"Ist Ihnen alles egal, Pater Terstriep?"

In einer Welt der schnell und scharf formulierten Werturteile rät P. Dominik Terstriep SJ zur Übung der Indifferenz: die Dinge gleichmütig betrachten. Doch irgendwann müsse man diese Position verlassen und springen. Wann genau?

Indifferenz hat auf Deutsch keinen guten Klang: Gleichgültigkeit. Ist Ihnen alles egal, P. Terstriep?

Ganz im Gegenteil! Indifferenz meint zwar Gleichgültigkeit, aber bezogen auf das Objekt, also die Dinge, die man beurteilen möchte: denen sollte man zunächst mit Abstand gegenübertreten und sie gleich gelten lassen. Sie eben nicht vorschnell werten oder sich gleich leidenschaftlich in eine Sache stürzen. Das ist etwas anderes als ein Achselzucken, bei dem einem alles egal ist. Ich würde die Haltung der Indifferenz auf den Betrachter bezogen eher mit Gleichmütigkeit bezeichnen.

Warum ist diese Haltung wichtig?

Weil sie uns hilft, gute Entscheidungen zu treffen. Wenn ich mir meine Optionen in einer Sache über eine längere Zeit ausgewogen anschaue und nicht nur Argumente sammle, sondern auch in mich hineinspüre, dann wächst die Wahrscheinlichkeit, dass ich für mich die richtige Entscheidung treffe. Schnelle Entscheidungen hingegen stellen sich häufiger im Nachhinein als falsch heraus. Das gilt für berufliche Entscheidungen, die Partnerwahl, private Weichenstellungen, Fragen des eigenen Lebenssinns.

Lebenssinn, gibt es den denn?

Natürlich, jeder hat seinen eigenen. Wir Christen sind überzeugt davon, dass Gott für jeden von uns etwas angelegt hat mit der Person, die wir sind. Mit den Talenten, die wir haben, und auch mit unseren Begrenzungen oder Schwächen. Der Heilige Ignatius hat Indifferenz so verstanden, dass wir uns den Weg zu unserer ganz persönlichen Bestimmung nicht verbauen durch Leidenschaften für das ein oder andere, sondern uns möglichst offen halten für den Willen Gottes.

Aber Leidenschaft ist doch nichts Schlechtes?

Aber nicht der erste Schritt einer guten Entscheidung für oder gegen etwas. Sondern der letzte. Sonst läuft man Gefahr, dass man einer Vorliebe bzw. einer Abneigung oder einem spontanen Impuls folgt. Ich vergleiche das gern mit dem Torwart beim Fußball. Wenn ein Gegner auf ihn zukommt, springt er nicht sofort, sondern hält sich zunächst möglichst lange möglichst viele Optionen offen. Rauslaufen, drinbleiben, rechts, links, Mitte. Erst im letzten Moment wirft er sich dem Ball entgegen. Da verlässt er die Haltung der Indifferenz und trifft die Entscheidung, die er dann viel besser treffen kann, als wenn er dem ersten Impuls gefolgt wäre. Wenn er sich aber entschieden hat, muss er sich mit Leidenschaft in diese Entscheidung werfen. Das Beispiel zeigt nämlich auch, Indifferenz kann nicht die permanente Haltung sein. Sonst bliebe der Tormann weiter stehen, und der Gegner könnte ungestört an ihm vorbeischießen. Durch immerwährende Indifferenz wird man gleichgültig, im schlimmsten Fall zynisch.

Wie geht das genau, eine gute Entscheidung zu treffen?

Hilfreich ist es, zumindest wichtige Entscheidungen im Leben nach einem bestimmten Muster anzugehen. Der erste Schritt ist Information: Habe ich alle erforderlichen Informationen, um einen Sachverhalt zu beurteilen. Und zwar sowohl was die Sache selbst betrifft, als auch meine eigenen Fähigkeiten: Kann ich das überhaupt? Der zweite Schritt ist es, vernünftig zu überlegen, die berühmte Liste mit Argumenten für und gegen die einzelnen Optionen anzulegen. Nur, was viele übersehen: Eine solche Liste allein reicht nicht für eine gute Entscheidung. Der dritte Schritt ist nämlich das, was wir Jesuiten Unterscheidung der Geister nennen: dass ich in die einzelnen Optionen hineinspüre, so als hätte ich mich bereits entschieden, sie mir innerlich ausmale in all ihren Facetten und dann versuche festzustellen, was mich zu einem Mehr von dem führt, was Gott in uns angelegt hat.

Und was ist das?

Alles, was mir innerlich mehr Erfüllung, Befriedigung, Trost bringt, mich letztendlich zu mehr Leben führt, wie es Gott in uns zugrunde gelegt hat. Wenn ich das erspürt habe, dann sind die Optionen plötzlich nicht mehr gleichwertig. Das ist dann der Moment für die gute Entscheidung. Dann ist der Zeitpunkt gekommen zu springen und sich mit Leidenschaft in die linke oder rechte Ecke des Tors zu werfen.

Muss ich für eine solche gute Entscheidung an Gott glauben?

Nicht notwendigerweise. Ich kann auch ohne Glauben an den Schöpfer mit diesen Fragen in mich hineinspüren: Was tut mir ganz im Tiefen meines Menschseins wirklich gut? Und was weniger? Aber der Glaube an Gott kann es leichter machen, da ich daran glaube, dass Gott eine Berufung für mich hat und mir durch seinen Geist auf die Sprünge hilft.

Kann ich das lernen, gute Entscheidungen zu treffen?

Ja, aber es bedeutet etwas Aufwand und Mühe. Wer die Anstrengung scheut, wird weiterhin schlechte Entscheidungen treffen. Andererseits: wir trainieren und optimieren in unserem Leben so vieles: Körper, Skills, Auftreten, Sprachen, Musikinstrumente, usw.. Aber seltsamerweise üben wir nicht das, was so wichtig für unser Leben ist: dass wir uns gut entscheiden.

Warum ist das so?

Ich weiß es nicht wirklich. Ich nehme nur wahr, dass gerade junge Menschen heute oft unfähig sind, sich festzulegen. Vielleicht liegt das daran, dass wir heute so viele Optionen haben, was die Lebensentwürfe, die Partnerwahl, das Urlaubsziel, den Beruf usw. angeht. Man braucht sich nur mal ein Knäckebrotregal hier in einem schwedischen Supermarkt anzusehen: da gibt es hundert Sorten! Vielleicht bleiben wir deshalb im Vagen, weil wir keine Optionen verlieren wollen. Wenn ich das aber nicht tue, dann bediene ich mich nicht meiner Freiheit, sie bleibt dann nur eine theoretische Möglichkeit. Und was man oft zunächst nicht sieht: wenn ich nicht bewusst versuche, gute Entscheidungen zu treffen, also die schlechteren Optionen aussortiere und die besseren zu verfolgen, dann werden die Entscheidungen anders getroffen: durch andere, durch Zufälle oder Launen. Dann führe aber nicht mehr ich mein Leben, sondern das Leben geschieht mit mir.

Es geht also um einen inneren Lebenskompass.

Genau, der fehlt heute vielen Menschen. Die Unterscheidung der Geister bei der Betrachtung der Optionen, die der Heilige Ignatius vor 500 Jahren entwickelt hat, erfüllt genau diese Kompassfunktion.

Und eine indifferente Haltung sorgt dafür, dass die Kompassnadel nicht abgelenkt wird?

Ja, sie ist die Basis für eine wirklich freie Entscheidung. Gleichzeitig ist sie in vielen Lebensbereichen auch eine hilfreiche, manchmal unverzichtbare Haltung. Wenn ich als Arzt im Elend arbeite, oder täglich Krebsdiagnosen mitteilen muss, dann kann ich mir kein überschäumendes Mitgefühl leisten, das geht nur mit einer gewissen Kühle – bei aller Leidenschaft für meinen Beruf. Schon Marc Aurel hat darüber in seinen Selbstbetrachtungen nachgedacht: Wie kann man mitten im Krieg überleben? Und auch in den vielen hitzigen Debatten unserer oft so aufgeregten Gesellschaft kann Indifferenz hilfreich sein: Man muss sich nicht über alles aufregen, kann auch andere Ansichten stehen lassen, wenn es Gründe für sie gibt – auch wenn man die Dinge anders sieht.

Haben Sie noch einen Tipp für mehr Indifferenz?

Ja, nehmen Sie sich regelmäßig Zeit dafür, nach innen zu schauen, am besten am Abend als Rückblick: Was geht in Ihnen vor, was tut Ihnen gut, was nicht, was tröstet Sie, was löst Unruhe aus? Betrachten Sie sich zunächst wertfrei und lernen Sie sich besser kennen. Notieren Sie Ihre Beobachtungen vielleicht in einem Tagebuch. Und beherzigen Sie das Vaterunser, dort steht ganz klar: „Dein Wille geschehe.“ Nicht meiner.

Interview: Gerd Henghuber

Mehr zum Thema im Buch „Indifferenz – von Kühle und Leidenschaft des Gleichgültigen“ von P. Dominik Terstriep SJ

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