wichtig, in guter Weise darüber trauern zu lernen, loslassen zu können und irgendwann nicht mehr nachzutragen.“ Markus Franz SJ, Dresden

September 2011/3 Jesuiten 17 das ich getan habe. Möge es mit mir gehen in das Unbekannte. Möge ich ankommen in jenem guten weiten Land, das uns versprochen ist.“ Am Pfingstsonntag starb er früh morgens im Alter von 84 Jahren in seinem Zimmer. Ein anderer, ebenfalls 84 Jahre alter Jesuit hatte Krebs mit Metastasen im Kopf und in der Lunge. Ihn begleitete ich innerhalb eines Jahres mehrmals zu einem Onkologie-Facharzt. Drei Monate vor seinem Tod fragte der Mitbruder bei seinem letzten Besuch in der Klinik den Arzt, wie es mit ihm weiter gehen werde. Der Arzt meinte, es könne noch einige Zeit gut gehen, aber auch nur noch wenige Wochen dauern. Dabei merkten wir, dass die ärztliche Kunst an ihre Grenzen stößt. Dann hat der Mitbruder letztlich tapfer ertragen, loszulassen und das Unvermeidliche geschehen zu lassen. Zwei Wochen vor seinem Tod, wünschte er in die Klinik gebracht zu werden, konnte aber keinen Grund nennen.Also habe ich ihm die Hl. Kommunion gebracht. Dieses Sakrament hat er langsam, aber tiefgehend angenommen und um Frieden gebetet. Albert Giesener SJ Elfriede und Johannes Bopp

18 Jesuiten Schwerpunkt: Altwerden Schwerpunkt Denn meine Augen haben das Heil gesehen Im Gespräch mit Sr. Katharina, 79 Jahre, aus dem Karmel in Berlin. Denn meine Augen haben das Heil gesehen (Lk 2,30).Was sagt Dir dieses Wort? Als Kind habe ich den Hitlergruß gehört. Ich habe ihn zwar selbst nie ausgesprochen, aber das Wort Heil ist für mich immer noch belastet. Bei Martin Luther fand ich die Übersetzung „denn meine Augen haben den Heiland gesehen“ und bei Stier „meine Augen haben dein rettendes Tun gesehen.“ Woran denkst Du, wenn Du an Deinen Kinderglauben denkst? Die Feier der Eucharistie – wichtig und schön war für uns dabei besonders die Begleitung der Eltern. Dann hatten wir einen Theologieprofessor als Kaplan, der während des Krieges keine Schule halten durfte. Die Kindergottesdienste waren sehr schön für alle, die Hälfte der Anwesenden waren Erwachsene. Sehr schön und atmosphärisch war auch die Feier des Karfreitags zu Hause. Auf was für ein rettendes Tun Gottes hofft man, wenn man in einen kontemplativen Orden eintritt? Für mich war da einfach der Ruf, die Einladung von Jesus Christus: Folge mir! Da war keine Frage danach, was ich suche. Es war ein Gehorchen, ohne zu fragen, was erwarte ich da. Ich hatte schon das Bedenken,dass ich das nicht leben kann. Aber ich wusste, dass ich es versuchen muss. Mich hat ein Leben lang die Passion angesprochen. Die Texte habe ich auch am meisten gelesen, seit meinem 14. Lebensjahr. Es ging um mein Dabei-Sein und darum, was da für uns Menschen von Jesus her geschehen ist. Es wurde immer intensiver, vor allem auch das Erleben der Ablehnung, „diesen König wollen wir nicht“. Ich finde das hochaktuell. Viele Menschen denken ja, wenn man jung ist, muss man alles in Frage stellen. Und wenn man älter ist, dann kommt das Suchen zur Ruhe. Dem kann ich so nicht zustimmen. In meiner Jugend habe ich einfach und problemlos Glauben gelebt. Das war sicher grundgelegt durch die Eltern und ging nahtlos über in einen selbständigen, erwachsenen Glauben. Die letzten elf Jahre waren eher geprägt, ich will nicht sagen von Zweifel, es ist eher ein Suchen, ein mühevolles Suchen, wenn Gott schweigt. Und er schweigt einfach! Ich weiß, was Anziehung von Gott ist, das weiß ich von früher.Aber ich spüre nichts. Und in der Zwischenzeit verstehe ich auch, in diesem Zustand zu leben, ohne Gott zu spüren. Ich könnte mir vorstellen, dass es mit dem Lebensabschnitt zu tun hat, den ich lebe. Mystiker sagen, dass diese Phase kommt, wo Gott schweigt, länger oder kürzer. Was ist das, was Dich heute auf dem Weg hält? Ich denke, dass es der Glaube ist: Ich bin sehr davon überzeugt, dass Gott da ist. Ich habe gelernt, dass ich weitergehen soll. Den Zustand, den ich vorher zu beschreiben versuchte, dass Gott schweigt, den kann ich nicht verändern. Ich kann mir nur im Glauben sagen: „Du bist da!“ Spielt im Alter der Tod eine größere Rolle beim Glauben? Das würde ich wohl meinen! Es geht um eine Intensivierung, sich dem Wesentlichen zuwenden und das Unwesentliche lassen. Wenn ich an den Tod denke, dann hilft mir das, mich zu konzentrieren auf das, worauf es ankommt. Also z.B. darauf, Gott die Ehre zu geben und sich selber zurück zu nehmen. Es geht im Alltag mehr um Zuwendung zu den

September 2011/3 Jesuiten 19 anderen Schwestern, vor allem denen, die nicht mehr so können. Es gibt ja den Satz des greisen Simeon – Verzeihung wenn ich jetzt im Kontext des Gespräches mit Dir das Wort „greise“ einführe … Na mit fast 80 bin ich schon greise! „Meine Augen haben den Heiland gesehen.“ Was haben Deine Augen gesehen? Den Heiland, ich hab in meiner Jugend Seine Anwesenheit „gesehen“, oder ich würde sagen erfahren dürfen.Vor allem im Noviziat wurde ich getragen von Ihm, auch wenn es eine schwere Zeit war. Ich hatte immer einen leichten Zugang zum Geist, der einfach da war und spürbar in allem, eine Heimat. Da ist nicht viel eigenes Bemühen von meiner Seite, das kam von ihm. Mit vierzig habe ich einen tieferen Zugang zur Bibel gefunden. Die Gnade des Alters aber, meine Gnade des Alters ist schon diese nüchterne Beziehung zu Gott. Das Dabei-Bleiben und sich einstimmen auf die immer anwesende Botschaft, wie Richard Rohr sagt. Das ist mein Leben: offen zu sein für die anwesende Botschaft und zu bitten, dass ich von dieser Botschaft, die ich jetzt noch als verschlossen erlebe, etwas aufnehmen darf, ohne dass Gott einen berührt und überschüttet mit Spürbarem. Das Nüchterne wäre – glaube ich – das Wichtige daran. Macht Dir der Tod Sorge? Bis jetzt nicht! Die Fragen stellte Tobias Zimmermann SJ. George Tabori

20 Jesuiten Schwerpunkt: Altwerden Schwerpunkt Altes Antlitz – Gesicht des Lebens Die Geschichte der Kunst kennt das individuelle Bildnis seit wenigen Jahrhunderten; erst das bürgerliche Zeitalter erblickt im menschlichen Antlitz den Spiegel der Seele. Sie schärft der Photographie ein besonderes Bewusstsein für das menschliche Individuum ein – und für den indiskreten Blick. Doch je schärfer die Objektive, umso verschlossener geben sich die Menschen vor den Blicken schussbereiter Kameras. Der Mensch von heute will weitgehend selbst das Bild von sich bestimmen. Die Porträtierten haben den Schauspieler in sich entdeckt. Im Zeitalter der photographischen und elektronischen Massenmedien agiert der moderne Zivilisationsmensch daher gerne vor der Kamera wie ein Akteur, der eine eigene Rolle spielt. Babys sind daher die beliebtesten Objekte, weil offen und ohnmächtig. Sie mimen, wozu man sie reizt, und wissen sich nicht zu wehren. Das ist bei Kindern anders. Sie spielen gerne mit, bauen ihre eigenen Welten und Märchen. Im Jugendlichen bricht die Scham auf. Die Jungen verschließen sich, vor allem der Kamera gegenüber. Nun ja, der Erwachsene... Das Eigentliche im menschlichen Porträtieren liegt in den Bildnissen des Älteren. Da kommt Wahrhaftigkeit ins Spiel. Und Gelassenheit. Beides bahnt den Weg ins wahre Antlitz. Es kann zum menschlichen werden, zum plastischen, von Leben beladenen und geformten Antlitz. Oder es kann lebendig in der chirurgischen Plastik sterben. Wie oft das Antlitz des alten Menschen die Kraft in sich birgt, auch das wahre Antlitz zu berühren, bleibt offen. Denn das wahre Antlitz verbirgt sich hinter dem Alter von dreiunddreißig Jahren. Als Gottesantlitz erstarrt es dort.Als Menschenantlitz aber lebt es weiter, in Jedermann und Jederfrau. In Runzeln, in Furchen, Pickeln, in Säcken, in gefaltetem Plasma, in Transformationen, aber eben auch in erzählerischer Weite, in fesselnden Blicken, in vertrauensvoller Tiefe, in Charakteren, freilich auch in erschreckender Starre, in Tiefe, in Spuren, in Weisheit, in Liebevollem. Das alte Antlitz zeigt inmitten aller Linien die Erhabenheit menschlichen Lebens. Manchmal, als wäre es einfach natürlich älter geworden. Als wären nicht nur die alten Geschichten weiter zu erinnern, sondern als erzählten sie sich bildhaft fort, in den unzähligen Gesichtern, die nichts Anderes sind als weiterlaufende Inkarnationen des Menschen mit der „vera ikon“, die eben auch älter wird als dreiunddreißig Jahre. Bis hin zu Philemon und Baucis. Hermann und Clärchen Baus (geb. 1945 bzw. 1943) stehen seit über 40 Jahren auf den Bühnen des deutschsprachigen Theaters und photographieren die Inszenierungen großer Regisseure, von Jürgen Flimm bis RobertWilson. Mit dieser Erfahrung im Hintergrund haben sie stets auch photographische Porträts geschaffen.Was besticht an ihnen so besonders? Nun, ganz einfach: Es ist jene besonders persönliche, vielleicht sogar im vollen Wortsinn liebevolle Aura, die den Bildern gemeinsam ist. Sie sind Dokumente des Respekts, der Bewunderung und der tiefen Begegnung. Sie entspringen einer dialogischen Atmosphäre, die ihrer photographischen Methode zugrunde liegt. Genau das ist es, was sich auf den Betrachter überträgt. Er begegnet menschlicherTiefe und mitten im alten Antlitz wahrem Leben.Auch in diesem Heft. Friedhelm Mennekes SJ

September 2011/3 Jesuiten 21 Willy Millowitsch Willi Quadflieg Siegfried Lenz Prof. L. Fritz Gruber

22 Jesuiten Geistlicher Impuls Geistlicher Impuls Das Wort Gottes ist kein Text Das Wort Gottes ist kein Text. Das wäre schlimm. Stellen Sie sich vor, die ganze Liebe, die Sie für jemanden empfinden, müsste ein für allemal in Wörter gefasst werden. Könnten Sie am Schluss sagen: Und damit ist alles gesagt? Oder bliebe nicht vielmehr das Gefühl zurück, dass alle Worte zu wenig sind, um an den Kern zu gelangen? Gott hat uns ja kein Buch hinterlassen und gesagt: „So, da ist jetzt alles drin.“ Katechismen zum Beispiel haben die Tendenz, engstirnig zu machen. Plötzlich hat man das geschriebene Wort, auf das man sich immer berufen kann, das aber nicht ansatzweise in der Lage ist, Lust auf Fülle und Vielfalt zu machen. Da steht dann wie in Stein gemeißelt: Das und das ist eine Glaubenswahrheit. Richtig katholisch ist das nicht. Dafür fehlt die Weite, das Bunte, das Lebendige. Da wird dann definiert, wer wen wie lieben darf und wie man es auf gar keinen Fall darf. Plötzlich schmeckt Gottes Liebe nach altem Papier. Das soll göttlich sein? Kein Buch ersetzt Herz und Verstand. Jeder weiß das, aber keiner scheint es zu glauben, wenn es um Gottes Liebe und Wahrheit geht. Das Wort Gottes ist ein Mensch. Oder noch mehr: DasWort Gottes ist der Mensch. Sicher, in Jesus Christus ganz einzigartig usw. usw. Aber damit ist ja nicht Schluss. Gottes Wort kam ja nicht nur einmal in die Welt und alles, was wir jetzt davon haben, ist nacherzählt, abgeschrieben und übersetzt. Dann müssten wir ja geistlich von Konserven leben, benachteiligte Spätgeborene. Hier beginnt das Faszinierende am Christentum. Gottes Wort wird Mensch – immer wieder. Und noch besser: Es geht gar nicht um das richtige Wort, sondern um den Menschen selbst. Stellen Sie sich einfach selber die Frage: Welche Menschen haben mich inspiriert? Waren das die Bescheid-Wisser, die auf alles eine Antwort haben, unberührt von Zweifel und Angst? Oder waren das nicht vielmehr diejenigen, die auch dann noch dableiben, wenn sie selbst keine Antwort mehr parat haben? Das sind diejenigen, die nicht versuchen, jeden heldenhaft am Arm aus seiner Not zu zerren, sondern die sich trauen, den anderen in eben dieser Not aufzusuchen und die die Dunkelheit der Hilflosigkeit aushalten. Das ist das eigentliche Wort Gottes, ins Leben hinein dekliniert. Genauso wie diejenigen Wort Gottes sind, die unsere Erfolge mit uns feiern, die uns aus aller falschen Bescheidenheit herausreißen und uns groß sein lassen können, ohne Neid. Uns mag das oft wenig erscheinen, was wir zu geben haben, unser Mühen, unsere Versuche, über die Runden zu kommen und dabei nicht ganz zu vergessen, wer wir sind, und irgendwo dazwischen noch Platz zu lassen für Glaube, Hoffnung und Liebe. „Ich bin ja nicht so der tolle Christ“, sagen dann einige. Dabei leiden sie nur daran, dass sie nicht auf alles eine Antwort haben, dass sie nicht alle Not heilen kön-

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