P. Wolfgang Seibel: "Mister Stimmen der Zeit" wird 95

„Stimmen der Zeit" und Wolfgang Seibel: Man nannte die Zeitschrift und seinen Namen in einem Atemzug, über Jahrzehnte hinweg! – Manchmal werde ich etwas verlegen, manchmal auch ganz direkt gefragt: „Lebt er denn noch?“ Ja, das tut er! Pater Seibel lebt zurückgezogen, aber geistig hellwach, in der Jesuitenkommunität „Rupert Mayer“ in der Blumenstraße unweit des Sendlinger Tors in München. Am 3. Mai 2023 vollendete er sein 95. Lebensjahr. Wie zwei Freunde – der eine vor ihm: Kardinal Friedrich Wetter (am 20. Februar 2023), der andere nach ihm: Gerhard Gruber (am 1. Juli 2023), Generalvikar unter den Erzbischöfen Julius Döpfner, Joseph Ratzinger und Friedrich Wetter.

In Hauenstein (Pfalz) geboren, hat Seibel fünf jüngere Geschwister, vier Schwestern und einen Bruder, überlebt. 1938 begann er seine Gymnasialzeit am Kolleg St. Blasien im Schwarzwald. Nach dessen Schließung durch die Nazis kam er an die Oberschule Speyer und von 1941 bis 1946 ans Humanistische Gymnasium Landau, wo Friedrich Wetter sein Klassenkamerad war. 1944/45 als Luftwaffenhelfer eingezogen, kehrte er im Mai 1946 nach St. Blasien zurück und legte dort 1947 das Abitur ab. Als Priesteramtskandidat der Diözese Speyer kam Seibel im November 1947 vorübergehend an die Phil. Theol. Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt, weil sich das Visum für Rom dahinzog. Im Februar 1948 konnte er ins Germanikum umziehen. Bis 1955 studierte er in der Ewigen Stadt. Hans Küng trat ein Jahr nach ihm in die jesuitische Kaderschmiede ein. An der Päpstlichen Universität Gregoriana erwarb Seibel das Lizentiat in Philosophie (1950) und Theologie (1954), 1955 wurde er promoviert. Die Priesterweihe erhielt er am 10. Oktober 1953.

Noch vor den Ersten Gelübden kam Seibel zu den „Stimmen der Zeit“

Im September 1955 trat Seibel in Neuhausen auf den Fildern ins Noviziat der Jesuiten ein. Ab Dezember 1956 vertrat er einen erkrankten Mitbruder in einer Pfarrei in Nürnberg. Noch vor der Ablegung der Ersten Gelübde im September kam er im März 1957 zu den „Stimmen der Zeit“, der ältesten noch erhaltenen katholischen Kulturzeitschrift des deutschen Sprachraums. Hier verbrachte er praktisch sein gesamtes Ordensleben: von 1957 bis 1966 als Redakteur, dann sagenhafte 32 Jahre lang als Chefredakteur und Herausgeber.

1962 und 1963 war Seibel von Oktober bis Dezember für die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) in Rom und berichtete vom Zweiten Vatikanischen Konzil. 1964/65 absolvierte er in Frankreich das „Tertiat“, den letzten ordensinternen Ausbildungsabschnitt. Von September bis Dezember 1965 war er für die letzte Konzilssession wieder in Rom. Das Zweite Vatikanum und die Würzburger Synode (1971/75), für welche Seibel Tageskommentare für den BR schrieb, prägten ihn. Er verteidigte diese kirchengeschichtlichen „Sternstunden“ zeitlebens – und konnte heftig werden, wenn er deren Errungenschaften in Gefahr sah. Seibels Editorials wurden beachtet. Manche „Hierarchen“ zitterten, wenn ein neues Heft erschien. Die Ablösung des Langzeitchefredakteurs sehnten gewisse „vatikanische Stellen“ sehnlichst herbei.

Am ifp prägte er Generationen von Journalisten

1968 wurde Seibel von der Deutschen Bischofskonferenz mit der Gründung des Instituts zur Förderung publizistischen Nachwuchses e. V. (ifp) beauftragt, deren erster Leiter er bis 1991 blieb. Generationen von Journalisten gingen durch seine Schule, darunter Bettina Schausten (ZDF), Joachim Frank (DuMont), Wolfgang Küpper (BR), Raoul Löbbert (DIE ZEIT), Heribert Prantl (SZ) oder Johannes Schießl, der frühere Chefredakteur der Münchner Kirchenzeitung (MK). Für Hunderte von Absolventen wurde der journalistische Vollprofi Seibel zum Vorbild.

2004 wurde der seit 2006 alle zwei Jahre auszulobende „Pater-Wolfgang-Seibel-Preis“ für herausragende Arbeiten von Stipendiatinnen und Stipendiaten sowie Volontärinnen und Volontären ins Leben gerufen. Zum 50. Gründungsjahr „seines“ Instituts gab es in der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München eine Podiumsdiskussion mit Kardinal Reinhard Marx. Thomas Gottschalk, der 1974 beim ifp angeheuert hatte, interviewte dabei, lässig ans Podium gelehnt, seinen Lehrer Wolfgang Seibel keine fünf Minuten lang – für viele der Höhepunkt dieses Festaktes.

Ein Morgenmensch mit durchgetaktetem Tagesablauf

Vor fünfundzwanzig Jahren übergab Seibel die Leitung der Zeitschrift an seinen Wunschnachfolger Martin Maier SJ. Jahrelang stand er noch zur Verfügung, er las oder übersetzte Manuskripte, mischte sich aber nie von sich aus ein. Seit 2009 plagt ihn eine Makula-Degeneration. Sie schränkte seinen Aktionsradius zunehmend ein. Mittlerweile kann Seibel kaum mehr lesen. Er schuf sich Abhilfe mit Tausenden von Hörbüchern und CDs. Den nahezu militärisch durchgetakteten Tagesablauf hat der Morgenmensch beibehalten.

Für einige Zeit organisierte ich zwei Mal pro Jahr die Treffen zwischen den drei Germanikern Wetter, Gruber und Seibel, der mich als Begleiter oder, wie er scherzhaft sagte, als „Blindenhund“ mitnahm. Der Kardinal erfand für diese Begegnungen – meistens in einem Restaurant an der Oper – die Bezeichnung „Viererbande“. Die Themen gingen nie aus, so manche Klage über kirchliche Vorgänge oder Personalien auch nicht. Es ist stiller geworden um alle drei. Manchmal begleite ich ehemalige Stipendiaten zu Wolfgang Seibel, die ihm ihre Aufwartung machen. Er wird einmal nicht nur als „Journalistenlehrer und Konzilsreporter“ in Erinnerung bleiben. Manche suchen heute noch seinen Rat. Denn er hat etwas zu sagen.

P. Andreas R. Batlogg, Buchautor und Seelsorger an St. Michael in München. Der Beitrag erschien in der Münchner Kirchenzeitung Nr. 18/2023.

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