Jesuiten 2013-3

Jesuiten Ein Herz größer als die Welt 2013/3 ISSN 1613-3889

Odilon Redon, Das heilige Herz (1895), Louvre, Paris © Dia-Dienst Ausgabe September/2013 Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Jesuitische Herzens-Bildung 4 Wo die Herz-Jesu-Verehrung blüht 5 Jesuiten und das Herz Jesu 6 Das Herz – mehr als nur eine Pumpe 8 Das Herz der Welt 10 Eine Sache des Herzens 11 Jesuiten und das Herz Jesu 12 Das Herz des Nazoräers 14 Ein Platz für unsere Wunden 16 Das Herzensgebet 18 Nicht das Bild, sondern der Inhalt 20 Vom Schmerzensmann im Kirchenlied zum Herz-Jesu-Tattoo Geistlicher Impuls 22 Berufen zur Care-Arbeit Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 28 Jubilare Medien 29 Ligeti an der Kölner Kunst-Station Sankt Peter Vorgestellt 30 Neue Priester braucht das Land 33 Autoren dieser Ausgabe Die besondere Bitte 34 City-Pastoral 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Virtualität – Anwesenheit des Abwesenden 6 Virtualität aus der Schulperspektive 8 Mailgewitter & Twitterstürme 10 In die Computerzeit hineinleben 11 Erreichbarkeit 2.0: Facebook ohne Ende 14 Online-Exerzitien 16 Pastorale Projekte 17 Warum ich (noch) nicht bei Facebook bin 18 Warum ich bei Facebook bin 20 blog.radiovatikan.de 21 Jesuiten in Facebook Geistlicher Impuls 22 Von der Versuchung, virtuell zu leben Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Vorgestellt 29 Gebetsapostolat Nachrufe 2012 30 Unsere Verstorbenen Medien 32 DVD: Die Schrittweisen. Zu Fuß nach Jerusalem 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Die besondere Bitte 34 Ein Abonnement „Stimmen der Zeit“ 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2012/4 2012/4 Titelbild: @ Fotolia „Virtualität ist die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen.“ Diese Definition aus „Wikipedia“ auf vielfältige Weise umzusetzen, nahm sich Simon Lochbrunner SJ mit seinen Bildern im Schwerpunktteil dieser Ausgabe vor.

Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser, „ Herz, mein Herz nicht in der Weite, In der Nähe liegt das Glück! Glaube, liebe, hoffe, leide Und kehre in dich selbst zurück.“ Das Herz ist nicht nur unser zentrales, lebenswichtiges Organ. Wir verbinden mit ihm starke Emotionen. Das Herz hat auch eine große geistliche Bedeutung. Julius Sturm (1816–1896) spricht im Gedicht von Glaube, Liebe und Hoffnung. Er sieht die drei Grundtugenden eines christlichen Lebens im Herzen verankert. So formuliert auch das jüdische Glaubensbekenntnis: „Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen.“ (Dtn 6,4-6) Der Dichter fügt ein viertes Wort dazu: „leide“! Er verweist auf die Verwundbarkeit des Herzens und auf die Passion – auf Leidenschaft und Leiden. Die Herz-JesuVerehrung hat genau dies hervorgehoben, indem sie Jesu Herz von Lanzen durchbohrt, mit Dornen umkränzt, blutend und brennend dargestellt hat. Jesuiten haben diese Frömmigkeit stark gefördert. Claude de la Colombière SJ war der Beichtvater von Marguerite-Marie Alacoque, mit deren Visionen sich im 17. Jh. die weltweite HerzJesu-Verehrung durchsetzte. Weihen an das Herz Jesu wurden durchaus auch politisch eingesetzt: in Tirol gegen den Josephinismus und während des Kulturkampfs in Deutschland. Durch Volksmissionen, Gebetsapostolat und religiöse Schriften hat der Jesuitenorden die Verehrung im Volk weit verbreitet. Heute sind die meisten dieser Bilder aus unseren Kirchen verschwunden. Doch nicht die Bedeutungstiefe des Herzens ist uns heute unverständlich geworden, es ist wohl eher die Bildwelt einer vergangenen Frömmigkeit. Die Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin, Karl Rahner und der Generalobere Pedro Arrupe versuchten im 20. Jh. den Gehalt neu zu übersetzen. So kann die Gebetsbitte an Jesus „Bilde unser Herz nach deinem Herzen“ auch heute ansprechen. Der unmittelbare, persönliche Umgang mit Jesus führt heraus aus der Selbstbezogenheit und gibt ein Herz für andere, für die Welt. Es nimmt Maß an seinem Herz, das größer ist als die Welt. In der Christusbeziehung steht das Herz nicht so sehr für das verborgenste Innerste, in dem allein das Glück zu finden ist, wie das spätromantische Gedicht andeutet. Christen geht es vielmehr darum, das Herz zu öffnen und andere einzuladen. Nicht eine bestimmte Form der Herz-JesuVerehrung zu wiederholen, sondern auszuloten, was dieses Motiv des Herzens Jesu heute bedeuten kann – darum geht es den Autoren dieser Ausgabe. Wir wünschen Ihnen eine zu Herzen gehende Lektüre! Holger Adler SJ Marco Hubrig SJ Bernhard Knorn SJ 1 Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt

Jesuitische Herzens-Bildung Zwischen Peinlichkeit und Innerlichkeit Jesuiten und Herz. Aufs Erste erscheint die Verbindung ungewohnt. Selbst wohlmeinende Kenner des Ordens können sich einen Gefährten Jesu leichter als Kardiologen denn als glühenden Apostel des Herzens Jesu vorstellen. Das war einmal anders: In Sachen Herz-Jesu-Verehrung hielten die Jesuiten zeitweise fast so etwas wie eine Art Frömmigkeitsmonopol. Auf den ersten Blick scheint an dieser Stelle etwas verloren gegangen. Oder ist die Innerlichkeit dieser eher persönlichen Frömmigkeitsform jenseits von kitschig-trivialer Überformung wieder dahin zurückgekehrt, wo ihr eigentliches Zentrum liegt? Die Mystik der geistlichen Übungen des Ignatius führt jedenfalls ohne Umwege in diese innerliche Richtung, zu einer diskreten und gleichzeitig konkret-dienstbereiten Christusbeziehung. Weit entfernt von Sentimentalität war und ist die authentische „Andacht“ zum Herzen Jesu ein verlässlicher Weg zu persönlicher Glaubenserfahrung. Das betende Zwiegespräch mit dem Erlöser als Dialog von Herz zu Herz wird zum Erfahrungsort voraussetzungslosen Geliebt-Seins, das wiederum in Taten der Liebe zur konkreten Antwort drängt. Das Zwiegespräch mit Christus am Kreuz ist eine der Schlüsselstellen der geistlichen Übungen. Auch wenn „Herz-Jesu“ als Begriff im Exerzitienbuch nicht vorkommt, so geht es um nichts anderes als einen Dialog der Herzen. Schon das Eröffnungsgebet macht klar: „Seele Christi, heilige mich“. Das Innerste der Person Jesu selbst, soll den Betenden prägen, „damit das Gleiche gespürt wird, was in Christus Jesus ist“. Die Übungen führen auf einem Erfahrungsweg zu einer inneren Erkenntnis Christi (intima cognitio). Geistliche Übungen im Sinne des Ignatius werden nicht als frommes Nach-Denken mit dem Kopf absolviert. Exerzitien sind ein Transformationsprozess, der das Innere nach dem Herzen Jesu bildet. Der Übende selbst wird bereit zur Hingabe und zum Dienst: „Nimm hin, Herr, und empfange meine ganze Freiheit“. In diesem Sinne ist vor aller Rationalität und Studium der Gesellschaft Jesu durch Ignatius eine Herzens-Frömmigkeit ins Stammbuch geschrieben. Herz-Jesu-FrömHerz-Jesu-Frömmigkeit und die Exerzitien leben aus der gleichen Quelle: Jesus Christus. 2 Schwerpunkt Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt

migkeit und die Exerzitien leben aus der gleichen Quelle: Jesus Christus. HerzJesu-Spiritualität bedeutet in der Dynamik der Exerzitien nichts anders als die Wiederholungsbetrachtung des Erlösungsgeschehens. Diese kongeniale Verwandtschaft hat dazu geführt, dass die Weitergabe dieser „Andacht“ im Auftrag vieler Päpste ein pastorales Herzensanliegen geworden ist, eine für Jesuiten „überaus angemessene Aufgabe“. Mit vielen anderen haben Jesuiten diesen Weg innerlicher Christusbegegnung immer wieder in neuen Formen weitergegeben. Doch neben der Erfolgsgeschichte haben sich auch Fehlformen eingeschlichen: Nicht selten führte eine allzu absichtsvolle Übertragung der intimen Herzensfrömmigkeit ins Äußerliche zu unangemessenem Kitsch. Wahre Innerlichkeit widersetzt sich Instrumentalisierungen und Fixierungen. Jesu Herz taugt nicht wirklich als dargestelltes, veräußerlichtes Organ. In diesem Sinn bleibt ein großer Teil der Herz-Jesu-Bilder durch naturalistische Darstellung distanzlos hinter dem Ideal einer intimen Frömmigkeit zurück. Noch lässt sich der menschgewordene Gottessohn auf eine Lichtgestalt reduzieren. An dieser Stelle müssen sich die Jesuiten der Frage stellen, inwieweit vielleicht ihre Herz-JesuKultpropaganda zum Bedeutungsverlust dieser Frömmigkeitsform beigetragen hat? Doch ungeachtet der Peinlichkeiten entfaltet die „Andacht“ zum Herzen Jesu im Zusammenhang mit der Jesusfrömmigkeit der Exerzitien ihre Fruchtbarkeit. Ignatianische Herz-Jesu-Frömmigkeit ist überall da, wo Frauen und Männer sich diskret und zugleich dienstbereit innerlich von Jesus zum Glauben und zum Einsatz für die Gerechtigkeit bewegen lassen. Deshalb gehören Herz-Jesu-Frömmigkeit und Jesuiten zusammen. Stephan Ch. Kessler SJ 3 Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt Foto: Matthias Janousch Albert Burckart „Herz Jesu“ (1954) St. Kunigund, Nürnberg

Der Glaube sucht Symbole, nicht nur Worte. Wo die Herz-Jesu-Verehrung blüht In jedem katholischen Haus im südindischen Bundesstaat Kerala hängt im Wohnzimmer das Bild vom Herzen Jesu neben einem Kruzifix und anderen Marien- und Heiligenbildern. Obwohl es eigentlich ein typisch katholisches Bild ist, findet man es auch bei vielen orthodoxen Christen. Das Herz-Jesu-Bild ist wie eine Ikone, ohne die im Haus etwas fehlen würde. Sogar in manchen Hindu-Familien gibt es das Bild – zum Beispiel bei unseren Nachbarn, bei denen das Herz Jesu neben Krishna und anderen Göttern steht. Die katholische Frömmigkeit ist auf sie übergesprungen, und das ist für sie in Ordnung. Wenn ich sie besuche, bitten sie mich, mit ihnen dort zu beten – und das mache ich mit großer Freude. Jede katholische Familie in Indien, besonders in Kerala, wo es viele Christen gibt, ist dem heiligsten Herzen Jesu geweiht. In vielen Bistümern wird im Juni traditionell der jährliche Familiensegen gespendet, für den es besondere Gebete gibt, zu denen die Herz-Jesu-Litanei gehört. Als ich ein Kind war, war ich mit unserem Pfarrer jedes Jahr zur Hausweihe unterwegs. Es war mir eine große Ehre, mit ihm jede Familie in der Gemeinde zu besuchen. Der Pfarrer segnet mit dem Weihwasser nicht nur die Bewohner des Hauses, sondern auch das gesamte Grundstück und die Ställe. Diese Tradition hält viele Familien fest zusammen. Alle Mitglieder der Familie versuchen unbedingt dabei zu sein. Ohne weiteres ist klar, dass eine Familie, die zusammen betet, gemeinsam durch dick und dünn gehen kann. Die wenigsten Leute wissen wohl, worauf diese Tradition zurückzuführen ist. Weder die Erwachsenen noch die Kinder ahnen, dass diese Verehrung und die jährliche Familienweihe mit der Hl. MargueriteMarie Alacoque im 17. Jahrhundert zu tun hat und von den Jesuitenmissionaren stark gefördert wurde. Erst als ich in den Orden eingetreten bin, habe ich davon erfahren. Und obwohl Jesuiten in der Syromalabarischen Kirche, der ich angehöre, aus historischen Gründen nicht immer beliebt sind, ist auch bei uns die Verehrung des Herzens Jesu im Volk sehr verbreitet. Denn der Glaube sucht Symbole, nicht nur Worte, die das Gemeinte ausdrücken. Das Herz Jesu ist ein Symbol der Gottesliebe – und wir sind berufen diese Liebe mitzuteilen. Thomas Kattathara SJ 4 Schwerpunkt Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt

Jesuiten und das Herz Jesu Persönliche Statements Biographisch kenne ich die Herz-Jesu-Verehrung aus den besonders gestalteten Gottesdiensten am Herz-Jesu-Freitag, in denen ich auch als angehender Ministrant schon bald den Weihrauchdienst übernehmen durfte. Daher war dieser erste Freitag im Monat bereits in meiner Kindheit aus dem Alltag herausgehoben. Inzwischen fällt mir an vielen sakralen Darstellungen und Abbildungen das besonders gestaltete Herz Jesu auf. Manchmal ist es von Nägeln durchbohrt, manchmal von Flammen umgeben, manchmal an einer für mich zu kitschigen Jesusstatue angebracht. Immer aber erinnert es mich an die zentrale wie geheimnisvolle Botschaft des Christentums: Gott ist leibhaftig Mensch geworden. Er ist nicht abstrakte Liebe geblieben, sondern er hat in Jesus ein Herz aus Fleisch und Blut und mit diesem Freud und Leid bis hin zum Kreuz erlebt. Jesus war ein Mensch wie wir und gleichzeitig unendlich viel mehr. Das Herz Jesu ist für mich Symbol, mein Herz, mein Leben von Gott erfüllen zu lassen, dabei fest im Hier und Jetzt zu stehen und gleichzeitig auf eine viel größere und weitere Wirklichkeit vertrauen zu dürfen. Hans-Martin Rieder SJ Ein Herz-Jesu-Bild hing in unserer Familie nicht. Die unübersehbaren Herz-Jesu-Darstellungen hatten nichts Einladendes. Die Anti-Kitsch-Welle, die damals über den deutschen Sprachraum hinwegrollte (bei Reisen in andere Länder vermissen wir sie meist), hielt uns von zu viel Herz-Jesu ab. Nahe lag immer der verpönte Reim: Herz – Schmerz. Dass auf die Darstellungen des „süßesten Herzens Jesu“ das nüchternruhige Jesusbild von Leo Samberger folgte, empfanden wir als Befreiung. Die Ablehnung bezog sich nicht auf das Gemeinte der Herz-Jesu-Verehrung, sondern auf Darstellung und Ausdrucksweise. Verdächtig freilich blieb „die große Verheißung“, die große Gnaden in der Sterbestunde verspricht, wenn man an neun Herz-Jesu-Freitagen hintereinander die Sühnekommunion empfängt. Diese Verheißung schrammt ja gefährlich am Aberglauben entlang. In Innsbruck war dann alljährlich als Kehrvers zu hören: So „geloben wir auf’s neue, Jesu Herz, dir ew’ge Treue.“ Damit konnte in Tirol der Zusammenhalt gegen die glaubensbedrohenden Truppen Napoleons beschworen werden; aber heutzutage klingt das angeschwächelt. Wer darf sich denn trauen, im Brustton der Überzeugung so zu unserem Herrn Jesus Christus zu sprechen? Das viel bescheidenere „Meister und Herr“ der Apostel steht uns eher zu. Peter Leutenstorfer SJ 5 Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt

Das Herz – mehr als nur eine Pumpe Von unseren inneren Organen ist das Herz das Organ, welches wir jeden Tag spüren können. Seine Aktivität spiegelt unseren Gemütszustand wider und verrät uns, ob wir traurig und müde oder verliebt und heiter sind. Es arbeitet ruhig, wenn wir entspannt sind, und steigert seine Leistung, wenn wir uns anstrengen. Als es zum ersten Mal schlug, war unser Körper ein millimetergroßer, winziger Zellhaufen, und es arbeitet seitdem Tag und Nacht für uns. Kein anderes Organ ist so lebenswichtig und vital und erlebbar wie das Herz. Imposant ist seine absolute Zuverlässigkeit mit einem verschleiß- und wartungsfreien Betrieb über 70, 80, ja 100 Jahre. Anatomisch gesehen ist das Herz letztlich nur ein kräftiges, 300 Gramm leichtes Muskelpaket von der anderthalbfachen Größe einer geballten Faust, welches in rhythmischer Folge ungefähr 60mal in der Minute, 100.000mal jeden Tag und somit in einem durchschnittlichen Leben fast 3 milliardenmal schlägt. Dabei befördert es rund 5 Liter Blut pro Minute oder 7.000 Liter pro Tag durch unseren Körper. Das Herz liegt im Brustkorb in einem Sack aus Bindegewebe zwischen den beiden Lungenflügeln etwas nach links versetzt, schräg hinter dem Brustbein. Es besteht aus zwei im gleichen Takt schlagenden Pumpen, die durch die Herzscheidewand voneinander getrennt sind. Die rechte Herzhälfte pumpt sauerstoffarmes Blut in den Lungenkreislauf, wo es mit Sauerstoff angereichert wird. Von dort gelangt es in die linke Herzhälfte, welche das sauerstoffreiche Blut über die Hauptschlagader in den Blutkreislauf befördert. Sämtliche Körperzellen werden so mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Neben dem Herzmuskel spielen die Herzklappen in diesem komplizierten System eine tragende Rolle. Sie regeln den Blutfluss im Herzen, indem sie das Blut in die richtige Richtung lenken und ein Zurückfließen verhindern. Die exakte, millisekundengenaue Choreographie dieses Systems regelt eine komplexe Schaltzentrale aus Erregungsbildungszentren im Herzen, die alle Herzaktionen autonom ordnet. Die Bedeutung des Herzens für die Menschen geht aber weit über die reine Organfunktion hinaus. Im Alten Testament findet das Herz Erwähnung als Ort von Verstand, Einsicht und Gewissen, aber auch von Schmerz und Freude. Auch in der heutigen Zeit, mehr als 350 Jahre nach der Entdeckung seiner eigentlichen Funktion für den Blutkreislauf durch William Harvey, hat das Herz für viele Menschen eine besondere Bedeutung, insbesondere in der Symbolik. So grüßen wir andere von Herzen, schließen jemanden in unser Herz, lieben von Herzen und lassen uns das Herz brechen. Wenn das Herz krank ist, leidet der ganze Körper des Menschen – und seine Seele. 6 Schwerpunkt Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt

Ärger, Stress, Druck und negative Emotionen wirken sich schädlich auf die Funktion des Herzens aus. Wir Ärzte wissen um die ganz besondere Zuwendung und Behandlung von Herzpatienten. Technische und pharmakologische Fortschritte drohen aber genau diese Aspekte in den Hintergrund zu drängen und die seelische Individualität und die Gefühle des Herzkranken zu vernachlässigen. Wir können heutzutage Herzinfarkte behandeln, Herzen transplantieren, Herzklappen austauschen, den Herzrhythmus erhalten oder krankhafte Rhythmusstörungen unterbrechen. Doch was das alles für den Patienten bedeutet, bleibt unbedeutend. Denn längst bestimmen Punkte, Zeitkontingente und der wirtschaftliche Erfolg ärztliches Handeln in der Praxis und im Krankenhaus. Die Gefahr einer betriebswirtschaftlich bestimmten Medizin ist real und präsent. Und gerade mit dem Herzen lässt sich trefflich Geld verdienen. Mehr Therapiemaßnahmen in immer weniger Krankenhaustagen lassen immer weniger Zeit für Aufklärung, Gespräche und Zuhören. Insbesondere die konfessionellen Häuser sollten sich gerade jetzt bewusst von der leistungsorientierten Medizin abwenden und eine Umkehr zu einem jesuanisch geprägten Füreinander im Krankenhaus einleiten. Dr. med. Christoph Kalka 7 Monika Fioreschy „Bluttransfusion“ (1995) Material: Silikonschlauch, Verbandsmaterial, Blut © Salzburg 2013

Das Herz der Welt Einer Metapher auf der Spur MAGIS, das ignatianische Jugendtreffen vor dem Weltjugendtag, stand 2011 unter dem Motto „Mit Christus im Herzen der Welt“. Etwa 3.000 junge Erwachsene aus mehr als 50 Ländern nahmen an verschiedenen sozialen Initiativen teil, in denen sie mit Freude, Hoffnung, Not und Unrecht in Berührung kamen – mitten in unserer Welt, die gespalten ist durch wirtschaftliche und soziale Unterschiede, Gewalt und Krieg, durch kulturelle und religiöse Gegensätze. Wer sich im Glauben an Christus auf diese Welt einlässt, gerät „in das Zentrum einer Spannung, die uns gleichzeitig zu Gott und zur Welt zieht: fest verwurzelt in Gott, während wir zugleich in das Herz der Welt eingetaucht sind“, wie die Generalkongregation der Jesuiten 2008 festhielt (Dekret 2). Mit Christus im Herzen der Welt zu leben bedeutet, an seinem Dienst des Heilens und der Versöhnung in dieser Welt teilzuhaben. Die Metapher „Herz der Welt“ erschließt sich in ihrer tieferen religiösen Bedeutung, wenn wir in unserer Spurensuche weiter zurückgehen. 1945 schrieb der damalige Jesuit Hans Urs von Balthasar ein Christusbuch mit dem Titel „Das Herz der Welt“, das sich bis heute von anderen Betrachtungsbüchern unterscheidet. Es ist ein lyrisch-hymnischer Text, in dem er jener unauslotbaren Glaubenserfahrung Ausdruck zu geben versucht, dass Gottes Handeln mit der Welt in der Menschwerdung Jesu ihr Zentrum hat. Seine Kreuzes-Liebe überschreitet unsere engen Grenzen, weil sie die Dynamik und die Sehnsucht des menschlichen Herzens kennt. Er ist das „Herz der Welt“, das sich ungeschützt und in verschwenderischer Freude hingibt und in der Vergebung das Leben schenkt. „Das Ewige Leben erkor sich den Platz eines menschlichen Herzens. In diesem bebenden Zelt beschloss es, zu wohnen, geruhte, sich treffen zu lassen … Welche Blöße hatte Gott sich gegeben, welche Torheit begangen.“ In Christus begegnen die ewige Güte und Allmacht Gottes dem Leid der Menschen. Balthasar wollte „der so oft verkitschten Herz-Jesu-Idee die kosmische Dimension zurückgeben“, so der Klappentext. Darin trifft er sich mit seinem französischen Mitbruder Pierre Teilhard de Chardin, der schon 1920 im Aufsatz „Über die Weisen des göttlichen Wirkens im Universum“ notierte, dass Gott es auf eine geistige Weise vermag, „sich individuell im Herzen eines jeden Elements der Welt bemerkbar zu machen“. Aus dieser Formulierung entstand später der Titel seiner Autobiographie „Das Herz der Materie“. Teilhard geht davon aus, dass alles Geschaffene in dieser Welt nicht nur eine materielle, sondern auch eine geistige Dimension, eine „psychische Innenseite“ besitzt. Die Ausgabe, die Sie in den Händen halten, besteht offensichtlich aus mehr als aus Papier und Druckerschwär- 8 Schwerpunkt Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt

ze. Der Stuhl, auf dem Sie sitzen, erzählt von der Arbeit des Schreiners; die Blume am Fenster von der Vielfalt und Buntheit der Schöpfung. Mit „Herz“ meint Teilhard im Unterschied zu Balthasar zunächst nicht Christus selbst, sondern die geistige Dimension der Welt, in der man der Liebe Christi begegnen kann. Weil aber letztlich die lebendige Mitte des Lebens Jesu Christi auch das Ziel des Universums ist, können wir seiner „Energie Liebe“, in gewisser Weise sogar „ihm selbst“ in allen Dingen begegnen. So wie das Herz den menschlichen Blutkreislauf in Gang hält und zugleich der „Ort“ der Gefühle und Entscheidungen ist, so wirkt Gott in allen Dingen, indem er sie im Sein erhält und auf eine geistige Weise durch Christus zur Vollendung führt. „Ohne dass ich es recht analysiert habe, hat sich für mich im Herzen Jesu die Konjunktion des Göttlichen und des Kosmischen, des Geistes und der Materie vollzogen. Dort ist der gewaltige Zauber, der mich von Anfang an erobert hat.“ Das „Herz der Welt“ als Umschreibung der lebendigen, zerrissenen Mitte der Welt, als Bild für die Kreuzesliebe Jesu und als symbolischer Ausdruck mystischer Innigkeit mit Christus: Die „Herz-Worte“ sprengen unsere Denkkategorien, um mit Herz und Verstand neu zu verkünden, zu heilen und zu versöhnen. Christian Modemann SJ 9 MAGIS - Weltjugendtag 2011 © MAGIS Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt

Eine Sache des Herzens „Ich nehme das Herz aus Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz aus Fleisch“ (Ez 36,26). Ezechiels Bild vom steinernen Herzen verweist nicht nur auf eine starre, kalte, tödliche Gesinnung, es erinnert auch an den „neuen Bund“, den Jeremia kommen sieht: „Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und werde es auf ihr Herz schreiben“ (Jer 31,33). Während der Dekalog, das erste Gesetzesdokument des Sinaibundes, auf steinerne Tafeln geschrieben war (Dtn 5,22), soll der neue Bund ins lebendige Herz geschrieben sein. Bei der Erneuerung von Herz und Geist geht es um ein neues Leben (Ez 37,1-14). Schon Mose bringt das Gesetz in Verbindung mit dem Herzen, in einem erstaunlichen Bild. Gott wird Israels Herz „beschneiden, damit du JHWH, deinen Gott, liebst mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, damit du lebst“ (Dtn 30,6). Wie die Beschneidung einen höchst sensiblen Bereich eines Mannes freilegt, so braucht es Sensibilität des Herzens, um zu verstehen, was Gott darin spricht. In diesem Sinn bittet Salomo im Traum um ein „hörendes Herz“ (1 Kön 3,9). Gott gibt ihm ein „weises und verständiges Herz“ (3,12). Das Herz ist in der Bibel nicht nur Zentrum der Emotion, sondern auch des Verstandes. Nach Kohelet hat Gott dem Menschen sogar „die Ewigkeit ins Herz gelegt“ (Koh 3,11). Noch dazu steht das Herz für Mut. Die tapfersten Krieger haben ein „Löwenherz“ (2 Sam 17,10). Das brennende Herz Jesu vereint zentrale Bilder des Alten Testaments: das Herz als Mitte der menschlichen Person, in dem der lebendige Wille Gottes eingeschrieben ist, und die Flammen des feurigen Charakters Gottes, der aus dem brennenden Berg Sinai gesprochen hat; „denn JHWH, dein Gott, ist verzehrendes Feuer, ein leidenschaftlicher Gott!“ (Dtn 4,24). Das brennende Herz erinnert auch an die prophetische Leidenschaft Jeremias: „Sagte ich aber: ‚Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen sprechen!’, so war es, als brenne in meinem Herzen ein Feuer“ (Jer 20,9). Die umfassende biblische Bedeutung des Herzens ist heute wichtiger denn je. Im Zusammenleben kommt es vor allem auf emotionale Intelligenz an. Nur wer mit dem Herzen denkt, denkt gut. Die biblische Religion ist eine Sache des Herzens: von Sensibilität und Einsicht, Lebendigkeit und Mut. Dominik Markl SJ 10 Schwerpunkt Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt

Jesuiten und das Herz Jesu Persönliche Statements Im Oktober 1995 bereiteten wir gerade ein Besinnungswochende mit Dresdner Jugendlichen vor. Da kam der Anruf von zuhause: Unsere Mutter liegt im Sterben. Sie war schon lange krank gewesen. Glücklicherweise konnte Pater Kegebein die Jugendlichen übernehmen. Ich fuhr schnell heim Richtung Offenbach. Um das Bett der Mutter war schon fast die ganze Familie versammelt. Ich – frischgeweihter Priester! – schlug vor, wir könnten das Abendgebet der Kirche beten, die Vesper. Meine Verwandtschaft ist durchaus zum Beten bereit, aber gerade den evangelischen Familienmitgliedern erschienen die Texte doch arg formal; und mir selbst wurde alles plötzlich peinlich, als wir zu Psalm 41 kamen: „Meine Feinde reden böse über mich: Wann stirbt er endlich und wann vergeht sein Name?“ Ach nein!, seufzte unser Vater. Es war ja auch überhaupt nicht das, was wir der Mutter zum Abschied sagen wollten. Inzwischen ist mir klarer geworden, dass wir „mit dem Herzen Jesu“ beten. In seinem Herzen sind alle Empfindungen aufgehoben, die Menschen je hatten. Die Psalmen müssen nicht meine Lage ausdrücken. Sie verbinden uns vielmehr untereinander und mit ihm, die Trostlosen, die Getrösteten, alle. Felix Körner SJ Im 19. Jahrhundert wurde die Herz-JesuVerehrung zur Massenbewegung. Sie wurde verkitscht in Kunst und Gottesdienst. Schwer erträglich. Mir hat Karl Rahner geholfen, zu verstehen, was sie eigentlich will. Sie will das verstehen und nachvollziehen, was Jesus wollte und war. Und es ist dies, was er war und was er wollte: Ein Mensch sein, der liebt, von Herzen liebt, ganz und gar liebt. Das ist schön und das macht glücklich, denn es ist das, wozu wir geschaffen sind: zu lieben und geliebt zu werden. Gott, den Nächsten und sogar uns selbst. Aber das ist die andere Seite dieser Liebe, dass sie verletzlich und verwundbar ist. Ja, dass jede Liebe unausweichlich dem Leiden und dem Schmerz begegnet. Und sie nimmt sie an und trägt sie und durchleidet sie. Und echte, nicht verkitschte Liebe ist immer leibhaftige Liebe. Also eine Liebe, die handelt, die zugreift, die sich hinab begibt zu den Füßen, in den Schmutz des Alltags. Die sich verzehren lässt und sich hergibt. All das steckt in diesem Symbol des Herzens mit dem Feuer und der Wunde und der Dornenkrone. Wir brauchen vielleicht nicht dieses Symbol, aber wir brauchen diese Sicht der Liebe gegen alle falsche Romantik, die sich heute im Denken über die Liebe breit macht. Sie trifft tatsächlich das Zentrum dessen, was Jesus wollte und war und was auch mich immer wieder ermahnt und ermutigt. Thomas Gertler SJ 11 Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt

12 Schwerpunkt Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt

Schwerpunkt 13 Das Herz des Nazoräers Der unvergessene Pater General Pedro Arrupe hat den Jesuiten „ein Herz“ gewünscht, „größer als die Welt“. Nun ist medizinisch gesehen ein großes Herz nicht unproblematisch. Und schon sind wir mitten drin in einer Betrachtung über das „Herz“ und seine symbolische Bedeutung. Denn das ist klar: Pater Arrupe wünschte den Jesuiten etwas, das mit dem menschlichen Organ nur im übertragenen Sinne zu tun hat. Es geht um das Wesen, um die Mitte der Dinge. Es geht um das Zentrum des Menschen: um sein Denken und Fühlen, um sein Wollen und Handeln. Das Herz gleicht im biblischen Sinn dem Blut, das durch das Herz strömt, und ist damit Symbol des Lebens schlechthin. Es ist das Organ, in dem sich Gott an den Menschen wendet und mit dem der Mensch seinem Gott antwortet. Dieser biblische Hintergrund wird schließlich die Mitte, aus der Jesus von Nazareth sein Leben gestaltet. Wenn wir sein Menschsein ernst nehmen, dann dürfen wir davon ausgehen, dass er die Worte der Tora, die Verheißungen der Propheten und die Gebete der Psalmen, die er täglich gelesen oder gehört hat, in sich lebendig werden ließ, diese sich zu Herzen nahm. Das ewige Wort Gottes, in endlichen Worten vermittelt, wurde auch auf diese Weise in ihm buchstäblich Mensch bzw. Herz. Seine einmalige Beziehung zu Gott, den er Vater nennt, lässt dies alles noch einmal in einem neuen Licht erscheinen. Die jüdische Tradition, aus der er lebt, und seine Erfahrung, dass sein himmlischer Vater ihn und alle Menschen bedingungslos liebt, prägen sein Wesen und werden zum Zentrum seines Denken und Handelns. Das Herz Jesu, das ein Herz für die Menschen hat, wird zum Herzen der Welt. Das kam nicht durch eine wundersame Transplantation zustande, sondern ist die Konsequenz der Menschwerdung Gottes. In unserer Zeit ist dadurch die Erfüllung dessen, was Gott seit Ewigkeiten ist, erfahrbar geworden. Wie können wir uns diesen Jesus aus Nazareth als „Menschen mit Herz“ vorstellen? Wir sehen vor uns einen Menschen, der aus einer Mitte lebt, authentisch ist, Liebe und Wärme ausstrahlt und eine Freiheit hat, die uns tiefer atmen lässt. Etwas Ansteckendes, ja Verzauberndes haben Menschen mit Herz. So stelle ich mir Jesus vor: mit einem hörenden und sehenden Herzen. Er begegnet mir so, dass ich mir selber transparent werde: Ohne Angst und Scham. Diese Wahrheit wird es sein, die uns frei macht. Dies ist das Wunder des Glaubens, dass jemand zu uns kommt, uns seine unbedingte Liebe spüren lässt ohne Wenn und Aber und uns so leben lässt, dass unser Herz bis zum Himmel schlägt. Weiter als die Welt. Werner Holter SJ Roland Peter Litzenburger, Schutzmantelchristus, 1971 Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt © Nachlassverwaltung, Gretel Kunze

Ein Platz für unsere Wunden „Herz Jesu – das ist gemeinhin der Inbegriff peinlicher Sentimentalität“ (A. Stock). Herz-Jesu-Bilder gelten vielen als Beispiel religiösen Kitsches, die entsprechenden Gebete als Beispiel exaltierter Devotion. Trotzdem konnten sich sowohl das Fest als auch die Frömmigkeit bis heute halten. Vielleicht liegt es daran, dass diese Frömmigkeit auf biblisch, theologisch und anthropologisch festem Grund steht. In christlicher Deutung wird Christus zum neuen Moses, der nicht nur das Wasser aus dem Felsen gibt, nach dessen Genuss man später wieder Durst bekommt, sondern der das lebendige Wasser gibt, das er aus dem „Felsen seines Herzens“ spendet (Joh 19,34ff.). Dementsprechend ist der biblische Referenzpunkt für die Herz-Jesu-Verehrung die vom Johannes-Evangelium beschriebene Szene der Durchbohrung der Seite Jesu, aus der Blut und Wasser hervorquollen. Für die Väter der kleinasiatischen Theologie ab dem 2./3. Jh. war das Herz Jesu, das mit der Seitenwunde identifiziert wurde, die Quelle, aus der die Sakramente Taufe (Wasser) und Eucharistie (Blut) – und damit die Kirche – hervorströmen. Die von Origenes beeinflusste alexandrinische Richtung legte den Akzent auf die Erkenntnis, die aus dem Herzen des Herrn fließt. Damit steht der Einzelne in mystischer Einheit mit dem Herrn im Vordergrund. Die spätere HerzJesu-Verehrung nahm beide Strömungen, die ekklesiologische und die mystische, auf. Die neuerliche Hinwendung zur Menschheit Christi ab dem 12. Jahrhundert förderte eine intensivere Betrachtung seines Leidens. Die Wunden Jesu wurden bei Bernhard von Clairvaux – unter Aufnahme eines Motivs aus dem Hohenlied (2,14) – zu Stellen, in denen die Vögel Nester bauen können. Der Mensch hat in Christi Wunden, besonders der Herzwunde, Platz für seine eigenen Wunden. Das Herz Jesu wird zur Verkörperung des Gottes, der sich in Christus verwundbar macht, nicht der ferne und unnahbare, sondern der mittragende und mitleidende Gott, der aus eigener Erfahrung weiß, was Leid und Schmerz bedeutet und deshalb den Menschen barmherzig nahe ist. Die fruchtbarste Zeit der mittelalterlichen Herz-Jesu-Verehrung war die Zeit der deutschen Mystik und der Frauenmystik des 13./14. Jhs. Die Johannesminne, das Ruhen am Herzen Jesu, aus dem die Schauenden Ströme lebendigen Wassers trinken, war ein wichtiger Betrachtungspunkt. Diese Zugänge können eine Frömmigkeit erschließen, die nichts von „peinlicher Sentimentalität“ haben muss. Für unsere Zeit ist vielleicht gerade das, worauf Bernhard hinweist, bedenkenswert: Christus verbirgt seine Wunden, sein durchbohrtes Herz nicht, sondern zeigt es. Wir finden Platz in ihm und vielleicht auch Mut, es ihm gleichzutun. Dominik Terstriep SJ 14 Schwerpunkt Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt Foto: Andreas Praefcke

15 Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt Der Apostel Johannes an der Brust Christi (Johannesminne), Schwaben um 1310, Klosterkirche Heiligkreuztal

Das Herzensgebet Das zentrale Moment dieses kontemplativen Weges ist das Mühen um Hesychia, jener wachen und schöpferischen Herzensruhe, jener Qualität des Schweigens und der Stille, in der das geschehen kann, was der Täufer über Christus sagt: „Er muss wachsen, ich aber abnehmen“ (Joh 3,30). In dieses Schweigen des Herzens führt das Bemühen, während der Übung des Herzensgebetes die Gedanken und Begriffe beiseite zu legen, die Phantasien ruhen zu lassen, vor allem die Erinnerung an Wunden, die das Leben uns geschlagen hat, die das Herz verschließen und uns nicht zur Ruhe kommen lassen vor Gott; ferner das Bemühen, sich von allen Wünschen, Plänen und Empfindungen zu lösen, die sich auf Geschöpfliches richten, z.B. alles, womit wir Eindruck machen wollen. Die wichtigste Grundlage der Hesychia ist ein inneres Wissen um die eigene Gebrochenheit und Schwäche. Aus diesem Bodenkontakt mit der eigenen Wirklichkeit resultiert die Ehrfurcht vor jedem Geschöpf und die Barmherzigkeit gegenüber jedem Menschen, auch Trauer und Schmerz über die Erfahrung von Versagen im eigenen Leben, und von daher das Bemühen, im Kampf mit den eigenen Leidenschaften und in Auseinandersetzung mit seinen Bedürfnissen und Gefühlen zu einem freien, geläuterten und erlösten Umgang mit ihnen zu finden. Hesychia hat also einen Menschen zum Ziel, der mit Leib, Seele und Geist Gebet geworden ist. Sie bezeichnet die Haltung eines Menschen, der in seinem Herzen vor Gott steht. Diesen Weg des inneren Schweigens können Verheiratete mit Familie, die eingebunden sind in ein berufliches Leben, ebenso gehen wie Mönche und Einsiedler. Denn in der altchristlichen Tradition gibt es nur eine Spiritualität. Die Übung des Jesusgebetes ist sehr einfach: Man wiederholt mündlich oder im Innern unaufhörlich das Gebet: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“. In der Ostkirche ist die gebräuchlichste Form: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner, des Sünders“. Welche Gebetsformel man auch immer verwendet, Herzstück der Anrufung ist der Name selbst, das Wort „Jesus“. In ihm liegt die ganze Kraft der Anrufung. Das ruhige, unablässige Wiederholen dieser Gebetsworte kann man auch mit dem Rhythmus des Atems in Einklang bringen. Beim Einatmen: „Herr Jesus Christus“, beim Ausatmen: „erbarme dich meiner“. Im Rhythmus dieser konzentrierenden Gebetsübung löst sich die Aufmerksamkeit unseres Bewusstseins allmählich von dem, was die Stille und das Schweigen des Herzens stört, und sammelt sich auf Anbetung hin. Am Anfang soll man das Jesusgebet langsam, sanft und ruhig sprechen. Jedes Wort soll mit Sammlung und ohne Hast gesagt werden und ganz natürlich fließen. Wir beten mit einer inneren Aufmerksamkeit, aber gleichzeitig soll keine Anstrengung damit verbunden sein. 16 Schwerpunkt Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt © Creative Commons

In den Ostkirchen reicht diese kontemplative Gebetsform zurück bis zu den Anfängen des christlichen Mönchtums in der ägyptischen Wüste (3. Jahrhundert) und findet den Höhepunkt ihrer Praxis und theologischen Begründung auf dem Berg Athos. Durch Nil Sorskij (1433–1508) kam die Übung schon früh vom Athos nach Russland und erlebte vom Ausgang des 18. Jahrhunderts an eine neue Blütezeit, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts andauerte. Im Westen ist das Jesusgebet vor allem durch den Kontakt mit der russischen Diaspora bekannt geworden. Zum Kontext dieser Übung gehören eine aufrichtige Gottsuche mit einem gesunden Streben nach Innerlichkeit sowie ein Verbundensein mit dem liturgischen und sakramentalen Leben der Kirche und nicht zuletzt das häufige Lesen der Evangelien. Das Evangelium wird im Geist des Gebetes gelesen und führt wieder ins Beten. Das Gebet wiederum nährt sich von der vorausgegangenen Lesung der Heiligen Schrift, in der das Herz Gottes sich zeigt. In einer Zeit religiöser Desorientierung und starker Verwerfungen im kirchlichen Leben wird es zunächst genügen, wenn jemand bei der aufrichtigen Suche nach Sinn in Jesus von Nazareth die Quelle seines Lebens entdeckt und zu ihr unterwegs bleibt. Peter Köster SJ 17 Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt Caravaggio, Der ungläubige Thomas (1601/2), Neues Palais, Potsdam

Gott ist barmherzig und weist niemanden ab, egal wie verkorkst und mies das Leben aussieht. Nicht das Bild, sondern der Inhalt „Herz Jesu – nie gehört! … Ist das Herz Jesu etwa auch konserviert, wie das Herz von Chopin – liegt das vielleicht in Rom?“ „Herz Jesu – was soll damit gemeint sein?“ „Ja, ich kenne das Herz Jesu: Meine Großmutter hatte ein Bild von Jesus mit einem Strahlenkranz über ihrem Bett. Das ist schön …“ So oder ähnlich fielen die Antworten aus, als ich in meiner Glaubensgesprächsgruppe nach Erfahrungen oder Erkenntnissen bezüglich der Herz-Jesu-Frömmigkeit fragte. In Leipzig leben etwa vier Prozent Katholiken und fünfzehn Prozent evangelische Christen. Der Rest der Bevölkerung ist nicht getauft und vom Bekenntnis her „religiös indifferent“. Die etwas umständliche Bezeichnung „religiös indifferent“ ist genauer und klarer als zum Beispiel „Atheist“ oder „Nichtchrist“, denn diese Bezeichnungen würden eine klare Ablehnung des Gottesglaubens und oft auch des Christentums voraussetzen. Auch andere Religionen oder esoterische Strömungen haben in Leipzig wenig Chancen. Die Mehrheit der Menschen ist weder für noch gegen die (christliche) Religion. Viele verstehen die Frage nach einem religiösen Bekenntnis nicht, so wie Jugendliche am Leipziger Hauptbahnhof, die versicherten, sie wüssten nicht, ob sie für oder gegen die Religion seien, aber sie seien „normal“. Schon mehrfach ist mir, aus Süddeutschland stammend und schon viele Jahre in Leipzig lebend, aufgefallen, dass katholische Spezialitäten wie zum Beispiel Fronleichnam, die Herz-Jesu-Verehrung oder die Marienfrömmigkeit hier eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Auch die Kirchgänger haben dazu nicht den gleichen Bezug wie Menschen aus katholischen Gegenden. Ein Katholik bemerkte, dass das Fest wohl auf die Herz-Wunde Jesu anspiele. Jesus habe allerdings viele weitere Wunden gehabt und er verstehe nicht recht, warum man der Herzwunde eine solch große Bedeutung beimesse. Dazu muss man bedenken, dass Fronleichnam in Sachsen kein Feiertag ist, Herz-Jesu natürlich erst recht nicht. So beschränkt sich die Eucharistiefeier am Hochfest Herz-Jesu auf die Abendmesse, die sowieso jeden Tag stattfindet. Eine andere Rolle spielt der Inhalt, der mit der Herz-Jesu-Frömmigkeit verbunden wird: dass Gott barmherzig ist und niemanden abweist, egal wie verkorkst und mies das Leben aussieht. Für manche Taufschüler ist der Gedanke, dass es eine Instanz, eine höhere Macht auf der Welt gibt, die nicht auf Leistung und Erfolg schaut, sondern jeden Menschen so 18 Schwerpunkt Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt

annimmt, wie er/sie ist, eine entscheidende Motivation, sich auf die Suche nach dem Glauben zu machen. Viele der Taufschüler sind junge Erwachsene. Fast alle haben in ihrem Leben bereits erlebt, dass es nicht immer so läuft, wie man sich das wünscht. Sie kennen persönliche Niederlagen wie Trennung, Arbeitsplatzverlust oder auch Krankheit. So suchen sie nach Glück und wissen gleichzeitig, dass dieses Glück immer wieder angefochten ist und zerbrechen kann. Im Gedanken, dass Gott ihr Glück will und sie sich darauf verlassen können, finden viele Trost und Motivation für ihr Leben. Wörtlich drückte das eine junge Frau so aus: „Ich bin mir der Liebe Gottes gewiss!“ Eine andere sagt: „Es ist beruhigend zu wissen und zu glauben, dass Jesus mich liebt.“ Das bedeutet, dass den Taufschülern der zentrale Inhalt der Herz-Jesu-Frömmigkeit durchaus bewusst und wichtig ist. Doch sie würden diesen Gedanken nicht durch das Bild vom Herzen Jesu ausdrücken. Der sprachliche Rückgriff auf das Herz wird eher als „ein bisschen kitschig“ empfunden. Stattdessen werden Bilder wie Licht oder Geist, also Immaterielles, bevorzugt. Während offensichtlich die Bilder nicht mehr stimmen, ist die Botschaft „dahinter“ so aktuell wie eh und je. Dies gibt mir Anlass, darauf hinzuweisen, dass es in der Verkündigung stark darauf ankommt, nicht an Bildern zu kleben, sondern sich auf die Inhalte zu konzentrieren. Nicht unsere Ideen, Vorstellungen oder Bilder sind gut, sondern der barmherzige Gott! Susanne Schneider MC 19 Herz-Jesu-Darstellung im Nazarenerstil (19./20. Jh.), Andachtsbildchen Foto: privat

Vom Schmerzensmann im Kirchenlied zum Herz-Jesu-Tattoo Wer kennt nicht das berühmte Kirchenlied des evangelischen Dichters Paul Gerhardt: „O Haupt voll Blut und Wunden?“ Das Lied aus dem 17. Jahrhundert ist eine Übertragung des mittelalterlichen Hymnus „Salve Caput Cruentatum“ des Zisterzienserabtes Arnulf von Löwen. Das Luthertum sah sich in der Tradition der antiken und mittelalterlichen Kirche. Die Theologie eines Bernhard von Clairvaux spielt dabei eine große Rolle. Mit dem leidenden Christus mitzuempfinden ist zentral! Existentielle Erfahrungen von Krieg und Tod prägen Gerhardts frühe Jahre. Der religiöse Enthusiasmus seiner Zeit ist aber nicht nur von den verheerenden religiösen Bürgerkriegen gekennzeichnet, sondern auch von einer Frömmigkeit, die wir uns in der Moderne gar nicht mehr vorstellen können. Im Jahr 1653 erscheint dieses Gerhardtlied erstmals in einem evangelischen Gesangbuch: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerzeit / an deines Gottes Gaben.“ Diese Innerlichkeit spielt auch für die Herz-JesuVerehrung eine wichtige Rolle. Heute hat längst eine Entwicklung eingesetzt, die mit der offiziellen Theologie gar nichts mehr zu tun hat. Die von Theologen so verpönte Stilrichtung der Nazarener wurde 2012 wieder mit mehreren Ausstellungen in Deutschland gewürdigt. Offenbar ist der etwas süßliche Stil wieder in. Einige dieser Bilder tauchen heute als Tattoos auf. Hängt es damit zusammen, dass man sich wieder nach Jesusbildern sehnt, die man zu kennen glaubt? Ziel der Nazarener war es, die Malerei der italienischen Frührenaissance neu zu beleben. Der Schmerzensmann, wie eben beschrieben, kommt im Internet nicht selten als Tätowierung zum Vorschein. Es gibt Engel auf Oberarmen, die Gottesmutter auf der Brust, das Herz Jesu auf dem Rücken oder als Fragment mit Flügeln am Handgelenk. Der englische Fußballstar David Beckham trägt stolz ein Jesus-Tattoo auf der rechten Bauchseite. „Gott ist kein Gott der Äußerlichkeiten, sondern des Herzens“ (1 Sam 16,7). Für Juden gilt ein Verbot, sich Zeichen in die Haut einritzen zu lassen (Lev 19,28). Gilt das auch für Tattoos heute? Ein junger Jesuit hat sich zur Priesterweihe in den 90er Jahren ein Kreuz zwischen die Schulterblätter stechen lassen. Sind Tattoos nun ornamentaler Kitsch? Noch 1910 sprach der Architekt Adolf Loos vom Ornament als Verbrechen an der Kultur. Diese „Seuche“ überdecke die klare Form und die reinen Gedanken eines Werkes. 2005 wurde die Mailänder Möbelmesse mit einer Inflation floraler Muster überschüttet. Das Kunstmuseum Wolfsburg hat 2012 Ornamentgrafik von Dürer bis Piranesi gezeigt und damit 20 Schwerpunkt Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt

21 Loos widerlegt. Schon 2001 wurden in der Schweizer Fondation Beyeler eindrucksvoll Zusammenhänge von Ornament und Abstrakter Kunst offengelegt: Im Anfang war das Ornament. Von der Arabeske zur abstrakten Linie der Moderne. In Ländern, in denen das islamische Bilderverbot gilt, hat sich ohnehin die ornamentale Kunst viel weiter entwickelt und ist von dort zu uns gekommen. Also kein Kitsch! Muss es aber ein Tattoo sein? Einmal gestochen, gehört es wie eine zweite Haut zum Körper. Man kann es wieder entfernen, aber das ist nicht im Sinne des Erfinders. Wer sich tätowieren lässt, der wird sich gut überlegen müssen, warum er es tut. In Deutschland ist angeblich bereits jeder Zehnte tätowiert. Vor allem bis zum Alter von 25 sei der Individualisierungsdruck besonders hoch. Der Psychologe Dirk Hofmeister nennt drei Gründe für ein Tattoo: Verschönerung des Körpers (Mode), Markierung eines wichtigen Lebensabschnitts, Kennzeichnung als Mitglied einer sinngebenden Gruppe. Manchmal steckt mehr dahinter, weil das Gespür für das jeweilige Symbol noch da ist. Doch wer sich spontan zum Tattoo entschließt, um aufzufallen, sollte sich besser an den Rat von TV-Star Ozzy Osbourne halten: „Leute, wenn ihr auffallen wollt, dann lasst euch NICHT tätowieren.“ Georg Maria Roers SJ Jesus-Tattoo

Berufen zur Care-Arbeit „Wie lange haben wir uns nicht gesehen! Wo schaffst du jetzt?“ „Beim Daimler“ antwortet der Kollege aus Stuttgart. „Schaffe, schaffe!“ meint: Metallwaren, chemische Erzeugnisse oder Nahrungsmittel herstellen, arbeiten in der Autofabrik, auf dem Bauernhof oder am Bau, „Häusle baue“. Das Gespräch unter Männern dreht sich um die Industriearbeit. Sie macht die deutsche Wirtschaft global wettbewerbsfähig, ist Quelle des gewachsenen Reichtums, in der Gesellschaft hoch geschätzt und komfortabel entlohnt. Sie wird von den Männern als Domäne des „homo faber“ behauptet. Was ist mit denen, die zwar arbeiten, aber keine Waren produzieren? Die vielmehr Menschen begleiten, erziehen, heilen, aufrichten und ihnen helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Welchen Wert hat diese Arbeit des aufmerksamen Blicks, der einfühlsamen Zuwendung, des praktischen Beistands, des Einsatzes gegen Armut, Krankheit und Unrecht? Die CareArbeit des „homo resonans“ ist in unserer Gesellschaft wenig geschätzt, gering oder gar nicht entlohnt und wird meist von Frauen geleistet. Wo hat Jesus geschafft? „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakob?“, „der Sohn des Zimmermanns?“, wie die Nachbarn gefragt haben. Jesus hat jahrelang am Bau geschafft, etwas hergestellt, produziert – bis zu dem Tag, da die Taufe des Johannes und der Ruf Gottes ihn zur Care-Arbeit beriefen. Er spürte die Gottesherrschaft gekommen, als er Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige rein werden ließ und den Armen die frohe Botschaft verkündete. Er sammelte die Verlorenen und fügte das, was getrennt war, zusammen. Er hatte Mitleid mit den Gefallenen, heilte die Verletzten, richtete die Gebeugten auf, reichte den Gestrauchelten seine Hand und teilte das Brot mit denen, die von den religiösen Eliten in Jerusalem geächtet waren. Er hat alles gut gemacht, urteilte das Volk in Galiläa. Die deutsche Gesellschaft steht vermutlich wie andere europäische Gesellschaften an einer Wegscheide von der industriellen Konsumwirtschaft zur kulturellen Dienstleistungswirtschaft. Der Weg einer exportgetriebenen Industriewirtschaft ließe sich vielleicht fortsetzen, wenn das Wirtschaftswachstum in den herkömmlichen Bahnen beschleunigt wird. Dem steht jedoch die weiterhin bestehende hohe Produktivität der Industriearbeit im Weg, der ein weiterer Abbau industrieller Arbeitsplätze folgt. Nun ließe sich die Lebensdauer der Industriewaren, etwa von Autos, Gebäuden, Straßen und Haushaltstechniken durch eingebauten Verschleiß künstlich weiter verkürzen. Aber abgesehen von den dadurch verursachten Eingriffen in die natürliche Umwelt hat eine solche Konsumsteigerung keinen Sinn. Dabei steigt in Deutschland der Bedarf an bezahlter oder unbezahlter Care-Arbeit 22 Jesuiten n September 2013 n Ein Herz grösser als die Welt Geistlicher Impuls

23 für Männer und Frauen: In der Betreuung von Kindern und älteren Menschen, in den Kindergärten, Schulen und Hochschulen, in der dualen Ausbildung, in Krankenhäusern, in der Altenpflege und im zivilgesellschaftlichen Engagement. Die Zukunft der Arbeit ist nicht ihr Ende, sondern die CareArbeit, verbunden mit einem Schwund der künstlich aufgeblähten und politisch subventionierten Industriearbeit. Die Care-Arbeit ist extrem bedroht, solange sie unter dem Regime marktradikaler Dogmatik nach den Maßstäben der industriellen Produktivität gemessen und bewertet wird. Das Diktat der Beschleunigung und Kommerzialisierung setzt die arbeitenden Erzieherinnen, Lehrer, Krankenschwestern, Altenpfleger und Ärztinnen zusätzlich unter einen unerträglichen Zeitdruck. Dieser wirkt sich umso verheerender aus, als die CareArbeit charakteristische Merkmale aufweist, die der Industriearbeit fremd sind: Sie kann nicht gespeichert werden. Angebot und Nachfrage finden gleichzeitig statt. Das Zusammenspiel derer, welche die Care-Arbeit leisten und derer, die sie entgegen nehmen, ist unabdingbar. Sie unterliegt dem langen Schatten der Zukunft. Care-Arbeit beruht auf einem Vertrauensverhältnis der unmittelbar Beteiligten in einem sozialen Kontext. Und sie hat in demokratischen Gesellschaften einen Grundrechtscharakter, der nicht durch privatwirtschaftliche Anbieter eingelöst werden kann, vielmehr ein starkes öffentliches Engagement verlangt. Friedhelm Hengsbach SJ Foto: neal joup

Jugendliche aus Deutschland aus dem MAGIS-Programm in Brasilien beim Renovieren ... Nachrichten Neues aus dem Jesuitenorden Pilger in Badelatschen: MAGIS und der Weltjugendtag Als Papst Franziskus am 28. Juli mit über zwei Millionen jungen Menschen die Abschlussmesse auf der legendären Copacabana feierte, waren auch 2.000 Pilger des ignatianischen Vorprogramms MAGIS dabei. Sie waren bereits eine Woche in über 70 internationalen Gruppen unterwegs gewesen, um Begegnung und Gemeinschaft zu leben, vor allem mit den Bedürftigen. Die deutsche Delegation war auf drei Sozialprojekte aufgeteilt: sieben Teilnehmer in Nova Iguaçu, sieben in São Paulo und fünf in Rio de Janeiro. Sie bauten dort Häuser, pflegten Sportanlagen, trennten mit Obdachlosen Müll, spielten und musizierten mit Kindern aus den Favelas und gestalteten rohe Fassaden mit bunten Graffitis. Sie erlebten unendlich viel Gastfreundschaft und Herzlichkeit, aber auch den krassen Gegensatz von Arm und Reich, der das Straßenbild prägt. Abends tauschten sie sich in kleinen Gruppen aus und trugen das Erlebte im gemeinsamen Gebet vor Gott: Was will Er uns zeigen mit dem, was uns innerlich bewegt, was wir nicht mehr aus dem Kopf bekommen? Steckt in dem, was uns da begegnet, Seine Einladung, von dem gewohnten Weg abzubiegen und Neues zu wagen? Solche Fragen kann man sich auch in Badelatschen stellen. <www.ignatianisch.de> Ludger Joos SJ und Christian Modemann SJ © MAGIS 24

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