Die Einsamkeit gehört zu den Gefühlen, die wir gerne verdrängen. Und doch ist sie ein steter Begleiter des nach Sinn und Liebe suchenden Menschen. Vor allem an Tagen wie dem Karsamstag, in Zeiten der Krise und des Umbruchs, wo Angst, Ungewissheit und Hoffnungslosigkeit herrschen, fühlen sich viele allein und verlassen. Doch die österliche Hoffnung lädt uns nicht nur ein, diese Einsamkeit geduldig auszuhalten, sondern aktiv nach der Gegenwart des Auferstandenen zu suchen.
Vor meinem Eintritt in den Jesuitenorden hatte mich Pater Eugen Frei SJ bei einem Gespräch in Basel gefragt, ob ich in der Lage sei, Einsamkeit auszuhalten. Die Frage hatte mich überrascht, zumal ich doch gerade im Begriff war, mein „einsames“ Singledasein aufzugeben und einer Gemeinschaft beizutreten. Da ich es aber gewohnt war, alleine zu leben und auch den Eindruck hatte, mit mir selber ganz gut zurechtzukommen, hatte ich dieser Frage keine weitere Beachtung geschenkt.
Erst als ich im Noviziat zufällig Geschichten von Ingeborg Bachmann zu lesen begann und versuchte, für mich zu formulieren, was für eine Befindlichkeit sie da beschreibt, stand plötzlich der Begriff Einsamkeit im Raum. Und gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich diese Befindlichkeit nur zu gut kenne. Dieser Moment hatte etwas Demütigendes an sich, aber auch etwas Befreiendes. Demütigend war die Einsicht, dass ich bedürftig war wie alle anderen und dass ich mir nicht selber genüge. Was hatte ich mir nicht alles eingeredet und getan, um diese Realität nicht wahrnehmen zu müssen. Befreiend aber war es zu spüren, dass ich trotz dieser immer wiederkehrenden Einsamkeit auf einem Weg bin, zu dem mich jemand eingeladen hat und auf dem ich trotz allem weder alleine bin noch je wirklich war.
Die Einsamkeit gehört wohl zu den Grundgefühlen menschlicher Existenz. Sie findet sich nicht nur da, wo Menschen tatsächlich ohne jeden sozialen Kontakt und ohne jede menschliche Zuwendung leben müssen. Gerade in den Geschichten von Ingeborg Bachmann liegt die Einsamkeit nicht so sehr im Fehlen von Beziehungen, sondern in der Unfähigkeit, in diesen Beziehungen zu kommunizieren. Und weil jede menschliche Kommunikation, auch wenn sie noch so intim und vertraut ist, irgendwo eine Grenze des Teilbaren hat, bleibt der Mensch letztlich mit einem Teil seiner Wahrheit immer allein.
Allein zu sein heisst aber noch nicht, auch einsam zu sein. Entscheidend ist, wie und in welcher Grundstimmung ich mein Alleinsein erlebe. Die Jüdin Etty Hillesum (1914-1943) beschreibt in ihrem Tagebuch (9. August 1941) folgende Unterscheidung:
„Ich kenne zwei Formen von Einsamkeit. Die eine macht mich sterbenstraurig und gibt mir das Gefühl, verloren zu sein und ohne Richtung. Die andere, im Gegensatz dazu, macht mich stark und glücklich.
Die erste kommt daher, dass ich nicht mehr den Eindruck habe, mit Meinesgleichen im Kontakt zu sein; dass ich völlig getrennt bin von jedem von ihnen und von mir selber, bis zum Punkt, nicht mehr zu verstehen, welchen Sinn das Leben haben könnte. Es scheint mir, dass es keine Kohärenz mehr hat und dass ich meinen Platz darin nicht mehr finde.
Aber die Erfahrung einer anderen Einsamkeit macht mich stark und selbstsicher: Ich fühle mich darin verbunden mit jedem, mit allem und mit Gott… Ich fühle mich eingebettet in ein grosses Ganzes erfüllt mit Sinn, und ich habe den Eindruck, dass ich diese grosse Kraft, die in mir ist, auch mit anderen teilen kann.“
Was für ein wunderbares Beispiel für die ignatianische Unterscheidung von Trost und Trostlosigkeit! Je nachdem, wie ich mein Alleinsein gerade erlebe, zieht mich die trostlose Einsamkeit in die Passivität und Isolation, oder der Trost drängt mich hinaus in die Begegnung und ins Teilen. Dabei liegt es nicht in meiner Hand, mir selber Trost oder Trostlosigkeit zu verschaffen. Aber ich habe die Freiheit, meine jeweilige Befindlichkeit bewusst wahrzunehmen und zu versuchen, mich nicht von den Versuchungen der Trostlosigkeit beherrschen zu lassen.
Die erste Form der Einsamkeit, wie Etty Hillesum sie beschreibt, könnte wohl auch das Gefühl der Jüngerinnen und Jünger Jesu am Karsamstag gewesen sein. Plötzlich scheint sich alles in Nichts aufgelöst zu haben: Hoffnungen, Träume, Sinn und Kohärenz. Und nicht wenige Menschen scheinen dieses Gefühl auch heute zu kennen angesichts der Perspektiven unserer Welt, unserer Kirche und des Glaubens überhaupt. Wo ist Gott? Was ist aus dem Retter geworden? Sind wir nicht letztlich alle allein? Kennen wir nicht alle diese Momente, wo wir uns wie der Prophet Elija resigniert und hoffnungslos in die Einsamkeit unsere eigenen vier Wände zurückziehen wollen (1 K 19)?
Doch „ein hoffnungsloser Blick auf die Wirklichkeit kann nicht als realistisch bezeichnet werden“, sagt Papst Franziskus in seiner Weihnachtsansprache 2020 an die Kurie in Rom. Und darum sei es auch „nicht wahr, dass Elija allein ist: Er ist in der Krise.“ Gott ruft Elija heraus aus seinem Gefühl der trostlosen Einsamkeit und sendet ihn zurück in die Welt und zu den Menschen. Denn die Krise ist nie das Ende, sondern „eine unumgängliche Phase in der persönlichen Geschichte und der sozialen Geschichte.“
In diesem Sinne ist auch der Karsamstag ein Moment der Krise im Übergang vom Tod zur Auferstehung, vom Untergang des Alten zum Offenbarwerden des Neuen. Bitten wir um den Geist Gottes, unsere Momente trostloser Einsamkeit vertrauensvoll auszuhalten und die Wirklichkeit im hoffnungsvollen Blick auf den Auferstandenen wahr- und anzunehmen.