Jesuiten 2014-4

Jesuit sein heute? Gerade heute! 2014/4 ISSN 1613-3889 Jesuiten

Titel: Menschen in der Stadt © fotolia/Müller Ausgabe November/2014 Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Jesuit sein heute – was bedeutet das für mich? 4 Früher gab‘s mehr Berufungen als heute!? 7 Wege in den Orden – ein geistlicher Prozess 8 Lebensort Schule 11 Pater Arrupe und Frère Roger 12 Aus Momenten des Scheiterns lernen 14 Ora et labora – pray and workaholic 16 Warum Jesuit heute? 17 Geistlich – Praktisch – Gut 18 Als Sünder berufen 19 Etappen auf unserem Weg Geistlicher Impuls 22 Von den Prioritäten Jubiläum 2014 24 Vom Sie zum Du Nachrichten 26 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 29 Jubilare / Verstorbene Medien 29 Musik in St. Michael Nachrufe 30 Unsere Verstorbenen 33 Autoren dieser Ausgabe Die besondere Bitte 34 Begleiter auf dem Berufungsweg 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Virtualität – Anwesenheit des Abwesenden 6 Virtualität aus der Schulperspektive 8 Mailgewitter & Twitterstürme 10 In die Computerzeit hineinleben 11 Erreichbarkeit 2.0: Facebook ohne Ende 14 Online-Exerzitien 16 Pastorale Projekte 17 Warum ich (noch) nicht bei Facebook bin 18 Warum ich bei Facebook bin 20 blog.radiovatikan.de 21 Jesuiten in Facebook Geistlicher Impuls 22 Von der Versuchung, virtuell zu leben Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Vorgestellt 29 Gebetsapostolat Nachrufe 2012 30 Unsere Verstorbenen Medien 32 DVD: Die Schrittweisen. Zu Fuß nach Jerusalem 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Die besondere Bitte 34 Ein Abonnement „Stimmen der Zeit“ 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2012/4 2012/4 Titelbild: @ Fotolia „Virtualität ist die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen.“ Diese Definition aus „Wikipedia“ auf vielfältige Weise umzusetzen, nahm sich Simon Lochbrunner SJ mit seinen Bildern im Schwerpunktteil dieser Ausgabe vor.

Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser, mit dem Wort „Berufung“ verbinden wir meist, dass einige Christen einen „geistlichen Beruf“ haben, d.h. sie sind Ordensmenschen oder Priester geworden. Und gleich hören wir die Klage mit, heute gebe es leider kaum noch „Berufungen“. Es stimmt, dass heute bedauerlich wenige Menschen in Ordensgemeinschaften eintreten oder Priester werden. Wir Jesuiten in Deutschland und in Europa haben immer Nachwuchs gehabt und haben weiterhin jedes Jahr Eintritte – dafür sind wir sehr dankbar, aber wir wissen auch, dass es viel mehr sein dürften! Nun sind aber alle Christen berufen. Alle sollen die Liebe leben, sie sollen barmherzig zu Schwachen sein, wahrhaftig und ehrlich, gläubig und bereit zum Engagement für andere. Alle sollen ihr Leben mit Christus und nach dem Vorbild Christi gestalten. Alle sollen die Größe und Güte Gottes bezeugen. Diese Berufung aller Christen ist die grundlegende – das ist der Kirche in den letzten Jahrzehnten neu und tiefer zu Bewusstsein gekommen. Welche konkrete Gestalt diese Berufung bekommt, ist dann weniger wichtig. In jeder Lebensform und in jedem Einsatz können und sollen wir liebende Menschen und damit Christen sein. Gibt es nicht auch hier einen Mangel an Berufungen? In dieser Ausgabe denken wir Jesuiten über unsere Berufung zum Jesuit sein nach. In vielen Beiträgen geht es allerdings zuerst um unser Mensch- und Christsein in heutiger Zeit. Als keineswegs perfekte Menschen wissen wir Jesuiten uns schließlich zum Jesuit sein gerufen. Auch dieses „Sein“ ist immer ein „Werden“, ein lebenslanger Prozess, und wir brauchen dafür die Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Wer den Weg des Jesuiten mit Hingabe lebt, erlebt ihn meist als erfüllend und fruchtbar. Mit dieser Ausgabe wollen wir unseren Dank für die Berufung ausdrücken. Es wurde von Holger Adler, Marco Hubrig und Björn Mrosko zusammengestellt. Vielleicht kann es Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einiges zum Nachdenken und zur Freude über Ihre eigene Berufung mitgeben. An Weihnachten feiern wir, dass Gott ein Mensch wie wir wurde. Er hat uns damit gezeigt, wie wir als Menschen und Christen unsere Berufung leben können. Ich wünsche Ihnen Wachstum auf Ihrem Weg des Menschwerdens und des Gerufenseins. Herzlich wünsche ich Ihnen die Gnade und den Frieden der Weihnacht und ein gesegnetes Jahr 2015. Stefan Kiechle SJ Provinzial 1 Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute!

Jesuit sein heute – was bedeutet das für mich? Jesuit sein heißt für mich, meine Berufung gefunden zu haben und sie leben zu können. Dahinter steht eine Überzeugung, die für mich wesentlich zum Jesuit sein gehört: Da gibt es einen, der ruft. Wenn zwei Menschen heiraten, haben sie erfahren, dass die Liebe des anderen innerlich Kräfte freisetzt. Die Gründe für einen Ordenseintritt sind vergleichbar. In Exerzitien konnte ich vor über zehn Jahren eine Erfahrung machen, an deren Wirklichkeit ich nicht zweifelte. Ich verstand tief in meinem Herzen: „Clemens, es ist gut, dass Du bist und wie Du bist.“ Das schenkte mir Vertrauen und machte mich lebendig. Diese Worte kann man sich nicht selbst sagen. Ich war überzeugt, hier habe ich es mit Gott zu tun bekommen. Davon wollte ich mehr. Ich wollte keine ausgemergelte und bleiche Heiligenfigur werden, sondern mit Haut und Haar meinen Glauben an diese konkrete Person Jesus Christus leben. Den Platz dazu habe ich im Orden gefunden. Durch den geistlichen Weg ist mein Vertrauen in Gott gewachsen. Wie in jeder Beziehung gibt es auch lustlose und anstrengende Phasen. Aber mit diesem Jesus wird es auch nach Jahren nicht langweilig. Gott ist lebendig. Ohne Ihn wäre mein ganzes Leben als Ordensmann sinnlos. Für mich erschöpft sich Ordensleben aber nicht in meiner spirituellen Suche. Liebe wird dort vollkommen, wo ich mich selbst geben kann. Für mich ist das der Dienst, unsere Sendung. Ignatius war es wichtig, für Menschen auf unterschiedliche Weise einen Rahmen zu schaffen, damit sie Gott begegnen können. Die Aufgabe als Priester ist es, solche Begegnungsräume zu öffnen. Für mich sind besonders wichtig die Eucharistiefeier, die Beichte, die Einzelgespräche und die Exerzitien. Nach Monaten erzählen mir manche: „Da oder dort wurde es mir warm ums Herz, löste sich etwas, da konnte ich mich selbst mehr annehmen.“ Dann weiß ich, Gott hatte seine Finger im Spiel, denn so was kann man nicht machen. Hier lauert aber auch eine große Versuchung. Ich benehme mich manchmal wie ein Arzt bei einer Reanimation. Ich pumpe bis zur Erschöpfung Worte und Aktionen auf den scheinbaren Glaubenstoten ein. Aber es hilft nichts. Ich muss mir meine Selbstüberschätzung eingestehen. Nicht ich belebe, sondern der Geist Gottes schafft lebendigen Glauben in Menschen. So ein Mitarbeiter Gottes sein zu dürfen, lässt mich fast jeden Abend dankbar auf einen sinnvollen Tag zurückblicken. Als Jesuit muss ich nicht den Menschen etwas bringen, sondern darf mit ihnen unterwegs sein: momentan vor allem mit vielen jungen Leuten. Natürlich muss ich Rede und Antwort für die Lehre der Kirche stehen. Aber es ist mehr ein Mitein- 2 Schwerpunkt Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute!

ander, und dabei wird mir viel geschenkt, vor allem großes Vertrauen. Von mir werden kaum große Ratschläge erwartet, sondern einfach, dass ich da bin, Zeit habe und interessiert zuhöre. Durch die vielen Fragen zu Gott und Kirche, gerade in einem wenig christlich geprägten Umfeld, berühren die Leute auch meine Unsicherheit. Manchmal weiß ich selbst keine Antwort. Habe ich dann als „Kirchenexperte“ versagt? So verstehe ich mich nicht. Wenn ich als Suchender mit anderen unterwegs bin, dann geht es darum, weiter zu suchen, nicht so zu tun, als wüsste ich auf alles eine Antwort. Eigentlich geht es schlicht darum: zu glauben. Auch mich fordert der Glaube heraus. Das ist für mich eine Chance, mich wieder neu vertrauend auf Gott einzulassen. Dafür will ich Zeuge sein. Ab und zu denke ich, dass in den fünf Jahren im säkular geprägten Leipzig mein Glaube besonders stark gewachsen ist.“ Ich habe gelernt, ich muss nicht perfekt sein, darf als Sünder mich in die Nachfolge gerufen wissen und andere zu ihr einladen. Das ist ein Dienst, der anderen Menschen Hoffnung macht, dass auch sie vor Gott ihre Daseinsberechtigung haben. Das ist nicht immer ganz leicht, aber auf Dauer sehr erfüllend. Ignatius hat sich als Pilger bezeichnet. Mir gefällt das Bild: Ich bin mit anderen unterwegs, und als Jesuit habe ich einen richtig schönen Pilgerweg gefunden! Clemens Blattert SJ 3 Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! © SJ-Bild/Bubulyte Clemens Blattert SJ (re. oben) mit einer Studentengruppe aus Leipzig auf den Stufen zum Felsendom, Jerusalem

Die Menschen in ihren Entscheidungen unterstützen Früher gab‘s mehr Berufungen als heute!? Volkskirchlich gesehen bin ich total das Kind der 80er Jahre, mit vollen Kirchen, reichlichen Kirchenfesten, tollen nahbaren Pfarrern, Spaß in der Jugendarbeit etc. Volkskirchlich gedacht, war das doch eine herrliche Zeit – alles in Ordnung mit der Kirche. Spätestens während meines Studiums in den 90ern wurde immer klarer: Wenn wir so weitermachen, ist bald keiner mehr da. Und die Aussagen von vielen lauteten dagegen: „Ach, so schlimm wird es schon nicht kommen!“ Diese Einstellung, die leider fast alle Verantwortlichen in Kirche und Orden haben, fällt uns nun schon länger auf die Füße. Und ich? Ich muss gestehen, ich habe auch immer noch dieses Denken im Kopf, ich habe immer noch diese Brille auf. Ich werde dieses Denken so schwer los! Aber diese Kirche gibt es nicht mehr und wird es nicht mehr geben. Ein Mitbruder sprach nun von der Entscheidungskirche. Da ist was dran. Wir müssen uns von den alten Denkmustern verabschieden, und in diese Richtung entwickeln. Das heißt, volkskirchliche Strukturen, die es ja noch gibt, nicht mehr zu stärken, und dafür entscheidungskirchliche Strukturen, Haltungen, Schritte etc. zu fördern. Nun befindet sich die Kirche in genau dieser Phase dazwischen. Wenn ein System in die Krise gerät, dann zieht es sich meist auf das Establishment, auf die Funktionäre zurück. Die Gefahr ist gegeben, dass unsere Kirche zum Funktionärstum verstaubt. Aber es gibt keine Berufung bloß zum Funktionär. Im Rückzug auf das Funktionieren zeigt sich, wie das Volkskirchliche schwindet, und zugleich, wie es um sein Überleben kämpft. Da wundert es mich nicht, dass in die Noviziate und Priesterseminare keine Massen kommen. Denn die, die sich heute für Kirche interessieren, sind schon keine Kinder der 80er mehr. Sie erlebten in großen Teilen den Verfall und Niedergang der Volkskirche in Deutschland im eigenen Umfeld, oder sie sind schon gar nicht mehr mit Kirche in Berührung gekommen. Die Fragen, die sich aus diesem Wandel ergeben, sind mittlerweile zentrale Fragen der ganzen Kirche, nicht nur einiger Leute, die für Berufungen werben sollen – wenn man überhaupt für Berufungen werben kann. Die Zeit der Konzepte ist vorbei! Die Menschen, die sich auf Konzepte einlassen konnten, sind anders geworden sind. Theoretische Konzepte für Bestandswahrung in der Volkskirche übersehen ohnehin, dass es bei der Frage nach dem Glauben auch um das 4 Schwerpunkt Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! © SJ-Bild/Ender

persönliche Leben geht, um das eigene Glück, das eigene Heil und die eigene Zufriedenheit – und nicht bloß um das Überleben von Institutionen. Als „alter“ Jugendseelsorger weiß ich, dass es gar nicht so einfach ist, junge Menschen zu einer Entscheidung über Glaube, Gott etc. zu bringen, zumal die Frage, warum ich überhaupt eine Lebensentscheidung treffen soll, bei vielen noch gar nicht vorhanden ist, nach dem Motto: „Es ist doch gut, so wie es ist.“ „Früher gab es mehr Berufungen“ klagen heute einige. Das stimmt nicht. Berufen sind alle, nämlich alle, die das Volk Gottes bilden und als dieses Verantwortung für unsere Kirche übernehmen. Das geht nicht ohne Entscheidung. Auch wenn wir nicht genau wissen, wie die „Entscheidungskirche“ aussehen wird, ist es heute unsere Aufgabe, Menschen mehr denn je in ihren Entscheidungen zu unterstützen – wenn sie es wollen! Holger Adler SJ 5 Josef Maureder SJ im Gespräch mit den Novizen Moritz Kuhlmann, Julien Lambert und Sebastian Maly.

Wege in den Orden – ein geistlicher Prozess Bei einigen steht am Anfang die wachsende Unzufriedenheit über die bürgerliche Sattheit. Sie spüren eine Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach einfachem Leben, nach einer Aufgabe, die bleibenden Wert hat. Langsam öffnet sich der Horizont ihres Denkens. Geistliches Leben und der Einsatz für andere kommen in den Blick. So klopfen sie bei uns Jesuiten an die Tür. Für andere ist wie bei Ignatius ein „zerschossenes Bein“ Anlass zum Umdenken. Das kann ein Scheitern im Beruf oder in einer Beziehung sein. Manchmal ist es ein Unfall oder eine Erkrankung. Etwas kreuzt den Plan des Lebens. Wege werden versperrt, aber der Weg der Nachfolge Jesu kann sich eröffnen. Wieder andere lernen in ihrem Leben Schritt für Schritt Jesus kennen, verstehen und lieben. Ihr Glaube vertieft sich, und sie spüren den Anruf des Herrn. Nicht selten ist dieser Weg von starken menschlichen und geistlichen Erfahrungen begleitet: in Exerzitien, in Begegnungen, durch Bücher. Gott ist für sie das große liebende und geliebte Du geworden. Schließlich gibt es Interessenten, die besonders von der Armut ihrer Nächsten berührt sind. Sie sehen, wie viele Menschen heute unter die Räuber gefallen sind. Wie der barmherzige Samariter möchten sie nicht am Notleidenden vorbei gehen. Deshalb wollen sie prüfen, ob der Weg als Jesuit eine Antwort sein könnte. Natürlich mischen sich oft diese Motive, und es gibt noch andere, die den Weg auf den Orden hin prägen. Hat sich einer auf den Weg gemacht, so sind Zeiten des Innehaltens hilfreich. Denn unter Druck und Stress werden keine guten Entscheidungen getroffen. Auch sollen Alternativen gesehen werden. Geistliche Begleitung und Exerzitien werden den Entscheidungsprozess positiv fördern. Im rechten Moment ist es nötig, konkret Schritte zu setzen, damit die Kraft fruchtbar wird. Immer wird es als fruchtlos und frustrierend erlebt, wenn die Berührung durch Gott beharrlich verdrängt wird, jemand um sich und die Entscheidungsfrage kreist oder sogar wieder zurücksteigt. Wenn junge Männer den Jesuitenorden wählen, so ist meist Jesus Christus im Zentrum. In seiner Nachfolge wollen sie den Menschen helfen, an Leib und Seele. Sehr viele begeistert die Spiritualität des Ordens, radikales geistliches Leben mitten in der Welt. Viele sagen, sie wollen sich in Gemeinschaft für das Gute und die Botschaft Christi einsetzen. Die gute Ausbildung, die internationale Prägung des Ordens, die intellektuelle Note, aber vor allem die Weite im Denken und in den Einsatzfeldern sind für Interessenten weitere Motive, den Weg in unserem Orden zu wagen. Josef Maureder SJ 6 Schwerpunkt Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! © fotolia/Müller

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Lebensort Schule Bis zum Sommer 1993 lag die Leitung der Hamburger Sankt-Ansgar-Schule 47 Jahre in den Händen des Jesuitenordens. Nach 14-jähriger Tätigkeit als Stellvertretender Schulleiter hat Friedrich Stolze zum Schuljahr 2004/2005 das Amt des Schulleiters übernommen. Zu Beginn des nächsten Jahres wird er diese Aufgabe abgeben. Ein Gespräch mit Björn Mrosko SJ, der seit Herbst 2013 als Lehrer und Geistlicher Leiter der Katholischen Studierenden Jugend (KSJ) tätig ist. Mrosko: Als der Orden vor 21 Jahren die Leitung der Sankt-Ansgar-Schule an das Bistum zurückgab, war ich Schüler am Berliner Canisius-Kolleg. Ich kann mich gut an die Erleichterung darüber erinnern, dass es uns nicht getroffen hat. Die neuen Patres aus Hamburg haben wir Schüler gespannt erwartet. Wie haben Sie selbst damals den Rückzug der Jesuiten erlebt und welches waren später die wichtigsten Bezugspunkte zwischen der Schule und dem Orden? Stolze: Im Sommer 1993 wurde uns sehr schnell bewusst, dass nicht nur die Personen der Patres Köster, Fischer und Mertes die Schule verlassen hatten, sondern der Jesuitenorden als Institution. Gerade deswegen war und ist es für die Schule von grundlegendem Wert, dass es gelungen ist, kontinuierlich bis zum heutigen Tag im Geistlichen Leiter der KSJ einen Jesuitenpater, und zwar als Repräsentanten seines Ordens, im Hause zu haben. Seit vielen Jahren sind Sie der erste Jesuit, der nicht nur Geistlicher Leiter der KSJ ist, sondern auch als Lehrer an unserer Schule wirkt, warum? Mrosko: Kinder und Jugendliche verbringen einen großen Teil ihrer Zeit im schulischen Kontext. Im Kollegium der Sankt-AnsgarSchule mitzuarbeiten, ist eine gute Gelegenheit für uns Jesuiten, neben der Jugendarbeit und Aufgaben in der Schulseelsorge auch im Unterricht am Lebensort Schule präsent zu sein und Schülern dort zu begegnen. Ein weiterer wichtiger Beweggrund war die persönliche Herausforderung. Als Lehrer bin ich Berufsanfänger und stehe vor ganz neuen Herausforderungen – reizvollen, aber nicht immer ganz einfachen. Das betrifft Fragen der Methodik, des eigenen Stils, aber auch der Motivation und der Disziplin im Unterricht. In vielfacher Hinsicht bin ich nun auf den Rat und die Begleitung durch die Kollegen angewiesen. Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt etwas spezifisch Jesuitisches gibt, das ein Mitbruder in die Schulgemeinschaft einbringen kann. 8 Schwerpunkt Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! Björn Mrosko SJ Friedrich Stolze © SJ-Bild/Ender

Stolze: So sehr sich die Geistlichen Leiter der KSJ seit 1993 in ihrer individuellen Ausprägung unterschieden haben, wiesen und weisen sie doch als Repräsentanten ihres Ordens etwas gemeinsam Jesuitisches auf, das ich als Souveränität des je eigenen Weges in der Bindung an den Orden kennzeichnen möchte. Damit meine ich die Dialektik der Ungebundenheit eines souveränen Bewusstseins, das letztlich aus der Bindung des Einzelnen an die spirituelle Gemeinschaft des Ordens folgt, ebenso wie diese Spiritualität Kraft, Motivation und Zielsetzung der wissenschaftlichen Menschenbildung bewirkt. Untrennbar damit verbunden habe ich in der Konsequenz immer den hohen Grad an kommunikativer Kompetenz erleben dürfen, so dass alle Patres in ihrer jeweils unterschiedlich geprägten Ausstrahlung in der Schule als Jesuiten sehr präsent waren und sind; sei es bei der Feier der Hl. Messe, dem liturgischen Lernen, den Besinnungstagen, der Schulpastoralkonferenz oder gar wie Sie seit diesem Schuljahr als unterrichtender Lehrer. Mrosko: Was braucht es aus Ihrer Perspektive, um die ignatianische Tradition an den Schulen zu bewahren, wenn die Jesuiten immer weniger werden oder gar nicht mehr präsent sein können, wenn viele Wechsel in den Schulleitungen und den Kollegien stattfinden? Es hängt ja nicht an Einzelpersonen oder den Jesuiten, sondern an vielen, die sich diesem Erbe verbunden fühlen. Stolze: Ich möchte hier zunächst die Begegnungen, den Austausch im Netzwerk der Ignatianischen Schulen nennen. So habe ich die Leitungstreffen immer als große Quelle der Kraft und Motivation erlebt. Eine Ursache hierfür ist sicherlich die Erfahrung, dass für die Jesuitenkollegien natürlich auch gerade das gilt, was ich versucht habe, als spezifisch jesuitisch zu skizzieren: die selbstbewusste Souveränität des ignatianisch pädagogischen Weges, gespeist aus der Quelle der Spiritualität. Auch die Einrichtung des „Zentrums für Ignatianische Pädagogik“ erachte ich als großes Geschenk und erwarte mir nach ersten Erfahrungen eine deutliche Belebung des Austausches mit und unter den Schulen und damit verbunden eine weitere Belebung der Umsetzung Ignatianischer Pädagogik im Netzwerk unserer Schulen. 9 Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! Schülerinnen der KSJ in Sankt Ansgar in Hamburg

Pater Arrupe: Zeuge eines Frühlings der Kirche Pater Arrupe und Frère Roger Taizé und die Jesuiten „Dieser Mann ist unter den Zeugen eines Frühlings der Kirche“, schrieb Frère Roger 1972 nach einem Besuch von Pater Arrupe in Taizé. Sie hatten sich vier Jahre zuvor auf einem Flug nach Bogota kennengelernt. Papst Paul VI. lud damals beide ein, ihn zu begleiten. Die tiefe Freundschaft, die sich daraus entwickelte, hat die Verbundenheit unserer Communauté mit der Gesellschaft Jesu auf besondere Weise geprägt. Frère Roger sprach gerne von Pater Arrupe als einem heiligen Zeugen in unserer Zeit. Sein Unterscheidungsvermögen und sein ihm eigener Mut beeindruckten ihn tief. Auch in den Jahren, als Pater Arrupe schon sehr krank war, besuchte Frère Roger ihn regelmäßig. Das Vertrauen zu ihm war so groß, dass er sich zu einer einmaligen Geste veranlasst sah: „Kommen Sie nach Taizé! Seien Sie Leiter unserer kleinen Communauté, dafür reichen Ihre Kräfte. Kommen Sie, uns das Wesentliche zu zeigen.“ Pater Arrupe hörte diese Worte und lächelte. Er blieb in Rom. Diese Begegnung der beiden ist Teil einer ganzen Reihe von freundschaftlichen Begegnungen zwischen unseren Gemeinschaften. Dazu gehören Henri de Lubac, Joseph Gelineau, der viele Gesänge für uns 10 Schwerpunkt Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! © SJ-Bild Pedro Arrupe SJ (1907-1991)

Frère Roger: Pilgerweg des Vertrauens auf der Erde komponierte, Stanislas Lyonnet, der öfter nach Taizé kam um die Brüder zu unterrichten, Kardinal Martini, Pater Nicolás und Papst Franziskus, der Frère Alois sehr herzlich empfangen hat. Ignatianischer Geist prägt die Jugendtreffen in Taizé schon seit bald 50 Jahren durch Schwestern der Ordensgemeinschaft von St. André. In den 1970er Jahren initiierte Frère Roger den „Pilgerweg des Vertrauens auf der Erde“, den unsere Communauté mit Jugendlichen aller Erdteile Jahr für Jahr weitergeht. Als Pilger sah sich auch der Hl. Ignatius. Vielleicht ist es das, was unsere Gemeinschaften in der Tiefe verbindet: Pilgernd unterwegs zu sein; nicht stehenzubleiben, sondern mutig in der Welt von heute vorwärts zu gehen mit den Menschen unserer Zeit. In der Kontemplation wollen wir Christus begegnen, der uns immer neu dazu aufruft, unsere Augen für SEINE liebende und barmherzige Gegenwart zu öffnen. Der Pilger Ignatius hat uns einen Weg eröffnet, das Evangelium der Welt von heute zu verkündigen. Gemeinsam mit den Jesuiten stehen wir Brüder vor der Herausforderung, die frohe Botschaft Christi den Frauen und Männern unserer Zeit nahe zu bringen, besonders der jungen Generation, so dass sie mutig aus der Beziehung zu Gott leben und mit den Gaben, die Gott ihnen geschenkt hat, die Welt und Kirche von heute mitgestalten. Pater Arrupe und viele andere, die dem Weg des Hl. Ignatius folgen, sind uns darin Ansporn als Zeugen der Hoffnung und der Freude des Evangeliums, als Zeugen eines Frühlings der Kirche. Frère Andreas (Taizé) 11 © KNA-Bild Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! Roger Schütz (1915-2005)

Skrupel sind nicht die Stimme eines gnädigen Gottes. 12 Schwerpunkt Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! Aus Momenten des Scheiterns lernen Am Anfang seiner Bekehrung schien für Íñigo, der sich später Ignatius nannte, alles klar zu sein. Beim Gedanken, nach Jerusalem zu pilgern und fortan ein strenges Büßerleben zu führen, hatte er nachhaltige Zufriedenheit und Freude empfunden. Daraus meinte der Adlige von Loyola einen doppelten Schluss ziehen zu können: zum einen, dass Gott ihn in seinen Dienst gerufen habe, und zum andern, dass Gottes Wille genau in dem bestehe, was ihm, Íñigo, durch den Kopf gegangen war, nämlich als Aszet im Heiligen Land zu leben. Nachdem er somit zu wissen glaubte, was er im Dienst Gottes zu tun hatte, wollte der Frischbekehrte sich durch nichts mehr davon abbringen lassen, seinen Plan, ins Heilige Land zu ziehen, in die Tat umzusetzen. Doch es sollte anders kommen, als ursprünglich vorgestellt. Nicht dass Íñigo völlig falsch gelegen hätte. Im Rückblick sieht er sich darin bestätigt, dass Gott ihn in seinen Dienst gerufen hat. Aber um zu begreifen, worin dieser Dienst besteht, muss der spätere Ordensgründer noch unterscheiden lernen zwischen dem echten Willen Gottes und einem mit religiösen Idealen ummäntelten Eigenwillen – und angesichts seiner Sturheit muss er dies „auf die harte Tour“ lernen. Auf seinem Weg gerät der Pilger immer wieder in Situationen, in denen seine Pläne scheitern. Diese Momente seines Lebens versetzen seiner Dickköpfigkeit und seinem überzogenen Vertrauen auf die eigenen Kräfte schwere Schläge. Falsche Gewissheiten zerbrechen. Der Stolz des jungen Basken erleidet tiefe Wunden. Aber gerade diese Krisensituationen erweisen sich als Zeiten, in denen der himmlische Lehrmeister dem irdischen Schüler zu einem besseren Verständnis des göttlichen Willens verhilft. Als Íñigo zum Beispiel auf seinem Pilgerweg in Manresa Halt macht, hat er eine sehr konkrete Vorstellung davon, wie das Leben eines Aszeten auszusehen hat. Dazu gehört für ihn unter anderem das penible Beichten aller begangenen Sünden. Aber anstatt im Sakrament inneren Frieden zu finden, wachsen in ihm Skrupel an der Vollständigkeit seiner Beichte, und diese Skrupel lassen ihn immer mehr verzweifeln. Sie treiben ihn bis an den Rand eines Suizids. Íñigo fühlt sich versucht, seine neue Lebensform aufzugeben. In diesem Moment „erwacht“ der junge Baske: Die schlimmen Folgen seiner Skrupel lassen ihn erkennen, dass diese nicht die Stimme eines gnädigen Gottes sein können. Diese Einsicht lehrt Íñigo, seinen Skrupeln kein Gehör mehr zu schenken, und gerade so

13 wird er offen für eine neue Begegnung mit dem barmherzigen Gott. Seine ursprüngliche Idee eines Lebens als Aszet erweist sich als undurchführbar. Diese Idee aufgeben zu müssen, wird zu einem wichtigen Lernschritt im geistlichen Leben. Als der Pilger in Jerusalem angekommen ist und dort bleiben will, gebieten ihm die dortigen religiösen Autoritäten seine Rückkehr. Aber entsprach es denn nicht dem Willen Gottes, dass er im Heiligen Land leben soll? Immer mehr geht Íñigo auf, dass die Nachfolge Christi nicht darin besteht, sich an den Orten aufzuhalten, an denen der Herr einst gelebt hat, sondern das zu tun, was dieser getan hat, nämlich „den Seelen zu helfen“. Dafür bedarf es theologischer Bildung; und so beginnt sich ein religiöser Vagabund in einen zielstrebigen Studenten zu verwandeln. Es folgen weitere Augenblicke des Scheiterns, in denen Íñigo umdenken muss. Durch diese Momente lernt er, mit innerer Offenheit immer neu nach dem Willen Gottes zu fragen, anstatt diesen Willen mit eigenen Wünschen und Ideen zu identifizieren. Er kreist nicht länger um sich selbst und sein fixes Idealbild eines Heiligen, sondern öffnet sich für die echten Nöte seiner Mitmenschen und damit auch für den Heilswillen Gottes. In dem Maße, wie für ihn nicht mehr von vornherein „alles klar“ ist, wächst in ihm die Klarheit echter Gotteserkenntnis. Jan Korditschke SJ Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! Die Versuchung des Ignatius, Gemälde von S. Conca, um 1750, Päpstliche Universität Salamanca © SJ-Bild

Ich schaue alles nochmals an und Gott schaut mit. Ora et labora – pray and workaholic Verwaiste Gebetsecke – in der Begegnung dem Willen Gottes auf der Spur Ich gebe zu, dass die Gebetsecke in der Zimmernische, in der auch mein Bett steht, Gefahr läuft zu verwaisen. Schön hergerichtet mit Teppich, einem Schemel zum darauf Sitzen, eine Bibel, eine kleine Kerze und das Noviziatskreuz, welches ich bei meinem Eintritt in den Orden vom Novizenmeister überreicht bekam und das mich seit 13 Jahren begleitet. Ein heiliger, ruhiger Ort, der stets darauf wartet, von mir besucht zu werden. Aber meine Sendung, die ich vor zwei Jahren von Pater Provinzial erhalten habe, als Jesuit am Canisius-Kolleg die außerschulische, verbandliche Jugendarbeit zu leiten, ist zeitintensiv, und der Tag könnte oftmals 30 und nicht nur 24 Stunden haben. Die Muße, mich ins Gebet zu vertiefen und so Ruhe und Kraft zu finden, habe ich dabei nicht immer. Mein Gebetsleben muss sich meinem unsteten Tagesablauf, seinen Sprüngen und Abwechslungen anpassen. Teils beginnt er schon morgens um 7 Uhr, teils endet er nach Mitternacht. Meine Sendung erfordert ein hohes Maß an Einsatzbereitschaft, das Gebetsleben ist nicht weniger anspruchsvoll. Morgens, wenn ich es schaffe, sitze ich, das Jesus-Gebet betend, ein paar Minuten auf dem Schemel. Dabei kommen mir regelmäßig die Gedanken in den Kopf, was der Tag für mich bereithalten wird, welche Züge er nehmen wird und was zu erledigen ist. Diese Zerstreuungen nehme ich mit ins Gebet und bitte Gott, mir die Kraft zu geben, den Tag in seinem Sinne zu gestalten. Den Tag über bin ich in Kontakt mit Jugendlichen. Sie kommen mit den unterschiedlichsten Anliegen zu mir, die ich ernst nehmen und zu meinen eigenen machen muss. Wie etwa jugendliche Leiter, die mir Probleme mit ihren Gruppenkindern schildern und von ihrem Geistlichen Leiter Hilfe erwarten. Auch ganz persönliche Dinge werden mir anvertraut: weshalb einer gerade mit sich hadert und in seinem Selbstwertgefühl aufgebaut werden muss. Da bleibt nicht viel Zeit für das stille Gebet. Ich möchte funktionieren und für alle und alles ein offenes Ohr und verfügbare Hände haben. Erst am 14 Schwerpunkt Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute!

Ende des Arbeitstages schaffe ich es dann, langsam abzuschalten. Ich gehe für eine halbe Stunde schnellen Schrittes durch den Tiergarten oder um den Block des Diplomatenviertels. Dabei gehen mir Begegnungen und Gespräche, Erfreuliches und Unerledigtes, all die Dinge des Tages nochmals durch den Kopf. Ich schaue alles nochmals an und Gott schaut mit. Ich rede mit ihm über Probleme wie mit einem besten Freund und frage ihn nach Rat und Lösungen. Ich frage ihn, was er, Jesus, an meiner Stelle getan oder gesagt hätte: Wie hätte er sich verhalten? Das ist mein intimstes Gebet des Tages. Dabei bete ich auch für die Menschen, denen ich den Tag über begegnet bin. Wenn viel zu tun ist, wenn man ständig unterwegs ist, dann ist es besonders erforderlich, bewusste Auszeiten zu nehmen, auch wenn es nur wenige Minuten sind. Jesus zu fragen, was er an meiner Stelle tun würde, und dann weitergehen. Das ist oft schon Gebet genug und bringt mir Zuversicht und Gelassenheit. So bin ich und ist man auf dem besten Wege, dem Willen Gottes betend auf die Spur zu kommen. Mein Dienst an den Anderen, meine Verfügbarkeit für sie und mein Handeln mit ihnen und für sie ist mein Gebet, mein Gottesdienst. Auch die Herausforderungen, denen ich die Stirn bieten musste. Das zu wissen hilft mir, meine Schwächen des Tages ehrlich anzunehmen. Nicht selten komme ich erst spät abends ins Zimmer, falle alsbald ins Bett, und das abendliche Examen reduziert sich zu einem bewusst ausgesprochenen „Danke und Entschuldigung“ stellvertretend adressiert an zwei Postkarten an der Wand über meinem Nachttisch: Albrecht Dürers „Betende Hände“ mit dem Spruch „Gott sei Dank“ und einem Bildnis des Hl. Ignatius v. Loyola. Dazu streife ich mit meiner rechten Hand über beide Karten. Da spüre ich in mir eine tiefe Zufriedenheit und Dankbarkeit für den Dienst an den anderen, den mir Anvertrauten, und für Gottes Präsenz, die mich den Tag über getragen hat. Dann fallen meine Unzulänglichkeiten und Schwächen nicht ins Gewicht, da ich mich geliebt und getragen weiß, auch wenn mein Gebetsleben unvollkommen ist und immer sein wird. Felix Schaich SJ Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! 15 © SJ-Bild

Aldrig i livet! (Nie im Leben!) Warum Jesuit sein heute? Beim Firmunterricht erzähle ich jedes Jahr von meinem Jesuit sein. Dann stelle ich üblicherweise die etwas herausfordernde Frage: Wer könnte sich jetzt vorstellen, Jesuit zu werden? Meistens herrscht vollständige Stille im Raum. Manchmal brechen ein paar Jungen in Lachen aus. „Aldrig i livet!“, habe ich auch schon als Antwort bekommen! Man könnte vermuten, dass der größte Widerstand von den Gelübden ausgelöst wird. Gehorsam, Armut und ehelose Keuschheit stehen einfach im Widerspruch zu den Werten der modernen Gesellschaft. Allerdings scheint mir das eigentliche Hindernis das Entscheiden selbst zu sein. Man muss eine bewusste Wahl treffen, sich an einen konkreten Lebensweg binden und alle anderen Möglichkeiten loslassen. Es ist ein Risiko, das die meisten anscheinend nicht eingehen möchten, eine zur modernen Praxis völlig gegensätzliche Vorgehensweise. Insofern stellt sich die Frage nach der Motivation junger Ordensleute. Warum wird man heute Jesuit? In einer schnellen, modernen und virtuellen Welt? Spirituelle Vertiefung ist sicherlich ein wichtiger Beweggrund. Die geistlichen Übungen des heiligen Ignatius von Loyola sind ein Weg, Gott und sich selbst durch Meditation in der Stille besser kennenzulernen. Gemeinschaftsleben ist ein anderer wichtiger Faktor. Man will Jesus Christus nachfolgen, aber nicht alleine. Man will seinen Glauben vertiefen, aber man braucht die Unterstützung einer Gemeinschaft. In einer immer mehr individualistischen Gesellschaft ist das Gemeinschaftsleben für viele sowohl ein Antrieb als auch eine Herausforderung. Der Dienst an anderen ist auch eine starke Motivation. Von Anfang an hat Ignatius den Ruf gespürt, „den Seelen zu helfen“. Bei den ersten Jesuiten ging es um Ausbildung, geistliche Begleitung und Werke der Barmherzigkeit – alle Wirksamkeitsfelder, die heute weitergeführt werden. Ein Leben wird erst wirklich erfüllt, wenn man es für andere einsetzen kann. Ähnlich wie bei anderen Lebenswegen ist es nicht so einfach, der Frage „Warum Jesuit sein heute?“ eine definitive Antwort zu geben. Warum habe ich gerade diese Frau oder diesen Mann geheiratet? Die Erfahrungen, die uns dazu geführt haben, sind nicht einfach zu beschreiben, und das viele Analysieren führt leicht zu einer Banalisierung der Liebe. Die Berufung zum Ordensleben, Priestersein, Familie oder auch die Entscheidung, den eigenen Glauben durch die Firmung zu bestätigen, bleiben in diesem Sinn ein Geheimnis. Mikael Schink SJ 16 Schwerpunkt Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute!

Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! Geistlich – Praktisch – Gut Die Jesuiten: Ein Klerikerorden und ein Brüderorden Mit dem etwas abgewandelten Werbeslogan eines Süßwarenkonzerns ließe sich – augenzwinkernd – die Voraussetzung für eine Berufung zum Jesuitenbruder recht passend umschreiben: ein gewisses geistliches Interesse sollte vorhanden sein, vor allem aber praktische Fähigkeiten, und damit ist’s gut. Freilich galten diese Voraussetzungen eher in früherer Zeit. Brüder traten entweder mit einem erlernten Beruf – oft ein Handwerk – ein, oder sie absolvierten im Orden eine entsprechende Ausbildung. Seit den 1960er Jahren hat sich das geändert. Brüder übernehmen mittlerweile alle Arbeiten innerhalb des Ordens, von der akademischen Lehre über Verwaltungs- und Managementaufgaben bis hin zur pastoralen oder sozialen Arbeit. Entsprechend studieren sie und bilden sich weiter, ebenso wie Priester. Ein wenig von der früheren Zeit reicht jedoch noch in die heutige hinein. Zumindest in meinem Fall. Beim Eintritt in die Gesellschaft Jesu war ich fast 40 Jahre alt und brachte zwei Berufe mit: Betriebswirt und Krankenpfleger. Nach längerer Sinnsuche und Neuorientierung hatte ich mich entschlossen, um Aufnahme in den Orden zu bitten. Ich wollte aber keineswegs Priester werden, sondern „einfach nur“ Jesuit. Möglicherweise lag es an mei- nem protestantischen Hintergrund, sicher auch an dem gewaltigen Berg von Theorie, der bei einem Philosophie- und Theologiestudium zu bewältigen ist: eine Priesterberufung spürte ich jedenfalls nicht. Nach dem Noviziat fing ich gleich beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst an zu arbeiten, wo ich auch heute noch tätig bin. Was bedeutet es nun, Jesuitenbruder zu sein? Kurz gesagt: es ist eine echte Berufung, nicht etwa eine Notlösung für diejenigen, die das Priestertum nicht anstreben können oder wollen. Die Tatsache, dass Brüder kein kirchliches Amt innehaben, macht sie frei, sich ganz den an sie gestellten Ordensaufgaben zu widmen. Die 34. Generalkongregation (1995) hat das so formuliert: „In gewisser Weise verkörpert der Ordensbruder das Ordensleben in seinem Wesen und kann deshalb dieses Leben in besonderer Klarheit deutlich machen.“ Bruder zu sein ist eine immerwährende geistliche Aufgabe. Sowie jeder Christ entsprechend der ihm oder ihr eigenen Lebenssituation Zeugnis geben soll von dem Gott, der die Liebe ist, so sollen Ordensbrüder (wie auch Ordensschwestern) zeichenhaft das geschwisterliche Miteinander unter den Menschen sichtbar machen. „Denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder.“ (Mt. 23,8) Dieter Müller SJ 17

Als Sünder berufen „Was heißt Jesuit sein? … erfahren, dass man als Sünder trotzdem zum Gefährten Jesu berufen ist.“ Auf einem Workshop der Berufungspastoral der Jesuiten habe ich mich als Interessent einst mit dieser Aussage aus dem 2. Dekret der 32. Generalkongregation (1975) beschäftigt. Die Frage ist ja eine zentrale – gerade, wenn man in diesen Orden eintreten will! Die schon gesetzte Antwort überraschte mich zunächst, und dann kamen Gedanken, dass wir ja alle Sünder sind, Fehler machen, uns Heilung erbitten dürfen, und sie uns von Gott geschenkt wird – durch die Begegnung mit Jesus, allein aus seiner Liebe heraus. Dieses Grundaxiom unseres Glaubens stelle ich nicht in Frage. Es ist Hoffnung für mich, und doch inzwischen auch eine Herausforderung. Die Jesuiten schreiben, dass Berufung und Sünde irgendwie zusammen hängen: eine Sünde, die am Ende konkret und strukturell vorhanden ist. Sichtbar, schmerzhaft und mit Tränen behaftet. Nicht nur für uns, sondern auch für unsere Mitmenschen; jene, für die wir da sein wollen und durch die wir Gott loben, wenn wir ihren Seelen helfen. In den vergangenen Jahren spürte ich überdeutlich, was es heißt, dass wir als Orden von einer tatsächlichen Sünde sprechen müssen. Weniger aus Angst, weil unser Heil in Gefahr sei. Nein, sondern weil es anderen womöglich schwer fällt, an Gottes oder der Menschen Liebe zu glauben, weil Kinder und Jugendliche auch in unseren Einrichtungen – ja sogar durch Mitbrüder selbst – unfassbares Leid erfahren haben. Am Aloisiuskolleg wurde ich unmittelbar mit dieser Tatsache konfrontiert. Kann man dort noch einfach so arbeiten, wo das geschehen ist, worüber Zeitungen und aufklärende Berichte geschrieben haben? Nein, einfach so kann man das nicht. Es verändert einen selbst, im Umgang mit den Menschen und mit Gott, im Reden und im Beten. Und doch kann man dort arbeiten, in einem engagierten Team motivierter Mitarbeiter, die nicht einfach so weitermachen wollen – aber dennoch weitermachen, vorankommen wollen. Menschen, die nicht erneut die Augen und Ohren verschließen. Heute bin ich dankbar dafür, dass es im Orden Mitbrüder gibt, die Opfern Glauben schenken. Endlich duften Opfer reden, sie wurden gehört und das unerträgliche Schweigen ist gebrochen. Mich trägt tatsächlich die Hoffnung, dass wir als Sünder trotzdem zu Gefährten Jesu berufen sind; aber auch unsere gemeinsame Anstrengung und Mühe, die es kostet, dass wir als Orden mit dieser Sünde leben und so vielleicht ein Stück weit ehrlicher sind. Marco Hubrig SJ 18 Schwerpunkt Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute!

Etappen auf unserem Weg Noviziat Als Novize prüfe ich meine Berufung. Dafür sollte ich sie eigentlich schon kennen. Aber sie zeigt sich mir erst langsam: Zu Anfang meines Noviziatsprozesses erschrak ich, wie sehr es doch ursprünglich meine Wunden und Ängste waren, die mich versteckt auf diesen Weg geführt hatten – und somit nicht Gott?! Für Gott ist das wohl eine falsche Alternative. Ich glaube, er hat mich nicht trotz, sondern durch, ja wegen meiner Schwächen hierher gerufen. Meine Schwachheit ist ihm doch am Liebsten. Gottes Sohn selbst ist schließlich auch am Kreuz gestorben. Jetzt, nach einem Jahr, staune ich dankbar, dass nicht nur er sich mir, sondern mehr und mehr auch ich mich ihm schenken darf und möchte: in der Nachahmung Jesu. Ihm, das heißt auch: Ihm in Anderen. Welch Geschenk, dass ich mich ihm schenken kann! Ganzselbstschenkung von beiden Seiten – das ist es, was wir Liebe nennen, oder? Moritz Kuhlmann SJ Magisterium (Praktikum) Bis Juli 2014 habe ich im Internat des Aloisiuskollegs gearbeitet; zusammen mit einigen Kollegen war ich Pädagoge in der Sekundarstufe I. Kein einfacher Ort. Hier am Ako sah ich auch die Abgründe dessen, wozu Menschen fähig sind. Hier, wo junge Menschen zutiefst verletzt wurden – hier sollte ich arbeiten. Und ich wollte es auch! Ein Exot – als einziger Jesuit im Internat. Konkrete Berufungsfragen stellen sich Jugendliche in diesem Alter nicht. Aber deswegen war ich auch nicht dort – nicht um Jugendliche zum Ordensleben zu bewegen, wohl aber zum Leben! Präsent sein, da sein; zuhören und die Jugendlichen wachsen lassen. Ich war leidenschaftlich gern dort. Inzwischen bin ich in Rom, studiere Psychologie und mache eine Ausbildung zum Therapeuten. Mich trägt die Beziehung zu Jesus – und der Orden, in dem wir alle Freunde im Herrn sind. Marco Hubrig SJ 19 Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! © SJ-Bild/Ender

Aufbaustudium Getting real. Was mich zurzeit als Jesuit am meisten antreibt, ist die Frage danach, wie mein Glaube konkret wird. Geistlich gesehen geht es um den Begriff der Inkarnation – der „Fleischwerdung Gottes“. Ich bin 31 und studiere seit einem Jahr „Pastoral Counseling“ in Chicago. Zwei weitere stehen noch aus. Das waren genau die Lebensjahre Jesu, die uns in den Evangelien überliefert werden. Und ich studiere. Mit Leidenschaft. In meinem Studium lerne ich, wie heilsam es ist, achtsam zuzuhören. Dabei neige ich von meinem Naturell eher zum „Dozieren“. In dieser Spannung erlebe ich jedoch, was es bedeutet, an einen lebendigen Gott zu glauben. Denn „der Glaube kommt vom Hören“. Ich bin so alt, wie Jesus es war, als er Jünger um sich scharte und Tausenden von Menschen predigte. Und ich bin so alt wie wohl einige seiner besten Freunde in jenen Tagen. Aus diesem Bewusstsein heraus versuche ich jeden Tag neu, mit meinem Leben hörend eine Antwort zu geben. Simon Lochbrunner SJ Schwerpunkt Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! 20 Theologiestudenten bei einer Vorlesung © SJ-Bild/Bostelmann

War es eine gute Wahl, Jesuit geworden zu sein? 21 Tertiat Das Tertiat – Schule des Herzens oder Dritte Prüfungszeit – ist eine Zeit, in der sich ein Jesuit am Ende seiner Ausbildung einige Monate lang unter speziellen Bedingungen erneut die Frage stellt, ob es eine gute Wahl war, Jesuit geworden zu sein. Zusammen mit elf lateinamerikanischen „Tertiariern“ durchlebte ich auf Kuba eine Herzensschule der besonderen Art. Die Wärme und Gastfreundschaft, mit der mir viele Kubaner begegneten, bildeten eine tiefgreifende Erfahrung. Weit tiefer ging aber die Begegnung mit dem Glauben vieler Menschen, der die fast vierzigjährige systematische Unterdrückung christlichen Lebens in dieser kommunistischen Diktatur wie durch ein Wunder überstanden hat und sich gerade bei den Ärmsten in all seiner schöpferischen Kraft behauptet: das Gesicht des Menschen, der alles von Gott erhofft und alles von Gott erhält. Da Jesuit sein auch eine Einübung in diese Haltung ist, haben gerade meine Erfahrungen auf Kuba diese Wahl bestätigt. Jan Roser SJ Unruhestand Was mich heute bewegt! In der Karl-Rahner-Akademie hatte ich das große Glück, mit Referenten unterschiedlichster Weltanschauungen zu arbeiten. Das Konzil hatte uns die Möglichkeit zum Dialog innerhalb und außerhalb der Kirche geöffnet. Ich wurde gezwungen, weit über den Horizont dessen zu denken, was wir in unseren Studien gelernt hatten. Was mich in diesen Jahren geprägt hat, das lebe ich noch heute. Immer wieder werde ich zu Vorträgen über Theologie und Philosophie eingeladen. Die zeitweilige Resignation aufgrund restaurativer Kräfte in der Kirche scheint mir durch Papst Franziskus wieder einer neuen Hoffnung zu weichen. Aufgrund des Vertrauens, das mir von vielen Menschen geschenkt wurde und wird, werde ich immer wieder gefragt, wie man heute noch glauben kann. Wege einer Antwort sind mir die Ignatianischen Exerzitien. Gerne bin ich bereit zu geistlicher Begleitung. Nicht zuletzt nutze ich die Möglichkeiten zur Glaubensverkündigung in den Gemeinden. Alfons Höfer SJ

Von den Prioritäten Jeder Mensch hat täglich mit den Prioritäten zu kämpfen, so ist mein Eindruck. Ständig drängt sich etwas in den Vordergrund, nimmt Zeit und Raum ein, so dass es dann Mühe macht, die Dinge zu ordnen und nicht die Übersicht zu verlieren. Seit Jahren hilft mir da eine Stille Zeit am Morgen, vor Beginn der Arbeit. Ich nehme dazu das Evangelium des Tages und oft meinen Terminkalender. Der Blick in den Kalender löst dann nicht unbedingt Ruhe aus, im Gegenteil, es kommt eher ein Gefühl der Ratlosigkeit, wie man das dann alles schaffen soll und wann noch etwas vorbereitet werden kann. Das stimmt. Aber dann bringe ich das alles – das drängende Chaos, die Unübersichtlichkeit und die eigene Mühe vor Gott und bitte um Hilfe. Und am Ende der Stillen Zeit habe ich oft erlebt, dass sich die Dinge geordnet haben. Ich weiß dann auch, womit ich anfangen muss. Das klingt vielleicht etwas simpel und naiv, vielleicht auch fromm. Wer es aber einmal versucht, wird feststellen, wie schwierig es ist, wie viel es an innerer Disziplin verlangt und auch, was es an Kraft kostet. Hans Magnus Enzensberger hat die Situation vieler Menschen sehr deutlich in seinem Gedicht „First Things First“ zur Sprache gebracht: „Grundsätzlich haben wir nicht viel einzuwenden gegen Fegefeuer, Reinkarnation, Paradies. Wenn es sein muss, bitte! Vorläufig allerdings haben wir andere Prioritäten. Um das Katzenklo, den Kontostand und die unhaltbaren Zustände auf der Welt müssen wir uns unbedingt kümmern, ganz abgesehen vom Internet und von den Wasserstandsmeldungen. Manchmal wissen wir nicht mehr, wo uns der Kopf steht vor lauter Problemen. Immerzu stirbt jemand, dauernd wird jemand geboren. Da kommt man gar nicht richtig dazu, sich Gedanken zu machen über die eigene Unsterblichkeit. Erst einmal ein rascher Blick in den Terminkalender, dann sehen wir weiter.“ (Aus: Leichter als Luft. Moralische Gedichte. Frankfurt, 1999) 22 Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute! Geistlicher Impuls

23 Weil die letzten Fragen über Geburt und Tod weit nach hinten verschoben werden oder einfach hinten herunterfallen, sind die Prioritäten durcheinander geraten. Banales, Alltägliches hat die vorderen Plätze belegt. Wirklich wichtig aber ist die Frage: Wofür will ich leben und arbeiten und meine Energie einsetzen? Die Antwort von Ignatius von Loyola lautet: „Der Mensch ist geschaffen, um Gott zu loben und zu ehren.“ Er setzt also Gott an die erste Stelle seines Lebens und dadurch hat er eine Ordnung gefunden. Alles andere kommt dann von selbst an seinen Platz. Und er fährt fort: „Die übrigen Dinge auf dem Angesicht der Erde sind für den Menschen geschaffen und damit sie ihm bei der Verfolgung des Ziels helfen, zu dem er geschaffen ist.“ Konkrete Anregungen: • Sie können Gott um seine Hilfe in der täglichen Ordnung bitten und um die Unterscheidung vom Wichtigen und Unwichtigen. Sie werden Hilfe bekommen. • Womit fangen Sie den Tag an? Entspricht dieser Anfang dem, was Ihnen das Wichtigste ist? • Ein Blick in einige biblische Texte kann weiterhelfen: Psalm 127; Buch der Sprüche 10,22; Jesus Sirach 11,11. Evangelien: Mt 6,25-34; Lk 12,13-21. Christoph Kentrup SJ © Stefan Weigand

200 Jahre Wiedererrichtung des Jesuitenordens (1814-2014) Vom Sie zum Du Der Wandel des Lebensstiles im Orden Nach dem Schock des Verbotes des Ordens durch den Papst (1773) musste die Gesellschaft Jesu nach ihrer allgemeinen Wiedererrichtung durch den Papst vor 200 Jahren (1814) zuerst einmal gleichsam zu sich selbst finden, ihren Stil in Leben und Apostolat entwickeln. Und der war im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert relativ Rom hörig („ultramontan“) und aszetisch geprägt. Die gebotene Kürze motiviert mich, auf den „Wandel der Lebensstile“ zu schauen, den ich selbst seit 1948 im Orden erfahren habe. Das geht über die deutsche Ordensprovinz hinaus, hatte aber seine Auswirkungen auf sie. Ich denke da vor allem an die „Generalkongregation“ (GK), das oberste gesetzgebende Gremium des Ordens, das mehrheitlich aus gewählten Ordensmitgliedern aus aller Welt besteht. Ich habe an drei GK (1974-75, 1983, 1995) in Rom teilgenommen. Man braucht nur die Aussagen der vorkonziliaren, z.B. der Generalkongregation von 1957, mit denen der nachkonziliaren Generalkongregationen ab 1965-66 zu vergleichen, um den inhaltlichen Wandel zu sehen. Die Gesellschaft Jesu definiert sich gleichsam neu. Alles nach dem konziliaren Impuls „zurück zu den Wurzeln“ und zur „Verheutigung“ (Aggiornamento). Als Beispiel sei genannt die Erklärung „Jesuiten heute“ und das Dekret „Unsere Sendung heute“: nicht mehr nur „Dienst am Glauben“, sondern auch „Förderung der Gerechtigkeit“. Dies alles fasste der Generalobere Pedro Arrupe SJ gut in dem Wort zusammen: Der Jesuit ist ein „Mensch für andere“. Pater Arrupe führte diesen Wandel im Selbstverständnis des Jesuiten und in der apostolischen Ausrichtung des Ordens trotz der Schwierigkeiten, die das mit sich brachte, konsequent durch; wiederum ein Beispiel: die Gründung des „Jesuit Refugee Service“ 1980. Arrupes Nachfolger als Generaloberer, Peter-Hans Kolvenbach SJ, hat bei aller unterschiedlichen Vorgehensweise diese Linie weiterverfolgt. Für mich ist dieser „Stil-Wandel“ am deutlichsten „personifiziert“ in Papst Franziskus. Ich habe mit Jorge M. Bergoglio SJ während der GK 1974-75 drei Monate zusammengelebt. Ich erlebe ihn jetzt als Papst. Ich kenne ihn kaum wieder. Ein anderer Mensch, eben ein „Mensch für andere“. Der Übergang „Vom Sie zum Du“ bei den Jesuiten der deutschen Provinzen war signifikanter Teil dieses von Konzil und GK angestoßenen „Wandel des Lebensstiles“. Als ich 1948 ins Noviziat kam, war das Sie untereinander selbstverständlich. Selbst leibliche Brüder und Duz-Freunde mussten sich nach dem Eintritt in den Orden siezen. Das blieb so noch etwa 15 Jahre. Wie wurde das begründet? Die Satzungen sprechen da sehr deutlich: „Jeder soll sich darum bemühen, alle fleischliche Zunei24 Jesuiten n November 2014 n Jesuit sein heute? Gerade heute!

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